Heute reisen wir nach VIETNAM.
Mit Vietnam verknüpfen viele von uns zuallererst den Vietnamkrieg, der von 1964 bis 1973 andauerte. Bilder des Schreckens entstehen vor unserem inneren Auge: fliehende, von Napalbomben entstellte Menschen, vernichtete Reisfelder, entlaubte Wälder. Das Land ein Spielball der Weltmächte. Vor den Amerikanern versuchten Japaner im 2. Weltkrieg und davor und danach die Franzosen, das Land zu unterjochen. Von den Kolonialisierungs-Versuchen blieb nicht viel übrig. Allerdings konnte man in Hanoi viele Jahre danach Würstchen bekommen, völlig untypisch für die asiatische Esskultur. Die haben die Franzosen mitgebracht. Ansonsten wurde Vietnam aus kulinarischer Sicht von außen kaum beeinflusst, auch nicht von seinen Nachbarn. Damit kommen wir schon zum Kern der Sache: es geht um vietnamesisches Essen.
Thuy Diem Pham ist Vietnamesin. Sie wird 1981 in ein kleines Dorf im Mekongdelta hinein geboren. Den Krieg hat sie nicht erlebt, aber die Schäden die er angerichtet hat, sind noch sichtbar. Nahe der Küste zum Südchinesischen Meer wächst sie in einem von Frauen geführten Haushalt auf. Die Armut zwingt den Vater zum Auswandern. Thuy verlebt ihre Kindheit mit Mutter und Schwester bei den Großeltern. Hinter der Küche im Garten des großelterlichen Hofes tummeln sich die Hühner und andere Nutztiere. Dort sind auch jede Menge Obstbäume, die viele Früchte tragen: Kokosnüsse, Mangos, Bananen, Guaven, vietnamesische Kirschen, Zimtäpfel und Wasseräpfel. Zwischendrin wuchern Zitronengras und Thai-Basilikum, beide sind wesentliche Essenzen vietnamesischen Essens. Die Großmutter wie auch der Großvater sind für Thuy wichtig. Sie beeinflussen ihre Entwicklung, prägen ihre Persönlichkeit. Das alles erfahren wir aus der Einleitung von Simply Pho, einem Kochbuch, das uns die echte vietnamesische Küche verspricht.
Thuy erzählt einfühlsam von ihren Kindheitserinnerungen, begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, die uns Einblick gewährt in das von Armut geprägte Landleben Vietnams der 1980er Jahre. Sicht- und besser vorstellbar wird es durch eingestreute alte Schwarzweißfotos. Darüber hinaus werden zwei Schrifttypen verwendet, die die Rezepte und das Erzählerische wie Kapiteleinleitungen und Vorspann effektvoll voneinander trennen.
So gesehen erlangt das beachtenswerte Layout eine eigene Bedeutung. Zudem sind die Foodfotos und eingestreute Stillleben mit viel Blau-, Grün- und Rottönen von zeitloser Schönheit. David Loftus versteht es, das Besondere Vietnams hervorzuheben, und befriedigt damit unsere Sehnsüchte. Natürlich immer mit essbaren Sujets. Am besten gefällt mir die Doppelseite 110/111: Auf einem Sims mit abblätternder blauer Farbe liegt ein schäbiger alter Koffer. Dahinter ein Blumenarrangement. Neben dem Koffer vergilbte Bücher und auf dem Kofferdeckel ein Kupferkännchen-Set und zwei vietnamesische Sandwiches. Blättern wir weiter, können wir das Rezept nachlesen. Die Mahlzeit zwischen zwei Brotscheiben irritiert im ersten Moment, aber die Vietnamesen servieren viele ihrer Hauptgerichte in Sandwichart. Eingewickelt in Salat- oder Reisblättern oder in einem Baguettebrötchen, wie es hier der Fall ist. Darin drückt sich auch der unvergleichliche Kochstil Vietnams aus, der den Überfluss an Blattgemüsen und Kräutern nutzt. In diesem Fall etwas modernisiert und auch europäischer, mit Mayonnaise, Hähnchenpastete und Röstschalotten, aber nicht ohne die klassischen Zutaten wie Gurkenscheiben, Karotten und eine Sauce. Bank Mi nennt sich das vietnamesische Sandwich, das lustig aussieht mit dem Gemüse-Hahnenkamm aus roten Chilischoten, grünen Korianderblättern und Gurkenscheiben. Sandwiches werden auf vielerlei Art in den Straßenküchen Vietnams angeboten, wie auch individuelle Belegwünsche berücksichtigt. Das Sandwich ist modern, darüber hinaus symbolischer Ausdruck einer Esskultur und gleichzeitig praktisch, weil es eine ideale Reiseverpflegung darstellt. Und so folgen wir, mit einem vietnamesischen Sandwich als Proviant im Gepäck, Thuy Diem Pham nach London. Dorthin hat ihr Vater sie noch als Schulkind – ebenso ihre Mutter und ihre ein Jahr ältere Schwester – zu sich geholt. Die frühe Begeisterung für Essen und Kochen bleibt. Es sind Rezepte der Mutter und der Großmutter, die auch den Grundstein ihrer Kochkarriere bilden, die sie in ihrem Restaurant The little viet Kitchen in London ausbaut.
Simply Pho nähert sich dem Geschmack Vietnams in acht Kapiteln.
Zuerst Thuys Basics. Da wird eingelegt, werden Saucen gerührt, Öle aromatisiert … Ob knusprig geröstete Schalotten oder eine cremige Kokossauce, die Rezepturen, die hier vorgestellt werden, sind auf Lagerfähigkeit ausgerichtet. Überwiegend mit Nahrungsmitteln, die in Südostasien tagtäglich auf dem Speiseplan stehen. Richtig persönlich wird es aber dann im zweiten Kapitel, wenn die Autorin Vietnam in meiner Küche präsentiert. Das sind im wahrsten Sinne Gerichte zum Fingerschlecken. Da greift man beherzt nach einem Stück Ingwerhähnchen und es schmeckt so phantastisch, dass man am Ende selbst die Restspuren der karamellisierten Sauce von den Fingern schleckt. Aber Vorsicht, es ist ratsam, genügend Löschwasser in Form von Jasmintee, Lassi oder Sauvignon Blanc bereitzuhalten, um das Feuer des pikanten Hähnchens in Schach zu halten.
Schweinefleisch wird in Vietnam mit Wohlstand und Reichtum verbunden. In Österreich ist „Schweinernes“ kein Luxus gemessen an dem Pro-Kopf-Verbrauch, der 2018 stolze 52,8 Kilogramm betrug. Das wollen wir ausnützen und In Kokoswasser geschmortes Schweinefleisch mit Ei ausprobieren. Für Thuy ist dies das ultimative Wohlfühlessen, ein Gericht, in der die „Prise Mutterliebe“ zum Tragen kommt. Sei es in Form von frühen Erinnerungen oder aktuell, wenn irgendwas fehlt, weil die Mutter vergessen hat, es ihrer Tochter weiterzugeben. Das großwürfelig geschnittene Fleisch wird durch das langsame Schmoren im süßlichen Kokoswasser zart saftig, zergeht förmlich auf der Zunge. Dazu Reis und ganze, hartgekochte Eier inklusive Fischsauce lassen neue Aromenwelten entstehen. Für dieses einfache Gericht, wie auch für einige andere, ist der Zeitaufwand allerdings nicht unerheblich, weil das Fleisch einige Zeit in der Beize liegen muss.
Schnell tischfertig ist die Vietnamesische Brokkoli-Knoblauch-Pfanne. Wobei in diesem Fall nicht der italienische Röschenkohl verwendet wird sondern Kailan, der chinesische Verwandte. Dieser breitblättrige Kohl mit einer leicht bitteren Note ähnelt dem Pak Chois, welcher auch ersatzweise verwendbar ist. Schön nebeneinander in ein Pfännchen gebettet, ist dieses knackige Gemüse das Vorspiel für einen schönen Abend.
Jetzt heißt es kühlen Kopf bewahren; wir blättern weiter zu Kapitel drei, das den Suppen & Brühen gewidmet ist. Da kommen wir nicht umhin, nach dem Rätsel der köstlichen Pho zu fragen. Diese geheimnisvolle Gemüsesuppe vereint Herz und Seele der vietnamesischen Küche, heißt es. Und Thuy Diem Pham lüftet den Schleier des Suppen-Mysteriums und zählt die Kriterien für eine gelungene Pho auf. Dazu kommen noch die Rezepturen für die Rinder Pho nach Art des Südens sowie eine Hähnchen Pho. Sie gelingen immer. Aber wenn Sie bestimmte Qualitäts-Kriterien beachten – noch besser. Bspw. eine klare Brühe, langes und sanftes Garen, weiters Rösten der Gewürze, Zwiebeln und Ingwer usw.
Röstaromen schlagen uns auch aus vietnamesischen Straßenküchen entgegen. Dem 4. Kapitel gehören die betörenden Düfte von Sandwiches mit frittiertem Tofu-Zitronengras-Belag genauso wie von Frühlingsrollen mit diversen Füllungen. Eine Augenweide sind die Sommerrollen, durch die Veilchen zart hindurch schimmern, sodass man lange zögert, davon zu kosten. Garnelen und Schweinefleisch kann man ebenfalls mit den transparenten Reisteigplatten zu aparten Sommerrollen verarbeiten. Der Phantasie und eigenen Kreativität sind da keine Grenzen gesetzt.
Auf Vietnams Straßen sind die mobilen Garküchen nicht zu übersehen und das Angebot an köstlichen Imbissen unendlich groß. Aber in Vietnam gibt es noch eine Tradition, die der Pflege von Freundschaften dient, mit gemeinschaftlich geteilten Genüssen. ‚Nhau‘ bedeutet ‚zusammen‘ und meint auch Häppchen, eine Art vietnamesische Tapas. Also ein interaktiver Zeitvertreib mit Kleinigkeiten, wie sie im 5. Kapitel serviert werden. Das können Gegrillte Riesengarnelen in Honig sein, oder Zitronenspieße mit Rind vom Grill. Richtig zur Sache geht es dann mit den in schwarzem Pfeffer gewendeten Rinderfiletstücken, die kurz blutig gebraten werden, das nennt sich dann Schwenkfleisch. Dazu wird meist mit Zwiebeln angereicherte Brunnenkresse serviert oder andere Salate. Von Letzteren werden einige im sechsten Abschnitt vorgestellt. Da kooperieren Hähnchen und Mango für einen Salat, der sich auch als Hauptgericht bewährt hat. Aber auch Tofu und Shiitakepilze finden sich in einer Nudelschale zu einem herrlichen Essen, das mit Koriandergrün, Thai-Basilikum- und Minzeblättern dekoriert sehr hübsch aussieht. Neben den Salaten werden auch pfannengerührte Speisen vorgestellt, die ihre südostasiatische Mentalität nicht leugnen können. Dafür werden exotische Zutaten wie Wasserspinat, Papaya, Tamarinde u.a. kombiniert und strukturiert, die gegensätzlich sind und doch miteinander harmonieren. Das schmeckt nicht nur ausgezeichnet, sondern ist auch sehr gesund.
Zu guter Letzt meldet sich die Autorin mit kulinarischen Eigenentwicklungen zu Wort. Sie sind dem Reiz der vietnamesischen Küche geschuldet. Da kommen Thuys Kreationen zum Vorschein, und in übertragenem Sinn auch die Emanzipationsbestrebungen der vietnamesischen Frau wider die Tradition. Sie modernisiert die traditionelle vietnamesische Küche, verleiht ihr einen innovativen Anstrich und experimentiert und probiert andere Techniken oder Zutaten aus. Ihre Vorschläge nehmen Anleihe aus unterschiedlichen Kochtraditionen, wie bspw. der peruanischen Küche mit dem Wolfsbarsch-Ceviche mit Maracuja und (Blut-)Orange. Und beschenkt uns mit einem eleganten, einfachen und sehr schmackhaften Resultat. Das ist gleichzeitig ein Aufruf an die AnwenderInnen dieses Kochbuchs, so interpretiere ich dieses Kapitel: Lasst eurer Phantasie freien Lauf und versucht euch in neuen Variationen.
Am Ende, im achten Kapitel, gibt es süße Grüße, wie uns die süßen Genüsse erscheinen. Auch Vietnamesen mögen Süßes, essen Kuchen, Kekse oder Pudding. Eher zwischendurch – während des Tages – nicht wie wir, am Ende einer Mahlzeit. Die Grundlage der Süßspeisen Vietnams sind vor allem Reis und brauner Zucker, zusammen mit Kokosnussfleisch und -milch. Und damit tauchen wir noch einmal ein in die süße Welt des Mekongdelta. Von hier stammen die Rezepte wie auch Thuy. Es fällt schwer auszuwählen, alles ist neu und unbekannt. Ich entscheide mich für den Pudding mit Schwarzaugenbohnen. Da werden Klebreis, Bohnen, Kokoszucker und geröstete Erdnüsse zu einem ungewöhnlichen Dessert verarbeitet. Das sollte man ausprobieren.
Simply Pho von Thuy Diem Pham ist eine kleine Schatzkammer der vietnamesischen Küche. Die Autorin vermag es, uns Mitteleuropäern den kulinarischen Reiz Vietnams anhand neuer Texturen und Aromen nahe zu bringen. Ihr Ansinnen bildhaft umzusetzen half David Loftus. Seine Fotos sind wahrlich kleine Kunstwerke. Fast perfekt wäre das Kochbuch über die Küche Vietnams, wäre da nicht dieser Wermutstropfen: die Absenz eines Glossars und das Fehlen von Bezugsadressen. In London und anderen großen Städten werden vielfach asiatische Zutaten auf Märkten und in Asia-Shops täglich frisch angeboten, aber in der Provinz? Das kleine Informationsmanko mag marginal im Vergleich zum Gewinn sein, den uns die Autorin mit ihrem Kochbuch beschert. Denn mit Simply Pho erkunden wir einen nahezu weißen Fleck unserer kulinarischen Weltkarte und staunen über den reich gedeckten Tisch mit traditionellen und neuen vietnamesischen Gerichten. Wer sich darauf einlässt, wird kulinarisch reich beschenkt.