Heute geht es ins niederösterreichische WEINVIERTEL.
A zu S, könnte die Kurzversion von Anleitung zur Stadtflucht sein. Auch ein Motto, dem sich Jünger und -Innen aristotelischer Vorstellungen von Muße – mit scharfem ß wohlbemerkt – verschrieben haben. Es geht um Zeit für sich selbst, das was ist, am Ende der Proustschen Suche. Gemeint die Zeit, in der Einer so recht zu sich selbst und zum Leben kommen kann. Weniger philosophisch ausgedrückt, geht es ums Abhängen und Genießen in der Freizeit. Dafür gründeten acht Personen den Verein Stadtflucht Bergmühle. Ihr Refugium für Kochen und Muße im Grünen fanden sie am Mühlbach in Kronberg, nördlich von Wien. 20 Minuten trennen Hektik und Entspannung.
Seit drei Jahren trifft sich eine bunt zusammengewürfelte Schar Gleichgesinnter in dieser Idylle, gemeinsam verkochen und genießen sie Zutaten aus unmittelbarer Umgebung. Nicht irgendwas köchelt in den Töpfen, nein, qualitativ hochwertige und saisonale Ingredienzen vom Biobauer-, Fischer- und Jäger-Nachbarn. Unzählige sonntägliche Gastköchinnen assistierten den Chefs und beeinflussten so den Speiseplan. Und es kam an, in den Köpfen der Muße-Bewegten. Die kulinarischen Gründe, dem städtischen Alltag zu entfliehen, sind nun nachzulesen in der Anleitung zur Stadtflucht. Ein Kochbuch. Auch. das im Residenz Verlag erschienen ist.
Sehr viel Rosa, so der erste Eindruck. Vorsatz, Kapitelübergänge, Lesebändchen sind in diesem körperfarbenen Ton gehalten. Sogar der Hintergrund einiger Foodfotos ist in angehauchtem Rosa. Als Auftakt, quasi fotografisches Amuse Gueule, vermittelt eine 2-seitige Fotocolage die Ausgelassenheit und Fröhlichkeit der Protagonisten. Und blättert man weiter, zu den Rezepten, wird einem schlagartig bewusst, hier tut sich Paradiesisches auf. Eine Kräutersuppe, aus deren Schaum ein kleiner botanischer Garten von Fenchelgrün samt -dolde herauswächst. Das Carpaccio von der Chioggiarübe wird dominiert von leuchtend roten Ringen des venezianischen Gemüses und ist nicht nur ein Augenschmaus. Es folgen Saiblingslaibchen mit Spargel, Pochiertes Ei mit Spinat usw. Insgesamt sind es 41 wunderbare Rezepte. Besonders auffällig ist die Präsentation der breit gefächerten Kochideen. Diese kann abweichen bis zur völligen Entfremdung, etwa beim Bohnensalat mit Zitrone. Das Foodfoto zeigt hier einen Turm aus sich abwechselnden Zitronen- und Zucchinischeiben, gekrönt von ein paar bunten Bohnen mit einem angedeuteten Dach aus Zitronenschalenstreifen. Hübsch anzusehen und eine tolle Deko.
Überhaupt sind in diesem Kochbuch die vorgestellten Speisen kunstvoll angerichtet. Drei gekappte Türme von einem Grashalm umschlungen entpuppen sich als Erdäpfel-Mangold-Strudel mit Blick aufs Innenleben. Einige Abbildungen regen die Phantasie an. Der süße Kürbis-Aufstrich mit aufgestelltem Kürbisring verwandelt sich in eine Landschaft mit Sternentor. Selbst der Bohneneintopf mutiert zu einer farbenprächtigen Meeresschnecke. Und die Krautfleckerl Stadtflucht Bergmühle à la Tante Jolesch erblühen zu einem alpinen Landschaftsbild. Die Lust und Freude, die die Köchinnen und Fotografinnen beim Anrichten der Gerichte hatten, wird in den Foodbildern sichtbar. Allein sie sind schon kleine Kunstwerke. Das Kochbuch vermittelt aber nicht nur Rezepte, sondern auch Anleitungen. Poetische Miniaturen, im gewissen Sinne Wegbeschreibungen, die zur Muße führen oder auch nicht. Den Texten von Philipp Traun gegenübergestellt sind kluge und witzige Fotoarrangements von Luise Hardegg. Das Glück ein Hängebauchschwein ist so eine Verschränkung von Text und Bild. Oder in der Anleitung zu einer Einleitung heißt es: … Einatmen. Bemerken, dass der Körper eine Einheit ist … An Joseph Haydn denken, an Botticelli … und das dem Text gegenüberliegende Bild zeigt Venus, eine junge nackte Frau, einen Säugling an ihre Brust drückend im Mund eine Choggiarübe. Und im Text dann wieder weiter … An die Schönheit denken, an den Versuch zur Schönheit. Ausatmen und die Augen öffnen … Allemal ein erster Schritt zur Muße sind diese Anleitungen. Vollzogen wird sie mit dem Nachkochen. Ausprobiert habe ich die frühlingshafte Karottensuppe, die mit ihrem satten Gelbton einen schönen Sommerabend veredelte. Der Einkornrisotto mit Paradeisern und Melanzani schmeckte ausgezeichnet und wurde in meine Sammlung extravaganter Risottirezepte aufgenommen. Das Rezept ist abgelegt im Ordner. Neugierig war ich auf den Erdäpfel-Mangold-Strudel, der wie sich herausstellte nichts großartig Neues enthielt. Vielleicht könnte man die Verfeinerung mit Zitronenabrieb und Rapsöl als kulinarische Innovation akzeptieren. Aber die Präsentation, drei kurze Strudelabschnitte, stehend auf dem Teller angerichtet und mit einem breiten Bastfaden umwickelt, verführte meine Gäste zu einem Achtungsapplaus. Geschmeckt hat es ihnen auch. Eine feine Entdeckung ist Schwarzbrot mit Birne und Schafskäse. Einfach, schnell zubereitet und extrem gut. Noch besser schmeckt es mit selbst gebackenem Brot. Einige der Rezepte stehen bereits auf der Warteliste, der gegrillte Fasan etwa oder die Waldbeeren-Mohn-Torte.
Die Anleitung zur Stadtflucht, verstanden als Versuch, einen ausgewogenen Lebensstil zu verwirklichen, ist ein kunst- und lustvolles Kochbuch. Bei mir, dem Rezipienten, wurden zwei konträre Seiten anregt. Zuerst machte ich mir ein Wiener Krenschnitzel mit Erdäpfelsalat. Vorzüglich mundete das Schnitzel mit der Krenschicht zwischen Fleisch und Panade. Danach legte ich mich in die Hängematte, mit dem Buch, und las die Anleitung zum Weltfrieden. Eine kurze morgendliche Verbeugung vor dem Leben sollte reichen, heißt es da. Ich verbeuge mich vor der Anleitung zur Stadtflucht und halte inne.