Heute reisen wir nach ESTLAND.
In ein Land mit einer wechselvollen Geschichte, geprägt von vielen Fremdherrschaften. Den Dänen folgten der Deutsche Orden, dann kamen die Polen, die von den Schweden und die wiederum vom russischen Zaren verdrängt wurden. Die russische Revolution brachte zwei Jahrzehnte Unabhängigkeit bis 1940, dann wurde das Land von der Sowjetunion okkupiert, mit einem 3jährigen Zwischenspiel der Besatzung durch Hitlertruppen. 1991 erlangte das rückständige Estland erneut seine Unabhängigkeit und nutzte die Chance, mit Hilfe ausländischer Investoren den sogenannten Tigersprung, um ein moderner Staat zu werden. Digitalisierung war das Zauberwort, alle estnischen BürgerInnen haben einen Anspruch auf Internetzugang, die Verwaltung und das Gesundheitswesen wurden gläsern, d.h., der elektronische Zugriff auf fast alle staatlichen Dienstleistungen ist möglich. Heute haben die Esten nur vor einem Angst, dem Großmachtstreben Russlands. Denn ein Viertel der Bevölkerung ist russischsprachig, das wiederum wenig Sehnsucht nach Russland hat, vielfach gut assimiliert ist. Viele bezeichnen sich als estnische Patrioten. Dieser kurze historische Abriss zeigt sehr schön,
dass Estland einer Vielzahl unterschiedlicher Kultureinflüsse ausgesetzt war, deren Spuren heute noch in der estnischen Lebensart sichtbar sind. Aber der eigentliche Kulturwandel trat 2004 mit Estlands EU-Beitritt ein. Mit der Öffnung des Landes kamen Gäste und Touristen und damit neue Geschmäcker und kulinarische Trends. Junge Leute zog es in den Norden, fasziniert von der Schönheit der südöstlichen Ostsee und der Aufbruchstimmung im Lande, um dort ihre Lebensträume zu verwirklichen. Auch Matthias Diether ging von Berlin weg nach Estland. Dort konnte er, nach dem vergeblichen Kampf um einen zweiten Michelin Stern, seinem Leben und seiner Arbeit einen „neuen Sinn“ geben. Im „Alexander Chef`s Table“ im mittelalterlichen Zentrum von Tallinn fand er wieder Spaß am Kochen. Matthias war der erste Sternekoch in Estland. Das Konzept ist gutes Essen mit gutem Wein anzubieten, in einer lockeren und zwanglosen Umgebung. Der Küchen-Chef serviert auch, unterhält die Gäste und kocht einfach, als wenn Freunde am Tisch wären. Hier ist er also wieder, der Einfluß von außen auf die Gastroszene Estlands. Viel stärker noch wird heute das Essverhalten durch das Internet beeinflusst. Schlagartig sichtbar wurde das, als die estnische Lebensmittelakademie Toiduakadeemia anlässlich Estlands Hundertjahrfeier 2018 zu einem Wettbewerb nach „Estlands neuem Nationalgericht“ aufrief. Hunderte Rezepte von unzähligen Köchinnen und Köchen der heimischen Food-Blogger-Szene ‚beamten‘ sich in die Redaktion der Akademie. Eine Jury wählte die 40 besten Rezepte aus. Diese wurden im Laufe von acht Veranstaltungen verkostet, d.h., nachgekocht und geprüft. Die Besten, die nach diesem harten Auswahlverfahren übrig blieben, sind nun im Kochbuch Estnische Küche des Stocker Verlags publiziert.
In fünf Kapiteln werden traditionelle und moderne Gerichte vorgestellt. Interessanterweise überwiegt die Moderne. Die Schweinshaxe mit Sauerkraut, nicht nur für Deutschland, sondern auch für Estland ein typisches Gericht, kommt gar nicht vor. Sehr wohl aber ein gebratener Schweinebauch mit Gerstenrisotto, wobei der Bauch das Alte und der Risotto das Neue verkörpert.
Johann Petri, der im 18. Jhd. als Hauslehrer in Estland tätig war, beschrieb das Essen so: „Im Sommer Milch und Butter, die Milch meistens als Sauermilch oder Quark (österr. Topfen). Im Winter Sauerkraut, Rüben, Mohrrüben, Grützensuppe und Suppen, in denen Klößchen aus Blut schwimmen, Salzheringe und andere Fische, insbesondere gesalzene Strömlinge. Von Linsenfrüchten isst man Erbsen, Bohnen, Linsen. Das Hauptgericht ist aber das Roggenbrot, sättigend, stärkend, nahrhaft und gesund. Ein solches Brot und dazu Milch oder Bier bilden oft die ganze Mahlzeit. Sie mögen gesalzenen oder getrockneten Fisch, der auf Feuer gebraten wird, sie mögen aber auch frischen Fisch. Fischvorräte reichen für mehrere Monate. Ergänzt werden sie durch Wild, Waldvögel, Beeren und Pilze.“ Diese Beschreibung lässt einige Rückschlüsse zu. Die estnische Küche ist geprägt von den Jahreszeiten. Fleisch gab es vorwiegend im Herbst und Winter. Nach wie vor ist Brot das wichtigste Nahrungsmittel in der estnischen Küche und daher Bestandteil vieler traditioneller Rezepte. ‚Gesegnete Mahlzeit!‘ heißt auf estnisch ‚Jätku leivale!‘ und bedeutet wörtlich übersetzt ‚Das Brot soll reichen!‘. In der neuen estnischen Küche kommt Brot aber eher beiläufig vor, bspw. als farbenfrohes Sprottensandwich oder Roggenbrotsnacks mit Blutwurst und Rhabarberchutney zum Horsdèuvres, als Roggenbrotsuppe mit geräuchertem baltischen Hering oder als Zureichung zum würzigen Sprottensalat.
Sehr angetan waren ich und meine Gäste von einer Vorspeise, die populär gewordene traditionelle Zutaten verknüpft. Pilze waren schon länger Teil der ländlichen Küche, der Kürbis dagegen dürfte über die sowjetische Schiene nach Estland gekommen sein. Die Kürbisroulade mit Räucherschinken und Pfifferlingen jedenfalls schmeckt ausgezeichnet und kann m. E. auch als Hauptspeise aufgetischt werden. Dezent mit Dill gewürzt, also sparsam, was typisch ist für die estnische Küche. Deftig bleibt also in der neuzeitlichen Küche meist außen vor oder angedeutet wie bei den gebackenen Steckrübe, wo der Deckel mit einer Scheibe Bratspeck beschwert wird. Das Rezept ähnelt den gefüllten Paprikas, nur mit Rüben.
Bei den Desserts fällt die Entscheidung schwer. Hier schlägt das Herz der Leckermäuler höher. Auch kommt eine Zutat zum Einsatz, die es nur in diesen geographischen Breiten des Baltikums und Finnlands gibt: Kama, eine Mehlmischung aus gerösteten Weizen-, Roggen-, Gersten- und Haferkörnern sowie Erbsen und Bohnen. Die Kama-Mehlmischung kann man selbst zubereiten oder übers Internet beziehen. Sie ist jedoch wichtiger Bestandteil vieler Nachspeisen.
In den Roggencupcakes mit Kama-Rumlikör-Creme genauso wie in dem Mousse au Kama, das mit Haselnussbaiser und marinierten Erdbeeren zu einem kleinen Kronjuwel aufblüht.
Ich habe mir den Apfel-Quark-Kuchen, gegönnt der nicht nur super ausschaut, sondern sogar noch besser schmeckt. Das können mir auch zwei Personen bezeugen, mehr durften an dieser kleinen Kuchenorgie nicht teilnehmen.
Die Estnische Küche aus dem Grazer Stocker Verlag mit über 40 Rezepten lädt zu einer Entdeckungsreise in den so wenig bekannten Norden ein. Dabei werden traditionelle aber vor allem moderne Gerichte vorgestellt. Außergewöhnlich vielfältig und faszinierend sind die Geschmackserlebnisse für alle, die sich auf diese Expedition einlassen. Manches schmeckt vertraut und bekannt, weil mancher Koch, manche Köchin Anleihen aus anderen Ländern genommen hat. Eindrucksvolle Fotos von Tuuli Mathisen und die hervorragende Übersetzung von Nina Tamara Schön machen dieses Kochbuch zu einer anregenden Lektüre, die nur unterbrochen wird vom Gang in die Küche. Jetzt, weil ich mir Eier-Frikadellen machen muss.