Musa Dagdeviren, Türkei, das Kochbuch

Kulinarische Traditionen und Rezepte aus der Türkei

Aus dem Englischen übersetzt von Martina Walter, Manuela Schomann und Maria Hill
Phaidon by ZS Verlag, München, 2019, 512 Seiten, 41,20 Euro
ISBN 978-3-947426-09-6
Vorgekostet

Heute reisen wir in die TÜRKEI.

Wenn ich Türkei sage, antworten Sie mit Erdogan, Ausnahmezustand, Istanbul, Basar, Çay, Döner, Ayran usw. Ja, Sie haben recht: So präsentiert sich uns die Türkei mitunter im fernen Mitteleuropa. Aber zu diesen Eindrücken gehören auch Bilder von freundlichen und herzlichen Menschen, die in diesem riesigen Land leben. Das erfuhr ich als ich von Ayvalik, einem Küstenort vis à vis der griechischen Insel Lesbos die Küste entlang nach Istanbul radelte und dann weiter nordwestwärts nach Edirne. Kaum hielt ich an, wurde ich angesprochen und eingeladen auf einen Çay. Der gesüßte Schwarztee wird zu jedem Anlass und zu jeder Tageszeit getrunken. Oft durfte ich auch am Familientisch Platz nehmen mit der Aufforderung mitzuessen. So lernte ich die andere Türkei, fernab jeder Klischees, kennen. Und ich fühle mit dem zu mehrjähriger Haft verurteilten Journalisten Ahmet Altan, wenn er in seinen Texten aus dem Gefängnis klagt: „Ich werde nicht mehr die Frau küssen können, die ich liebe, nicht mehr meine Kinder in die Arme schließen, meine Freunde wiedersehen oder durch die Straßen laufen. Ich werde nie wieder Spiegeleier mit Knoblauchwurst essen … .“ Nun, das ist die politische Kehrseite eines an Geschichte und Lebensart reichen Landes. Die Türkei ist ein Schmelztiegel der Ethnien, dementsprechend mannigfach an Esskulturen. Einer meiner ersten Eindrücke war, dass das Ei die türkische Küche dominiert. Das stimmt so natürlich nicht, obwohl unzählige Gerichte ohne Ei in diesem Land nicht denkbar wären. Mein Favorit ist Rührei mit Gemüse. Ein einfaches Mahl, in welchem die wahrscheinlich zweitwichtigste Zutat im türkischen Essen, die Tomate, eine farbenfrohe Gastrolle spielt. 300 g kleingewürfelte milde Peperoni werden in Olivenöl angedünstet. Dann kommen ein halbes Kilo gewürfelte Tomaten dazu und wenn das Fruchtfleisch weich zu werden beginnt, werden fünf verquirlte Eier langsam dem Gemüse untergemischt. Abschmecken, Petersilie darüber gestreut – fertig! Menemen, so heißt diese Speise auf türkisch. Mit einem Teller Menemen sitze ich also am Tisch und neben mir ein aufgeschlagenes Buch. Türkei, das Kochbuch von Musa Dagdeviren. Der Einband in Truthahnrot, eine Farbe, die in der Türkei früher häufig zum Färben von Baumwolle verwendet wurde. Ich schlage das Register auf, suche nach dem Menemen-Rezept. Seite 116 lese ich und stelle fest, dass meine Art der Zubereitung von Rührei mit Gemüse nur geringfügig abweicht. Dagdevirens Menemen stammt übrigens aus der Region von Izmir. Dort gilt es als typisches Junggesellen- oder Studentenessen und wird als Hauptgericht bzw. Beilage gegessen. Den Tipp, zwei Teelöffel rote Paprikapaste einzurühren, werde ich mir merken. Langsam blättere ich durch das Buch und denke mir, hier schlummert ein kulinarischer Schatz. 550 Rezepte, ein Auszug türkischer Gastlichkeit, führen ein in die Alltagsküche eines Landes. Sieben Regionen umfasst die Türkei und jede einzelne besitzt ihre eigene kulinarische Identität. Während das Essen der Mittelmeerregion und am Schwarzen Meer von Fisch dominiert ist, sind bspw. in den ländlichen Gegenden rund um das Marmarameer die Ziege am Spieß, hausgemachte Nudeln, Marmeladen wie auch geröstete Maronen äußerst beliebt.

In vierzehn Kapiteln, die die türkischen Vorlieben erkennen lassen, führt uns der Autor in seine Heimatküche ein. Es beginnt mit Suppen, denen Salate & Vorspeisen folgen, die vom Gemüse, Eier & Hülsenfrüchte-Kapitel abgelöst werden und in weiterer Folge von gefüllten & gerollten Köstlichkeiten. Fleisch, Geflügel & Wild, Fisch & Meeresfrüchte, Brot & Backwaren, Süßspeisen sowie Getränke sind weitere altbewährte Kapitel, in die sich noch jene mit Innereien und Pilaw einfügen. Auch kommen renommierte Gastköche samt ihrer Spezialitäten zu Wort. So erfahren wir von Ali Elkahan, der ein Kebabhaus in Mardin betreibt, wie er scharfe Kebabs zubereitet. Und Senol Öztürk aus Izmir verrät uns, wie er den Wolfsbarsch in Bechamelsauce im Ofen backt.

Der letzte, sehr wichtige Abschnitt befasst sich mit den Vorräten. Hier werden Basisrezepte vorgestellt – ein Fundus gängiger und weniger bekannter Rezepturen. Starterkulturen mit Lindenblüten oder Asche oder Kichererbsen sind hier beschrieben, aber auch, wie trockener Hüttenkäse zubereitet wird oder Kaschk oder Joghurtbutter  oder diverse Brühen oder Extrakte aus Kornelkirschen, sauren Pflaumen oder Sumach und einiges mehr. Ein ausführliches Glossar, in welchem Begriffe und Zutaten kurz und prägnant beschrieben werden, findet sich vor dem abschließenden Register. Im Glossarteil fehlt mir die Beschreibung von Mastix, das in der orientalischen Küche gerne für Süßspeisen verwendet wird. In diesem Kochbuch wird der Auberginen-Reis-Pilaw mit einer Mastix-Zuckermischung verfeinert. Ein tolles Rezept gerade zu Herbstbeginn, wenn man nicht mehr weiß, wohin mit den ganzen Eierfrüchtchen aus dem Garten. Im ausführlichen Inhaltsverzeichnis fehlen mir die türkischen Rezepttitel, wiewohl sie bei den Rezepten angeführt sind. Das sind aber Marginalien angesichts der Fülle an Rezepten, die uns die kulinarische Türkei in ihrer ganzen Vielfalt präsentieren.

Die Spinatsuppe war nicht nur köstlich, sie inspirierte mich auch, sie mit Mangold zu versuchen. Und siehe da, ein neue Mangoldsuppe ward geboren, die von meinen Testessern genüsslich geschlürft wurde. Bei der Brennnesselsuppe gefällt mir die Verfeinerung mit Blauschimmelkäse. Suppen sind nicht nur ein typisches Frühstücksgericht, sondern auch das soziale Gedächtnis dieser Nation. So werden Suppen nicht nur zur Stärkung der Kranken serviert, sondern auch bei Totenwachen, Hochzeiten und Festen an Arme verteilt. Da wird die Hochzeitssuppe , eine einfache Fleischsuppe aus Lammnacken, Mehlschwitze und abgetropfter Joghurt traditionell nach dem Freitagsgebet an Hilfsbedürftige ausgegeben. Derartige informative sozialhistorische, ethnographische aber auch küchentechnische Beschreibungen und Hinweise finden sich bei fast allen Rezepten im Vorspann. Auch die Herkunft, Zubereitungs- und Garzeit. Wer lieber Salat als Vorspeise isst, findet im nächsten Kapitel alles, was sein Herz begehrt. Vom Gartensalat über den Hirnsalat bis zum Himmelskäse  reicht die Palette. Und wem das zu wenig ist, der kann auf diverse Dips, Pasten und Eingelegtes ausweichen. Hier erfährt man auch, dass Tsatsiki  nicht nur in Griechenland gegessen wird. Genau genommen ist Tsatsiki die Verballhornung des türkischen Cacik, wie auch Doener im Grunde genommen das selbe ist wie Giros. Ausprobieren musste ich die kurdischen Bulgurbratlinge oder Kürt Köftesi, wie sie in der Türkei heißen, die auch kalt gut schmecken. Das kann man auch von den Zucchinipuffern behaupten, die, relativ schnell zubereitet, den größten Zucchiniberg schrumpfen lassen.

Mein Lieblingskapitel widmet sich einer besonderen Reis- bzw. Bulgurzubereitung, die unter dem Begriff Pilaw zusammengefasst wird. In der Kapiteleinführung beschreibt der Autor, was es mit der Pilawtradition und -kultur auf sich hat und welche Techniken angewendet bzw. Zutaten verwendet werden. Der Bulgur-Pilaw mit Tomaten entpuppte sich als Highlight. Die Tomate verflüchtigt sich fast im Bulgur und wäre das Gericht nicht intensiv rot, es wäre eine Quizfrage: Welches Gemüse steckt in diesem Pilaw? Diese Feldfrucht lernte ich erst in der Türkei so richtig zu schätzen. Nicht nur, dass ich an unendlich vielen Tomatenfeldern vorbei radelte – mit ihrem feinen Aroma und dem hohen Wasseranteil waren sie für mich ideale Snacks für zwischendurch. Und fast jedes Gericht, das mir auf dieser Reise gut geschmeckt hat, enthielt eine Menge süß schmeckender gehackter Tomaten als Aroma- und Flüssigkeitslieferant. Deshalb machte ich vom Bulgur-Pilaw mit Tomaten gleich die doppelte Menge und verwertete den übrig geblieben Rest als Fülle für einen Zucchiniauflauf. Mein Freund Gerd wollte sofort das Rezept. Nachzutragen wäre noch, dass praktisch jedes türkische Hauptgericht mit einem Pilaw serviert wird. Manche der oft mit Fleisch, Leber, Huhn und Bohnen angereicherten Pilaws bilden eigenständige Gerichte. Einige Rezepte, wie bspw. Lamm-Aprikosen-Reis oder Bulgur-Pilaw mit Kastanien belegen das.

Vergeblich suchte ich nach Manti wie auch nach dem deutschen Pendant, Teigtaschen, um dann irgendwann festzustellen, dass diese Speisen unter Börek, Ravioli und Tortellini firmieren. Kaum war mir das bewusst, konnte ich mich nur schwer entscheiden ob der Fülle an Rezepturen. Mit Olivenbörek und Gözleme, das ist ein gefülltes Fladenbrot, aber hatte ich kulinarische Volltreffer. Und die Ziegenkäse-Ravioli klingen auch sehr vielversprechend.

Das bekannteste Dessert in der Türkei und im gesamten östlichen Mittelmeerraum ist Helva. Viele kaufen sich ein viel zu süßes Fertigprodukt, weil sie nicht wissen, wie einfach das selbst herzustellen ist. Haselnüsse werden in Öl angeröstet, dann kommt die Hauptzutat Gries dazu. Sobald die entstehende Masse schön fest ist, gießt man angezuckerte Milch mit Zitronenzesten an. Wer das Tahin-Helva, also mit Sesampaste, ausprobiert, wird allein schon vom Aroma begeistert sein, das sich in der unmittelbaren Umgebung ausbreitet. Klassisch ist das krümelige Grieshelva, das mit Orangensaft angerührt wird. Was für eine Verführung!

Türkei, das Kochbuch von Musa Dagdeviren ist viel mehr als eine Einführung in die türkische Esskultur. Es ist Nachschlagewerk und Inspiration. Stimmungsvolle Fotos von Menschen und Landschaften führen in die Kapitel ein. Die Rezepte werden mit ganzseitigen in ruhigen, dezenten Tönen gehaltenen Abbildungen illustriert. Dagdeviren beweist eindrucksvoll, dass die türkische Küche mehr bereithält als Doener Kebab und türkische Pizza. Gut recherchiert und geschrieben, ist dieses Kochbuch eine Fundgrube für alle, die herzhaftes, gesundes türkisches Essen lieben. Und es ist reich an Überraschungen.