Heute reisen wir um die WELT.
Mit im Gepäck viel Literatur und Kochrezepte. Denn wir lesen und ‚fressen’ uns vor allem durch westlich geprägtes Kulturgut. Also, lassen Sie uns aufbrechen zu einer Lese-Ess- oder Ess-Lese-Reise, ganz wie es Ihnen beliebt. Unsere Reiseführerin ist Nicole Giger. Ihres Zeichens Schweizerin, die es umtreibt in der Welt. Von allem Essbaren, das ihre Wege kreuzt, muss sie kosten. Und immer sind Bücher – überlebenswichtig wie die Flasche Wasser – in ihrem Rucksack. Giger hat Germanistik studiert und vereint so drei elementare Leidenschaften in ihrem Brotberuf: Reisen. Essen. Lesen. Ein erfülltes Dasein, denken wir sofort, und sind es ihr ein wenig neidisch. Aber nein, wir machen das Beste daraus und lassen uns von ihr bei ihren Lese- und Kochabenteuern durch ihr Kochbuch verführen. Mit Anleihen aus der Weltliteratur kochen wir auch manche ihrer Rezept nach. Und von allem profitiert unsere Seele, denn es hält Körper und Geist zusammen, macht glücklich.
An erster Stelle steht für Giger Hörnli und Gehacktes und dass der selbstgemachte Rüblikuchen so gut ist wie Knutschen, lässt sie uns auch wissen im Vorwort von Ferrante, Frisch & Fenchelkraut, das im AT Verlag erschienen ist. Allerdings, das Rezept des Karottenkuchens verrät sie uns nicht. Und das ist vielleicht ganz gut so, denn wer will sich schon entscheiden müssen: Knutschen oder Kuchen?
Nicole Giger interessiert besonders die Story, die hinter dem Rezept vom guten Essen steht. Ursprung, Herkunft und Traditionen hiesiger wie fremder Speisen faszinieren sie, verraten sie doch einiges über die Esskultur. Vor allem aber sind es die Menschen und ihre authentische Küche, die Nicole berühren, ja mitreißen. Darum hat sie dieses Kochbuch geschrieben, das mehr als eine Sammlung von Geschichten, Ideen, Anekdoten und Erinnerungen ist. Es sind Anregungen zum Kochen, zum Reisen und Nach- bzw. Weiterlesen literarischer Werke bedeutender SchriftstellerInnen.
Den Auftakt macht Hermann Hesse. Durch das vorsichtige Öffnen einer Gewürzdose wird der deutsche Dichter in Nicoles Gedankenwelt katapultiert. Ein Wohlgeruch zieht sie mit sich fort in die lärmigen, hektischen und bunten Straßen Varanasis, der Geburtsstadt Ravi Shankars. Nicht aber die Musik gibt hier den Ton an, sondern die Chai Wallahs, die Teekocher auf Indiens Straßen, die von früh bis spät würzig süßen Tee brauen, der so süffig ist, dass die unerträgliche Hitze und der beißende Gestank nach Urin vergessen sind. Ganz leise weht der Duft aus den Garküchen und Restaurants durch die Straßen, schwebt das Aroma von Kreuzkümmel und Koriander über den Gewürzständen, vermischt sich mit den betörenden Gerüchen von Dahl Makhani, einem Linsen-Curry, mit Tandoori Chicken, mit Paneer gefülltem Fladenbrot und und … Und wer einmal nicht nur mit den Augen, etwa als Luxusreisender auf einem Touristendampfer, sondern mit der Seele in Indien gewesen ist, sinniert Hesse in Sehnsucht nach Indien, dem bleibt es ein Heimwehland, an welches jedes leiseste Zeichen ihn mahnend erinnert. Hesse hätte Nicoles leisestes Zeichen, den Duft von Cumin und echtem Koriander verstanden. Beide Gewürze machen zusammen mit Zimt, Garam Masala und Naturjoghurt das Masala Chicken zum unvergesslichen Essvergnügen. Und wir beginnen zu ahnen, nachdem wir Masala Chicken, Süßkartoffeln und Korianderpesto nachgekocht und restlos verputzt haben, wie herrlich Indien sein kann.
Nach Indien ist unser nächstes Reiseziel Italien. Wir bewegen uns auf den kulinarischen Spuren Gogols. Dem ist nicht nur die Nase, dem wichtigsten menschlichen Geschmacksorgan in der gleichnamigen Groteske abhanden gekommen, er hat auch sein Herz verloren an Italien und sich regelrecht in die lokale Küche verguckt. Besonders für Makkaroni hegte Gogol eine ausgeprägte Schwäche. Nach seiner Rückkehr aus Rom setzte er seinen Freunden und Bewunderern regelmäßig Makkaroni vor, mit viel Butter, Parmesan und reichlich Pfeffer. Ich selbst bin ein großer Fan der Hirtenmakkaroni nach Südtiroler Art. Aber sie haben Konkurrenz bekommen. Die Makkaroni mit geröstetem Blumenkohl, Pesto und Mascarpone begeisterte nicht nur mich, sondern auch meine Freunde, die einmal im Jahr zum Makkaroniessen kommen. Ein wunderbares Gericht, in welchem sich der Blumenkohl mit seinen Röstaromen von einer ganz anderen Seite zeigt als landläufig gewohnt. Diese Makkaroni werden wohl noch öfter bei uns auf dem Tisch stehen.
Nicole Giger serviert 50 Rezepte, die in der Literatur und im Leben von ebenso vielen Autorinnen und Autoren eine Rolle spielen. Vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum, recht viele aus Großbritannien und den USA, wenige aus dem Orient, kaum aus Asien und niemand aus Südamerika. Warum keine Latinos dabei sind – auch da gibt es Weltliteraten, in deren Texten und Leben das Essen eine zentrale Rolle spielt – darüber schweigt die Autorin. Nicht verschwiegen wird, dass Kartoffelgerichte das Liebesleben schwer beeinflussen können. Ich habe Freunde, die beginnen mit Pasta, andere beginnen mit Reis, aber immer, wenn ich mich verliebe, beginne ich mit Kartoffeln. Manchmal Fleisch mit Kartoffeln, manchmal Fisch mit Kartoffeln, aber immer mit Kartoffeln. Ich habe beim Verlieben viele Fehler gemacht und die meisten bereut, aber nie die Kartoffeln, die dazugehörten. Ein starke Ansage. Nora Ephron, die die Drehbücher zu Filmklassikern wie When Harry met Sally, Sleepless in Seattle oder Julie & Julia schrieb, sollte es wissen. Ob Kartoffel-Zucchini-Latkes mit Labneh und Za’atar zu Noras Kartoffelvorlieben gehörte, ist nicht wichtig. Aber dieses Gericht, das im New Yorker Katz’s serviert wird – wo Sally ihrem Harry lautstark einen Orgasmus vorspielt – soll manch dort beginnende Romanze entscheidend beeinflusst haben. Ich weiß nicht, wie viele erste Dates Abend für Abend im Katz’s über die Bühne gehen, ich weiß aber, dass ich dort Latkes essen sollte. Dieser Meinung Gigers ist nichts hinzuzufügen, außer, dass wir nicht unbedingt nach New York müssen, denn das Rezept liegt hier vor. Ein anderer großer Kartoffelfreund war Joachim Ringelnatz, der sich mit Abschiedsworten an Pellka dieser einen Ehrenplatz im Tempel der Poesie gesichert hat. Smashed Potatoes mit zweierlei Toppings hätte Ringelnatz sicher auch gemundet. Sind doch die Toppings mit Brokkoli-Avocado-Pesto, mit Ricotta und Randenpesto mit Sauerrahm zwar einfach aber raffiniert und besonders gut. Es empfiehlt sich, bei einem Pellkartoffelessen unbedingt Ringelnatz‘ Gedicht zur allgemeinen Erheiterung vorzutragen:
Jetzt schlägt deine schlimmste Stunde, Du Ungleichrunde,
Du Ausgekochte, Du Zeitgeschälte, Du Vielgequälte,
Du Gipfel meines Entzückens
…
Es ist herrlich. Sich durch Gigers Lese-Kochbuch zu schmökern, ihren Gedanken und Inspirationen zu folgen, die sich am Geist und den Gourmetfreuden großer LiteratInnen orientieren. Einige Autoren und ihre Werke kennt man, viele Details sind neu, so ist es mir jedenfalls ergangen. Bekannt war mir, dass sich der Philosoph Nietzsche im Piemont länger aufhielt und die lokale Küche liebte. Nicht wusste ich, dass er ein Risotto-Kenner war und diesen selbst zubereiten konnte. Das beigefügte Risottorezept ist eine kleine Überraschung, da es mit Kopfsalat und Taleggio verfeinert wird. Ich verwendete bisher immer Hartkäse. Einen Weichkäse dem Risotto unterzujubeln ist eine neue Erfahrung. Der Taleggio wird seit der Antike im Piemont hergestellt. Sein süßlicher Geschmack gibt dem Risotto mit Kopfsalat, Prosecco und Pistazien eine eigene aromatische Note.
Goethe und Dumas mögen wohl die ältesten vorgestellten Weltliteraten sein. Ersterer liebte Quittengelee und -brot, bekam das päckchenweise von seiner Mutter nach Weimar geschickt. Der Franzose dagegen liebte Melonen, verehrte der Bibliothek von Cavaillon einige seiner Werke und bekam im Gegenzug eine ‚Rente’ von 12 Melonen pro Jahr, bis zu seinem Lebensende. Dem deutschen Dichterfürsten ist ein modernes Früchte-Streusel-Kuchenrezept beigestellt. Um die herbe Note des Quitten-Pekan-Crumble etwas zu dämpfen, kann der Kuchen mit Eis oder Schlagobers oder einem griechischen Joghurt serviert werden. Dass die Autorin für den Erfinder der Drei Musketiere einen Melonensalat mit Halloumi, Zitrone und Basilikum kreierte, hängt mit einem Nonnen-Kloster zusammen. Nun, die Geschichte ist zu lang, um sie nachzuerzählen, aber die alten Haudegen d’Artagnon, Athos, Porthos und Aramis hätten mit größtem Vergnügen Nicoles Klosterabenteuer gelauscht und dabei den einfachen aber gehaltvollen Melonensalat verschlungen, stelle ich mir vor.
Viele der in diesem Lese-Kochbuch versammelten AutorInnen sind dem 18. und 19. Jahrhundert zuzuordnen. Zusammen mit ihren lebenden ZeitgenossInnen wie Leon, Franzen, Ferrante, Kracht, Rushdie, Schami usw., bilden sie im gewissen Sinn auch einen historischen Querschnitt von Literatur und Esskultur. Aber wo hatten und haben die Dichter und Denker ihre Wohn- und Arbeitszimmer? Eine Frage, die man stellen muss. Für Giger und einige ihrer AutorInnen liegt die Antwort in Wien. Im Café, wie das Hawelka, wo Heimito von Doderer, Elias Canetti und andere Literaten nicht nur ein und aus gingen, sondern viel Zeit bei einem Melange oder Fiaker saßen und schrieben. Für Alfred Polgar ist das kein Geheimnis und er meint: Das Kaffeehaus ist ein Ort für Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen. Oder einen Topfenkuchen.
Auch Max Frisch liebte Kaffeehäuser, verkehrte viele Jahre im Grand Café Odeon in Zürich. In seinem Roman Homo Faber sitzt der Protagonist Walter Faber als einziger Gast in einem Lokal in Athen und wartet auf seinen Fisch. Er ist den Kellnern ausgeliefert, die ihn nicht ernst nehmen. Und der Fisch, als er endlich kommt, ist zwar ausgezeichnet, schmeckt ihm aber nicht. Für Giger ein willkommener Anlass, sich mit der Frage von guten Lokalen auseinanderzusetzen. Sie lässt ihre Erfahrungen Revue passieren mit der Schlussfolgerung: man soll sich nie von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Jedenfalls lässt mir die Pita mit Zitronen-Dorsch, Oliven und Majoran bereits das Wasser im Munde zusammenlaufen, wenn ich nur das Foto betrachte.
Spätestens jetzt sollte man wissen, wie Gigers Kochbuch durch die Weltliteratur aufgebaut ist. Jedes Kapitel widmet sich einer Schriftstellerin, einem Schriftsteller manchmal auch zweien. Und allen sind ein bzw. mehrere Rezepte zugeordnet. Dabei fällt auf, dass sie mit ihren Rezepten eine sehr große Bandbreite bedient, sowohl geographisch als auch an verwendeten Zutaten. Die Gerichte erfüllen Sehnsüchte nach bodenständig bäuerlicher mitteleuropäischer Küche bis zu exotischen Kombinationen.
Das Urner Apfelbrot ist saftig und vollbepackt mit Nüssen und Rosinen ein Kraftspender – ideal für lange Wanderungen und anderen Ausdauersport. Scones mit Erdbeeren verdanken wir Jane Austen und den Kaya-Toast Christian Kracht. Zwischen den Toastscheiben kommt gestockte Eimasse, nicht unähnlich einem Zwischending aus Chadeau und Sauce hollandaise, d.h., ohne Wein, Butter und Essig, aber mit viel Kokosmilch. Ein Toast der etwas anderen Art, jedoch ein Hit für alle Sweettooths. Mark Twain Fans werden gefüllte Süßkartoffeln im Südstaaten Style offeriert und für Günter Grass und seine Jünger sind Linsen das Nonplusultra, verheißt der Linsensalat mit ofengerösteten Baharat-Karotten doch ein feines Glücksgefühl. Diese Inszenierungen halten einige Überraschungen parat, bspw. die Brennnessel-Blumenkohl-Suppe mit pikantem Granola und frischen Blüten im Franz Hohler Kapitel. Dieser äußerte sich dazu höchstpersönlich wie folgt: … ich kann Ihnen eine Suppe garantieren, bei der Ihre Gäste Fragen stellen werden. Sollten sie allerdings bloß sagen, eine interessante Suppe, dann ist sie Ihnen nicht gelungen …
Ferrante, Frisch & Fenchelkraut von Nicole Giger ist kurzweiliger Lesestoff mit Nährwert, d.h., lebendig erzählte – manchmal sehr persönliche – Geschichten mit kulinarischen Impulsen. Giger geht sehr spielerisch mit Sprache um, so heißt eine Kapitelüberschrift Mags Frisch und Fisch und meint … nun, das ist wohl eh klar. Giger ist aufgeschlossen gegenüber Bekanntem und Unbekanntem gleichermaßen, ihre Rezepte sind geographisch ausschweifend, einfach und raffiniert und immer Genuss pur. Zudem hervorragend fotografiert. Ein Lese-Kochbuch, das neugierig macht, uns eintauchen lässt in die Welt der Literatur und in Weltküchen fast ohne Fleisch. Wer das mag, könnte sich darin verlieren oder wie mir öfter geschehen, mitten im Lesen eines Rezeptes aufstehen und mit aufgeschlagenem Buch wie ferngesteuert in die Küche gehen …