Heute geht es um die jüdische Küche.
Eigentlich wollte Ruth Melcer nur ihre Familie mit einem besonderen kleinen, sehr persönlichen Buch überraschen. Der Zeitpunkt war günstig gewählt. Die Bar Mitzwah ihrer Enkel David und Patrick – zu diesem Festtag kommen die Verwandten aus nah und fern zusammen, um die religiöse Zugehörigkeit der beiden 13-Jährigen zu feiern. Und auf den Simches, den Festen, wie es im Jiddischen heißt, da trifft man sich, um zu lachen, zu tanzen, sich zu erinnern und zu essen. Auch Ruth erscheint zu diesem Fest, im Gepäck ihr Kochbuch. Eine Sammlung polnisch- jüdischer Rezepte, das Erbe ihrer Familie. Denn es gibt – und das trifft für viele jüdische Familien zu – kaum Fotos, keine Erinnerungsstücke, dafür aber Notizen und Rezepte von Verwandten, welche sie vor langer Zeit überlieferten. Viele dieser Menschen sind bereits gestorben. Ruths Kochbuch ist deswegen den Cukierman-Frauen gewidmet, ihrer Großmutter Liba, ihrer Mutter Hanna und den Tanten Reginka und Tamara sowie Jossi Melcer, Ruths Mann, der 2007 verstarb. Ruth, die in Polen geboren ist und eigentlich Ryta heißt, überlebte das KZ Auschwitz. Auch ihre Eltern, ein Bruder sowie einige nahe Verwandte hatten Glück und nur ihr jüngster Bruder Mirek starb 1943 bei einem der berüchtigten polnischen Kinderpogrome; ein Verlust, den ihre Familie nie wirklich verwand. Und so ist Ruths Kochbuch auch ein Erinnerungsbuch über Trauer und Leid. Im Titel könnte genauso Rachel, Magdalena, Sarah, Esther oder ein anderer weiblicher jüdischer Vorname stehen. D.h., Ruths Kochbuch kann als Synonym für die Vernichtung der Juden durch die Nazis und als Erinnerung an das Leben im Schtetl gesehen werden. Es handelt aber auch von Menschen, die den Holocaust überlebten. Melcer schreibt Geschichte auf eine höchst berührende Weise, ohne erhobenen Zeigefinger. Wer von seiner Vergangenheit abgeschnitten wird, bewahrt diese umso stärker in seiner Gefühlswelt. Ruth durchbricht die Isolation mit diesem Kochbuch übers Leben und mit persönlichen Geschichten sowie Anekdoten und vielen Rezepten. Eingebunden, als Co- Autorin, ist Ellen Presser, die Leiterin des Kulturzentrums der jüdischen Kultusgemeinde in München. Sie lässt minimal dosiert allerlei Wissenswertes über die jüdische Kultur und deren Gepflogenheiten einfließen. Hier erfährt man bspw. was Pessach, koscher und anderes im jüdischen Leben bedeutet und sie verknüpft das wunderbar mit den Gerichten. Der Tscholent (Seite 18) ist fix verankert im Schabbat; jener jüdische Ruhetag, der am Freitag 18 Minuten vor Sonnenuntergang beginnt und samstags nach Einbruch der Dunkelheit endet. Dieser traditionelle Eintopf, der über Nacht langsam gegart wird, ist wohl das charakteristischste Gericht der jüdischen Küche. Früher wurde dieser Eintopf beim Bäcker über Nacht in den Ofen gestellt. Und beim Öffnen des Topfes durchdrang der Duft die Holzhäuser des Schtetls. Der Tscholent besteht traditionell aus Fleisch, Kartoffel, Gerste und Bohnen und kann beliebig erweitert werden durch Fleischbällchen, faschierten Braten, Wurst und anderes. Heute erlebt er eine Renaissance. Das Arme-Leute-Essen aus Bohnen und Getreide wird von den Vegetariern wiederentdeckt. Melcers Tscholent mit viel Beinfleisch vom Rind und Kartoffeln ist üppig; Mengen wie für eine Großfamilie. Sollte etwas überbleiben, so kann er wie ein Gulasch über mehrere Tage hintereinander gegessen oder einfach eingefroren werden. Ein wunderbares Essen für all jene, die deftige Mahlzeiten mögen.
Natürlich darf in keinem jüdischen Kochbuch der Gefilte Fisch fehlen. Berühmt ist er und wohl das repräsentativste Gericht der koscheren Küche, allerdings mit dem Hang, zu einem Appetithappen der Delis zu verkümmern. Claudia Roden, die wohl beste Kennerin der jüdischen Kochkultur, erzählt gerne, dass sie immer wieder gefragt wird: Gibt es etwas anderes außer Gefilte Fisch in der jüdischen Küche? Die Antwort liegt im großen Unwissen über diese alte Kochtradition. Melcers Variante vom gefilten Fisch ist eine, wie sie litauische und russische Juden zubereiten, mit wenig Zucker. Während die Juden mit polnischen Vorfahren die süße Variante bevorzugen, d.h., auf einen 1,5 kg schweren Karpfen kommen bis zu 300 g Zucker. Da lob ich mir Ruth, die für ihren Carpio lediglich 2 Teelöffel Zucker verwendet. Ein beliebtes Gericht am Schabbat, zu dem Challa, ein Hefezopf, und Meerrettich gegessen wird. Challa habe ich für meine Tochter gebacken und ohne Gefilter Fisch aufgetischt. Auch gab es kein Rührei mit Zwiebeln dazu, wie es im Hause Melcer als Vorspeise gerne gegessen wird. Mit Butter bestrichen, schmeckte Challa wunderbar, wenn auch die Zopfform nicht ganz perfekt war. Aber das störte niemanden.
Zu den Rührei mit Zwiebeln gibt es auch eine kleine Geschichte. Als Baron Rothschild auf einer Osteuropa-Reise in Witebsk zum Frühstück diese Eierspeise verzehrte, staunte er über den Preis: „Zwanzig Rubel für zwei Eier! – Gibt‘s in dieser Gegend zu wenig Eier?“ – Darauf der Gastwirt: „Genug Eier, aber zu wenig Rothschilds.“ Dieser feine jüdische Humor taucht auch sonst immer wieder auf und gibt manchen Rezepten eine heitere Note.
Sehr heimelig wurde mir, als ich Das Gericht entdeckte. Ein typisches Resteverwertungsessen, das scheinbar weltweit überall gleich zubereitet wird. Gekochtes Fleisch, Zwiebeln und in Scheiben geschnittene gekochte Kartoffeln werden in der Pfanne gebraten und fertig ist das G‘röstl.
Ausprobiert habe ich auch die Milchige Kartoffel-Lauch-Suppe. Mit Butter und Sauerrahm abgerundet – einfach gut, zudem relativ schnell zubereitet.
An diesem verlängerten Wochenende sind zwei Enkelkinder im Hause. Sie sind heikel, also nicht leicht zu bekochen. Aber die Lachtigen Koteletten – keine Sorge, da werden keine Barthaare verbraten – diese Koteletten verschlangen sie, ohne mit den Wimpern zu zucken. Gibt es überhaupt Kinder, die Hamburger nicht mögen? Diese polnische Version der Hamburger-Koteletts finden Sie im Rezept-Ordner. Und noch etwas, die Lachtigen Koteletten schmecken nicht nur Kindern!
Die jüdischen Hamburger, das Gericht und ein, zwei Rezepte in Ruths Kochbuch sind bekannt – sie werfen die Frage auf: Gibt es das jüdische Essen? Und Fernand Braudel, der französische Historiker, würde darauf wohl antworten: Die Juden übernahmen und adaptierten, ohne jemals ihre Identität zu verlieren. Vielleicht muss man sich das bei jedem Bissen jüdischen Essens vergegenwärtigen.
Ausgezeichnet sind nicht nur die vorgestellten Gerichte. Stephan Schnöll hat mit viel grafischem Gespür und Witz ein originelles Kochbuch kreiert. Dieses Kochbuch ähnelt der Klezmermusik – es ist traurig und lustig in einem, mit höchst verführerischen Duftnoten. Und Ruth – ihrer sprühenden Lebens- und Kochfreude zolle ich höchste Bewunderung. Schlagen wir ihr Buch auf, es gibt noch viel zu entdecken.