Heute reisen wir ins TIROLER OBERLAND.
In ein kleines Seitental des Inntals. Der bekannteste Ort in dieser Talschaft ist wohl Galtür, auch wegen des schrecklichen Lawinenunglücks vor einigen Jahren. Das Paznauntal, von dem hier die Rede ist, kam aber vor zwei Jahren wegen etwas anderem, nämlich Corona, in die Schlagzeilen weltweit. In Ischgls Après-Ski-Bars infizierten sich Urlauber mit dem Virus und verbreiteten es europaweit. Im Ballermanndorf der Alpen wie auch in den übrigen Dörfern des Paznauntals gibt es aber auch anderes als Besäufnisse bis früh morgens, Tanzen und Feiern. Und zwar eine gehobene Gastronomie – eine junge Kochgeneration die anders tickt und kocht. Den Beweis dafür will das Kochbuch Paznauner Küchengeheimnisse liefern, das im Michael Wagner Verlag erschienen ist. Markus Linder, ein bekannter Musik-Comedian, behauptet in seinem Vorwort: … wer schon erlebt hat, wie nicht nur die verdienten kulinarischen Altmeister, sondern auch die Young Chefs des Paznaun gemeinsam würzen, sieden, zuschneiden, braten, dünsten, abschmecken …, der will nur noch dort essen, im Tal der Trisanna. Eben, weil diese Gault-Millaus, Michelins, Hauben- und Sterne-Köche einzig und allein für den Gast kochen. Und Markus ist wohl auch der einzige, der diese Chöre von zufriedenen Gästen allabendlich singen hört in den Speisesälen: „Allways look on the bright side of life!“ Diese Schar der Alt- und Jungköche zwischen Samnaun, Verwall und Silvretta ist schon erstaunlich! 1993 gründeten einige Küchenchefs den Club der Paznauner Köche, die das Augenmerk auf außergewöhnliche Genusserlebnisse in schöner Atmosphäre legen. Dieser Kochclub fungiert zusammen mit ihrem Obmann Bernhard Sieberer als Herausgeber der Paznauner Küchengeheimnisse. Mit diesem Kochbuch präsentiert eine Heerschar von Paznauner Köchen ihr Können, offerieren sie uns einen Querschnitt gastronomischer Spitzenleistung aus dem Tal der Trisanna. Es ist gleichzeitig eine Dokumentation über kulinarische Vielfältigkeit und Ideenreichtum. Sieberer merkt in seiner Einleitung an, dass wie das Tal – der Weg dorthin führt durch eine enge, schmale Schlucht – auch die Menschen dort einzigartig sind. Aber wer im Tal angekommen ist, darf sicher sein, auch in den Herzen der Menschen einen Platz gefunden zu haben. Es erinnert mich irgendwie an Shangri-La, der Verheißung klimatisch paradiesischer Zustände. Paznaun, als die letzte Region des Genusses. 33 Köche und eine Köchin machen es möglich, die Aromen der berggeprägten Region auf den Teller zu zaubern. Entgegen der Erwartung, dass viele Köche den Brei verderben, überbieten sich die Clubmitglieder in ihrer Begeisterung für die regionalen Produkte und in ihrem Engagement für die heimische Küche, lassen so das Paznauntal zu einem Eldorado für Gourmets werden. In einer stilisierten Karte sind die Bauern und Produzenten eingetragen, mit denen die Köchinnen und Köche des Paznaun eng zusammenarbeiten. Wer den Speck liefert, die Highländer züchtet, den Käse liefert, das Brot bäckt … Einige dieser Familienbetriebe werden im Buch vorgestellt. Den Hauptteil aber bilden die Gerichte der Köche und einzigen Köchin; pro Person eine Vor-, Haupt- und Nachspeise. Es ist eine kulinarische Reise durch das Paznaun – jede Einkehr ein besonderes Erlebnis.
Martin Sieberer eröffnet den Schlemmerreigen mit einem Gericht unter einer Glashaube. Tartelette mit Ricottacreme und eingelegtem Gemüse gleicht fast einem Blumenarrangement, wären nicht die saisonalen Gemüse so eindeutig erkennbar. Ab jetzt ist die Reihenfolge der Köche alphabetisch. Von Manfred Aloys erfahren wir, dass 20 Reisköner 0,5 Gramm wiegen, nur für den Fall, dass Sie mal 100 Gramm Reis kochen wollen und keine Küchenwaage zur Hand haben! Er hat Humor. Und ein gutes Auge. Seine Speisen sind kleine Kunstwerke, die irgendwie an japanische Gärten en miniature erinnern. Der mit Limette marinierte Saibling – Gurke / Paprika / Zwiebel ist so ein Miniaturgarten auf dem Teller. Von Michael Bachler wird behauptet, dass vor allem drei Produkte seiner Heimat man immer wieder in seinen Gerichten findet, nämlich ‚handgebrockte‘ Steinpilze, die Preiselbeeren seiner Mama und den besten Käse des Tales. Der Galtürer Almkäse wird in die Ravioli verpackt und mit Nussbutter-Espuma und Babyspinat serviert. Steinpilze und Preiselbeeren gibt es zu glaciertem Kalbsbries mit Topinambur. Alle seine Gerichte zeugen von Talent und lassen auf eine große Kochkarriere schließen. Eugen Ehrenberger gehört zum Kochurgestein der Talschaft. Seine Gerichte sind der Tradition verpflichtet, wie die Paznauner Käserahmsuppe mit Bauernbrotkrustel. Das rosa Hirschkalbsfilet mit Schwammerlbutter, Mohnpolenta und Wirsing-Birnen-Melange lassen mich staunen und in Ehrenberger auch einen Jägersmann vermuten. Die Mohnpolenta war für mir eine wunderbare neue Beilagenerfahrung. Martin Handle, der im Post Hotel ‚Am See’ kocht, verbringt seine Freizeit gerne in der Natur mit Schitouren Gehen und Bergsteigen. Und so wundert es nicht, dass seine Gerichte für mich am ehesten an Abbildungen seiner Heimat heranreichen. Das schräggeschnittene Kaninchen im Brotmantel symbolisiert Bergspitzen, die auf den Saibling aufgespritze Farce erinnert an Felsrücken. Überhaupt lassen die Arrangements der vorgestellten Gerichte viel Fingerspitzengefühl und den Hang zum Detail erkennen. Einige Fotos versprechen auch mehr, als in der Beschreibung ausgeführt wird. Hier hat wohl die künstlerische Freiheit der Präsentation dazu beigetragen, dass vielfach mit Blüten dekoriert wird, ohne zu benennen, um welche es sich handelt.
Eingestreut, zwischen den Köchen und ihren Rezepten werden auch Familienbetriebe vorgestellt, wie die Bäckerei Kurz oder die Hofkäserei Huber. Wie findig Käseproduzenten sein können beweist Herman Huber, der mit dem Galtürer Bergkäse ein Eis und Crème brulée kreiert, das mit Zwetschkenröster serviert wird. Wie das schmeckt, kann ich nicht sagen, denn noch konnte ich mich nicht überwinden, das Käseeis nachzukochen. Mehr anfreunden kann ich mich hingegen mit dem Beerenschmarrn von Hermann und Patrick Huber. Ein Gericht, das allen schmeckte und von dem meine Enkel nicht genug kriegen konnten. Ausgefallener waren dann David Jägers Bauernkrapfen und Sauerrahm, die bildlich in einem Schüsselchen auf Heu serviert wird und rezeptgemäß auf Sauerkraut.
Drei Personen und ihre Gerichte müssen noch erwähnt werden. Da ist einmal der Nachtisch aus Joghurt / Himbeeren / Sauerampfer von Fabian Jäger, der mich an einen verspielten persischen Garten erinnert. Die Almkäsetascherln in Rinderkraftbrühe von Jasmin Jehle sind eine bildgewordene kulinarische Verzauberung, die hier einfach so stehen bleiben, ohne dass sie weiter beschrieben werden. Und zuguterletzt sei noch auf das Rehfilet im Pilzmantel mit Schupfnudeln und Orangenrotkraut von Augustin Moser hingewiesen. Ein Gericht, das Ideenreichtum mit Bodenständigkeit signalisiert und gleichzeitig den Blick über den Tellerrand zulässt.
Alle, das muss betont werden, alle Rezepte im Kochbuch Paznauner Küchengeheimnisse zeugen von höchstem handwerklichem Können, in welchem mehr oder weniger kulinarische Genialität mitschwingen. Die Rezepte sind gut verständlich beschrieben und mit ganz wenigen Ausnahmen problemlos nachkochbar. Am Ende verraten die Paznauner Köche auch grundlegende Rezepte von Farcen, Fonds, Brühen und Saucen, die auch in einigen Gerichten vorkommen. Grandios an Aussagekraft und Detailgenauigkeit sind die Fotos von Christa Engstler. Schnell vergißt man beim Durchblättern das Zeitgefühl und verliert sich leicht beim Betrachten der kunstvollen Arrangements der Paznauner Küchengeheimnisse. Dazu tragen wohl auch die botanischen Verzierungen bei, Blüten von Borretsch, Estragon und Kapuzinerkresse, die die Gerichte schmücken und einen Hauch von Leichtigkeit verheißen.
Die Paznauner Küchengeheimnisse sind also mehr als nur ein regionales Kochbuch. Die Köche der Talschaft beweisen mit ihrem Kochclub, der ein wenig an die spanischen Kochgemeinschaften erinnert, dass die Küche einer Region sich nicht im Traditionellen verlieren muss, sondern sich weiterentwickeln und neue kulinarische Horizonte erschließen kann. Die Rezepte sind ein Fundus für ambitionierte Köch:innen.