Fanny Singer, Always Home

Familie, Freunde & Food

Mit einem Vorwort von Alice Waters
Mit Fotos von Brigitte Lacombe
btb Verlag, München, 2021, 336 Seiten, 28.80 Euro
ISBN 978-3-442-75874-6
Vorgekostet

Heute reisen wir nach KALIFORNIEN.

Dort besuchen wir Alice Waters und Fanny Singer – Alice, die Mutter in Berkley und Fanny, die Tochter in San Franzisco. Alice Waters ist aber nicht irgendwer, sondern Köchin, eine bedeutende Pionierin einer frischen, saisonalen und biologischen Küche. Sie hat sich mit Chez Panisse in den Restauranthimmel gekocht. Fanny ist promovierte Kunsthistorikerin, schreibt für diverse Magazine und vertreibt im Landscapestil designtes Kücheninventar für teures Geld. Aber Fanny hat auch ein Buch geschrieben, das zwischen Biographie und Kochbuch changiert. Always Home erzählt die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung, die weit über das ‚Alltags-Zuhause‘ hinausgeht.

In zweiunddreißig Kapiteln begleiten wir die Autorin auf einigen ihrer Lebensstationen in die auch immer ihre Mutter Alice Waters involviert ist. Es sind Reiseetappen, die uns nach Frankreich, Italien, England und in die USA führen. An Orte, wo sich alles ums Essen dreht. Wir lernen Menschen kennen, deren höchstes Kulturgut der Tisch ist, weil sie nur dort, beim gemeinsamen Mahl, ihre Gefühle für Heimat und familiäre Gemeinschaft erleben. Aber im Vordergrund stehen die Erinnerungen von Geschmack, das Prisma, durch das die meisten Dinge betrachtet oder analysiert oder begriffen oder auch kritisiert wurden. Tatsächlich war das, was ich von klein auf zu mir nahm, schreibt Fanny im Frühstückskapitel. Das ist größtenteils dasselbe, was auch meine Mutter aß, nur in passierter Form. Sie wollte jedoch auch wissen – als ich dann alt genug war, um mein kulinarisches Erlebnis in Worte fassen zu können –, wie ich das fand, was sie da gerade auf meinen Teller gelegt hatte. Sie forderte mich auf zu sagen, wenn etwas zu salzig oder bitter war, und eigenständig meine Vorlieben und Abneigungen zu erforschen. Fanny Singer ist also von klein auf gewohnt, sich der Gaumenfreuden bewusst zu sein.

Breiten Raum in der Biographie Fanny Singers nimmt ihre Kindheit im Chez Panisse ein. Sie ist mehr oder weniger im Restaurant aufgewachsen. Und es waren vor allem die Gerüche, die sich einprägten: die strenge Note des Zedernholzes, der schwache Geruch der Ethanollampen, das Aroma von Pizza, dessen Teig im Holzofen beim Backen schwarze Stellen bekam. Die Pizzastation war Fannys und ihrer Freundinnen Lieblingsplatz. Michele, der Pizzaiolo, hob sie immer hoch, damit sie die Transformation des Teiges beobachten konnte. Die lange Teigführung garantiert eine gute Pizza; sie wird seit Jahrzehnten im Chez Panisse nach demselben Rezept hergestellt. Übrigens ist der Restaurantname aus einem Werk von Marcel Pagnol entnommen und Fanny ist benannt nach der Liebenden in der Trilogie Fanny, Marius und César

Die Provence und das Weingut Domain Tempier ist in der Erinnerung der Autorin eng an eine zierliche Französin geknüpft, Lulu. Egal, zu welcher Jahreszeit, Lulu bereitete immer eine Fischsuppe zu. Manchmal war es eine gewaltige Bouillabaisse in einem Kupferkessel über einem offenen Feuer. Die einfache Fischsuppe, die hier vorgestellt wird, punktet vor allem mit einer sehr würzigen Rouille.

Always Home ist nicht chronologisch aufgebaut, hat auch keine durchgehende Erzählhandlung. Personen tauchen auf und verschwinden wieder. Die einzige Konstante ist Alice Waters, prägend und ein Fixpunkt. Wie auch der Salat. Es gibt kein Essen ohne Salat bei Waters und Singer. Er ist der Einzige, dessen Abwesenheit gar schmerzlich spürbar wäre. Ein einfacher grüner Salat ist auch der Terminus, den Waters dort verwendet, wenn er auf der Speisekarte in dem Restaurant, in dem sie gerade essen, durch Abwesenheit glänzt. Es ist eine Art Nagelprobe für den jeweiligen Genusstempel. Es vergeht kein Tag, an dem ich keine Salatblätter in einer Schüssel wende, aber nicht jeder Salat bekommt ein Dressing, bekennt Nigel Slater. Und auch, dass seine Salatsoße eine Variante ist von der, die er im Chez Panisse gegessen hat. Dafür gibt Nigel eine kleine Knoblauchzehe mit einer Prise Salz in einen Mörser und zerstößt sie zu Mus. Dann werden 4 EL Rotweinessig darüber gegossen und 10 Minuten stehen gelassen, das nimmt dem Knoblauch seine beißende Schärfe. Jetzt kommt 1 TL Dijon-Senf dazu und 175 ml Olivenöl. Das alles wird mit einem kleinen Schneebesen aufgeschlagen  und mit Pfeffer abgeschmeckt. Fertig ist die von Alice Waters inspirierte Salatsoße, die in einem Schraubglas im Kühlschrank aufbewahrt für ca. vier Schüsseln Salat reichen sollte. Singer offeriert uns eine Vinaigrette mit Sardellen, die – ähnlich wie Slaters Dressing – noch mit Zitronensaft und einer Ölsardelle veredelt wird. Das Schulkind Singer hasste Sardellen und wurde von ihrer Mutter mit dieser getarnten Soße geködert. Die Lunchbox der zehn-, elfjährigen Fanny bestand aus verschiedenen Behältnissen, die ein ganzes Mittagsmenü enthielten. Ein erklärtes Ziel der engagierten Mutter Waters war es und ist es heute noch, dass jedes Kind in Amerika ein kostenloses Mittagessen in der Schule bekommt. Dass Fanny wegen des häßlichen Aussehens den Kühltaschenlunchboxsack regelmäßig im Bus oder in der Bahn stehen ließ, ist eine andere Geschichte.

Es sind vor allem die Frankreichbesuche, die Freundschaften, die beeindrucken. Immer mit Essen verbunden und Gerichten die in Erinnerung blieben. Die Zitronentarte mit Buchweizen von Martine gehört dazu. Die Gastgeberin ersetzt einen Teil des üblichen Mehls mit Buchweizenmehl und auch die Teigmenge reichte offensichtlich nicht aus, um die Backform vollständig auszukleiden. Die Zitronentarte hatte schlussendlich eine ellipsoide Form und war in ihrer Unvollkommenheit wunderschön, ja, unvergesslich. Das war auch ein Lehrstück in Sachen Gastfreundschaft; es muss nicht immer alles perfekt sein.

Normalerweise führten die Frankreichreisen zu bekannten Weinbergen und Stränden rund um Bandol. Doch eine Tour führt sie zu den Käseerzeugern in die Pyrenäen, dort, wo der Himmel die Seele berührt. Die Milchstraße war wie ein Spritzer flüssigen Sternenstaubs. Alle Kinder lagen im feuchten Gras und betrachteten den Himmel wie einen Film im Fernsehen. Morgens werden sie vom Bimmeln der Schafsglocken geweckt. In einem riesigen Kupferkessel wird die Schafmilch erwärmt, zu Käse verarbeitet. Zum Frühstück gibt es Schafkäse und Hagebuttenkonfitüre. Es wurde zum Besten Frühstück aller Zeiten erklärt. Für das Hagebuttengelee benötigt man 720 ml Hagebuttensaft, der von 1 kg Hagebutten gewonnen wird. Es ist ein umständliches Rezept, das Fanny hier vorstellt; ich suche immer noch eine einfachere Anleitung. Wahrscheinlich gibt es das nicht, die Rosenknospe ziert sich wie eine Prinzessin.

Berührend ist das Verhältnis der Autorin zu ihren Großeltern mütterlicherseits. Immer wenn sie dort übernachtete, buk ihr Großvater Pancakes. Keine gewöhnlichen, sondern Superfood-Pancakes, mit Weizenkeimen und Vollkornmehl, Apfel und Banane. Das Rezept ist überliefert und als Faksimile abgedruckt. Es war eine andere Küche bei Oma und Opa, an die sie sich gerne zurückerinnert, wer kennt das nicht?

Vielleicht ist auch deshalb das Buch so aufwendig gestaltet. Der Text wurde in der Caslon gesetzt, der Schrift der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Das gestrichene Papier, FSC-zertifiziert, bringt die Schwarzweiß-Fotos besonders zur Geltung. Keine Farbe, das ist mutig. Die Rezepte sind meist einfach und machen auf rustikale Weise das Beste aus den Zutaten. Zudem fügen sie sich harmonisch in die Erzählstruktur ein, werden Teil der Erzählungen. Bevor man sie nachkocht, sollte man sie sich rausschreiben.

Wer sich für die französische, angelsächsische und amerikanische Gastroszene der 1990er Jahre und später interessiert, wird auf eine Reihe von Persönlichkeiten stoßen, die die Wege der Waters-Familie kreuzten. Diese Begegnungen beeinflussten auch die Küche im Chez Panisse. Always Home ist also auch Gastrogeschichte in dosierter Form. Der englische Untertitel A Daughter’s Recipes & Stories spielt auf die familiären Bindungen an und lässt ahnen, welch fabelhafte Rezepte zu erwarten sind. Durch die Linse der Erinnerungen erzählt Fanny vom Ei, das mit einem Löffel über dem offenen Feuer von ihrer Mutter gebraten wird, vom Blattsalat mit Hummer im Elsass, von der Pasta mit grünen Koriandersamen, vom Frühstücksgrießpudding zum Geburtstag, vom winterlichen Kürbisgratin bis zum Cranberry-Raita. Alles spannende Rezepte, die man sich allerdings erarbeiten muss, durch Lesen und Nachkochen.