Meredith Erickson, Alpen Kochbuch

Gerichte und Geschichten von Europas Gipfeln

Fotografiert von Christina Holmes
Karten von Samuel Bucheli
Aus dem Englischen übersetzt von Christine Schnappinger
Prestel Verlag, München - London - New York, 2020, 352 Seiten, 39.10 Euro
ISBN 978-3-7913-8656-0
Vorgekostet

Heute besteigen wir die ALPEN.

Welch ein Unterfangen! Allein die Vorstellung, im Alpenhauptkamm herumzukraxeln, egal auf welchem Berg, lässt Zartbesaitete sofort frösteln. Dieser innereuropäische Gebirgsstock, der sich von der französisch-italienischen Mittelmeerküste in einem großen Bogen bis ins Wiener Becken erstreckt, ist immer wieder eine Herausforderung für Abenteurer und Extremsportler. Vom Weltraum aus betrachtet, sehen die Alpen einem Bumerang ähnlich. Ein gewaltiger Steinehaufen und Lebensraum von fast 14 Millionen Menschen. Die Alpen faszinieren, ziehen Touristen aus allen Kontinenten an. Auch Meredith Erickson ist dem Charme der Alpen erlegen. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Kanadierin sechs Jahre lang durch die Bergwelten Österreichs, der Schweiz, Italiens und Frankreichs wanderte. Eine moderne Entdeckerin. Offen für Menschen, die sie auf ihren Bergabenteuern kennenlernte, zudem immer neugierig auf das Essen, das in Restaurants, Chalets, Alm- und Berghütten, Stuben und Rifugios serviert wurde. Alpenländische Mahle, die so ganz anders waren, als sie es gewohnt ist. Aus den Begegnungen, den Gesprächen und Verkostungen ist ein Kochbuch entstanden. Quasi ausgeapert, ein Alpen Kochbuch das im Prestel Verlag nun auf deutsch erschienen ist.
Meredith Erickson gilt als Spezialistin alpinen Essens. Sie schreibt für die New York Times, in Elle und Saveur – natürlich über Kulinarik. Auch Kochbücher hat sie schon einige verfasst.
Das jüngste, das Alpen Kochbuch, ist eine Herausforderung. Vier Hauptkapitel bilden den Rahmen – es sind jene Länder, die die Alpen tangieren oder dominieren – wobei der Fokus auf Gerichte und Regionen mit Lokalkolorit liegt. Darüberhinaus werden Örtlichkeiten und Persönlichkeiten von regionaler Bedeutung vorgestellt. Jedes Land wird zuerst überblicksmäßig im Kontext der Alpen präsentiert. In weiterer Folge hangelt sich Meredith dann wie eine Kletterin an einschlägigen Rezeptrouten durchs Land. Stellt fast nebenbei einige Gourmettempel vor, die ihr jenes älplerische Essen vorsetzten, das gemeinhin als solches gilt. Es sind Lokalitäten, die vom Nobelhotel und Edelrestaurant bis zur schnuckeligen Almhütte mit Wohlfühlcharakter reichen. Von den 175 heimgebrachten Rezepten haben es 75 ins Alpen Kochbuch geschafft. Einige kennt man, sind es doch weltbekannte Klassiker wie das Wiener Schnitzel, Zürcher Geschnetzeltes, Mohn- und Apfelstrudel, Forelle blau, Omelette surprise etc.. Aber, und das ist das Charmante im Ansatz von Meredith, sie stellt die Gerichte im Kontext ihres geographischen Raumes vor, mit dem Blick einer Außenstehenden. Zwar werden wir über die Rezeptur des Wiener Schnitzels nicht viel Neues erfahren, denn Zutaten und Kochtechnik sind in St. Anton, Chamonix, Cortina d’Ampezzo oder Wien überall gleich. Aber, und das kann Meredith nach gut 200 vertilgten Schnitzeln mit ruhigem Gewissen behaupten: Das beste Schnitzel war immer dort, wo ich das letzte Male eines gegessen habe. Und, die Schnitzel zuhause schmeckten nie so gut wie in den Bergen. In ihren Nachkochversuchen ging es dann auch um die Frage, ob Butterschmalz oder Öl besser zum Herausbacken ist, oder, wie kommt der Luftpolster zwischen Fleisch und Panade zustande. Plustrig nennt man diesen fluffigen Luftpolster auf gut österreichisch. Auch dem Tiroler Gröstl wird viel Aufmerksamkeit geschenkt. Weil es nach landläufiger Art mit der Pfanne aufgetischt wird. So entstehen Mythen. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Kaiserschmarrn. Dieses böhmisch-wienerische Kindl avancierte zum beliebtesten Essen auf den bewirtschafteten Almen Tirols. So schmecken die Berge, wird zum Werbespruch und meint einen zerrissenen Pfannkuchen. Dokumentarisch festgehalten auf einer Fotostrecke über zwei Seiten. Jakob Prantl ist der Wirt von der Gampe Thaya. Er zeigt uns, wie man den Kaiserschmarrn zubereitet. Da sollte nichts mehr schiefgehen. Vom Kaiserschmarrn gibt es unzählige Varianten. Der hier vorgestellte aus dem Ötztal ist ein Stenz, würde Monaco Franze sagen. Wird er doch mit Traubenkernöl statt Butter angerichtet und publikumswirksam mit Rum abgefackelt. Den Apfelstrudel lernte Meredith im Lechtal im Hotel der Schneiders kennen, die nicht nur Unterkunftgeber, sondern auch Architekten sind. Sie werden, wie andere Gastropromis, in ihrem Metier vorgestellt. Man erfährt also neben Kulinarischem auch Hintergründiges von honorigen Alpenbürgern, die erfolgreich ihre Bergwelten ins Licht der Öffentlichkeit zerren. So serviert uns in den Kitzbühler Alpen Philipp Rauscher vom Berggasthaus Resterhöhe eine Katersuppe mit Kaspress Knödel, aber auch Buchteln mit Powidl, die Meredith als Rohrnudeln mit Pflaumenmus übertitelt. Klaus Plank vom Weißen Rössl in Innsbruck tischt uns, wie schon erwähnt, eine ordentliche Portion Tiroler Gröstl auf. Gekochtes Rindfleisch ist eines der typischsten Gerichte der österreichischen Alpen heißt es im Vorspann. Und warum das Rezept nicht von irgendwem aus irgendeinem Bergdorf stammt, sondern vom Koch des Weißen Rössl, hängt mit der einfachen Tatsache zusammen, dass sie in Innsbruck das köstlichste Gröstl gegessen hat, das sie je probiert hat. Die Röstkartoffeln mit gekochtem Rindfleisch, Kräutern, Spiegelei und Speckkrautsalat werden jeden Tag ebendort nach Tiroler Art zubereitet.
Als Merediths amerikanische Freunde Fotos von den Schitour-Mittagessen sahen, eben Tiroler Gröstl, kombiniert mit schlanken Flaschen voll Elsässer Weinen, wunderten sie sich, dass hier mehr als ein Dosengericht, eine Tüte Chips und ein Glas Sprudelwasser aufgetischt wurde. Hier ist einzuwenden, dass es Meredith darum geht, aufzuzeigen, wo in den Alpen vorzüglich gegessen wird und wie man die älplerischen Gerichte zuhause nachkochen kann.
Auch für Alpenmenschen gibt es da noch einiges zu entdecken. Im italienischen Abschnitt stieß ich auf den Radicchio-Knödel, der ein Pendant des Tiroler Speckknödels ist. Aus dem ladinischen Raum stammen die Casunziei mit Roter Bete und Mohn, also Teigtaschen, die mehrere Kochtraditionen in sich vereinen. Ein bisschen böhmisch, ein bisschen österreichisch und ein wenig venezianisch. Deftig dagegen sind die Suppen. Etwa die Suppe auf Cogne-Art (Seupetta à la Cogneintze), die so vollgepackt ist mit Käse, dass man sie mit der Gabel essen muss. Ihre Aufgabe? Dem Schnee trotzen. Das elementare alpine Leben bewältigen. Mit dem Mangel an knackigen, frischen Produkten in den Wintermonaten umgehen, lautet die Diagnose der Kanadierin, wenn sie über das Essen aus dem Aostatal schreibt, wo vielleicht die urigsten Älpler zuhause sind. Dort essen sie zum Risotto Zentimeter dicke Scheiben köstlichster Salami.
Ein Katzensprung und wir sind in der Schweiz. Das Kapitel wird mit dem Wahrzeichen der Alpen, dem Matterhorn, eingeleitet. Ein Respekt einflößender Berg und tödliche Herausforderung für viele Alpinisten. Im Matterhorn ist alles vereint, was die Alpen sind: Kletterabenteuer, Gefahr, Alpingeschichte und natürlich Genuss der Landschaft. Von der Terrasse des Hotel de Bellevue des Alpes ist der Blick unverstellt auf diesen Felskoloss. Werden die dramatischen Geschichten der Gipfelerstürmung spürbar, entspannen sich die aufgewühlten Sinne beim Genuss von heißer Kräuterschokolade oder einem Teller Hirtenmakkaroni mit Apfelmus oder einem Fondue. Aber um das Fondue Neuchatel zu kosten, reisen wir weiter nach Neuenburg in die französischsprachige Schweiz. Spät, 1964 bei der Weltausstellung in New York, kamen die Amerikaner erstmalig in den Genuss dieses Topf-Käse-Gerichts. Erickson holt im Vorspann zum Fondue etwas weiter aus und beschreibt anschaulich die unzähligen Variationen dieses Gerichts, welche Käse und in welchen Mengen sie miteinander verschmelzen. In ihrem Rezept werden Greyerzer und Emmentaler Käse zu gleichen Teilen verwendet, dazu trockener Weißwein und Kirschwasser. Eine Rezeptur, die auf alle Fälle ein gelungenes geselliges Abendessen garantieren.
Natürlich serviert uns Meredith Bekanntes wie Züricher Gschnetzeltes oder Raclette, aber auch eine Schwarzwurzelsuppe sowie Gamspastete vom Feinsten. Und der Trauben-Walnuss-Pizokel ist der Nachfahre eines Ur-Eidgenossen, denn der Ur-Pizokel besteht nur aus Milch, Mehl und Eiern. Den gibt es aber in unzähligen Variationen, mit pochierten Birnen, Speck, Spinat usw.. Merediths Version enthält Quark, Trauben, Taleggio-Käse und viel Petersilie.
Wüsste ich nicht, dass das Biscuit de Savoie eine französische Süßspeise ist, ich hätte es als eidgenössische Süßspeise eingeordnet, äußerlich dem Matterhorn nicht unähnlich. Und weil wir jetzt am Berg angekommen sind, so soll auch der höchste Europas ein vernaschbares Ebenbild bekommen. Das Mont-Blanc-Törtchen ist im geologischen Sinne äußerst raffiniert aufgebaut. Auf einen Baiser-Sockel wird ein bergförmiger Kern aus reinem Kastanienpüree aufgesetzt, der dann mit heller Kastanien-Crème spiralförmig umhüllt wird. Die Spitze krönt eine kandierte Kastanie. Wenn es auch kompliziert scheint, es ist machbar und schmeckt köstlich.
Habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Essen in den französischen Berghütten viel schlechter war als in den italienischen, so scheint Meredith es anders ergangen zu sein, zumindest belegen es die Rezepte. Ob Entenbrust mit Pont-Neuf-Polenta oder Tomme Tartine (Große Tartine à la Tomme de Savoie) – das ist gute Küche und ich glaube ihr. Deftig ist der Tartiflette, ein Kartoffelgratin mit Speck und Reblochon-Käse, aber das beste Essen nach einer langen Bergtour.
Und wer sein Essen gerne mit einem Käsegang beendet, dem empfehle ich dazu das Maisbrot (Pain de Mais Souffle), einfach herrlich!
Das Alpen Kochbuch von Meredith Erickson ist ein opulenter Bildband, der an National Geografic Hefte erinnert. Schöne großformatige Fotos von Christina Holmes, die kleinste Details sichtbar machen, laden zum Verweilen ein und den Blick in die Ferne schweifen lassen. Gleichzeitig wecken sie einen inneren Drang, nötigen mich aufzubrechen, die Alpen zu erkunden. Ich schaffe es bis in die Küche, schmiere mir eine dicke Scheibe Maisbrot mit Bergbutter und setze mich wieder hin, um weiter zu lesen im Alpen Kochbuch. Erickson fokussiert ihren Blick auf das Essen in den Bergen, auf schroffe Regionen, auf Älpler mit besonderer gustorischer Lebensfreude. Fleißige Leute, die es verstehen, gut zu leben und ihren Küchenphantasien viel Spielraum zu geben. So ist die Riesen-Bandbreite an Alpen-Kulinarik erklärbar. Spezielle Themen wie zu Alpenweinen oder französischem Alpenkäse behandelt die Autorin eigens, in eingeschobenen Beiträgen. So werden bspw. bei den Alpenweinen, ob französisch oder italienisch, einige exzellente Weinbauern aus dem überbordenden Fass an Winzern herausgefischt und vorgestellt. Deren schwierige Arbeit in den Steilhängen beschrieben, die wichtigsten Rebsorten und das Wunder an Geschmack, den diese kargen Böden hervorbringen.
Erickson gelingt es, einen umfassenden Einblick in die Alpenküche zu vermitteln, auch wenn sie bekannte Highlights bevorzugt und die regionale ‚Nischenküche‘ kaum beachtet. Das hängt natürlich mit ihrer Vorgangsweise zusammen, dass sie bekanntere Destinationen und Aushängeschilder der Gastronomie bevorzugt. Und das wiederum ist wahrscheinlich ihrem Zielpublikum aus dem angelsächsischen Raum geschuldet. Dennoch habe ich mich mit großem Vergnügen – lesend und kochend – durch das seitenschwere Kochbuch gearbeitet. Gelacht und gestaunt, darüber, dass bspw. im Restaurant ice Q, wo auch der James-Bond-Film Spectre gedreht wurde, es einen der besten Mohnstrudel der Alpen zum Verkosten gibt. Klar, das Rezept ist abgedruckt. Wie weit Meredith Erickson an den Stellschrauben der Rezepturen gedreht hat, also eigene Interpretationen einflossen, hat sich mir nicht wirklich erschlossen, sind es doch eine Menge Einheimischer, die als Quelle fungieren. Betrachtet man das Alpen Kochbuch wie einen Reisebericht, so sind die Rezepte erzählende Untermalungen. Sehr ausführlich und genau und je mehr ‚Kultstatus‘ dem Rezept eingeräumt wird, desto ausführlicher ist die Beschreibung. Sorgfältig recherchiert, auch wenn sich unterbewusste Vorlieben, so mein Eindruck, manchmal hineindrängen, bspw. beim Tiroler Gröstl, das man klassisch mit Schmalz röstet und nicht mit Traubenkernöl.
Ein ausführliches Inhalts- wie auch Adressenverzeichnis der Gasthäuser, Pensionen, Schutzhütten, Hotels und Restaurants sowie detaillierte Kartenausschnitte der besuchten Alpenregionen machen das Alpen Kochbuch zu einem hilfreichen Nachschlagewerk, das wenig Fragen unbeantwortet lässt. Vor allem lädt es zum Schmökern ein, ohne hohen Anspruch, aber mit Unterhaltungswert.