Reem Kassis, Zu Tisch in Palästina

Fotografiert von Dan Perez
Übersetzt aus dem Englischen von Lisa Heilig
Phaidon bei ZS Verlag, München, 2018, 256 Seiten, 29.80 Euro
ISBN 978-3-947426-01-0
Vorgekostet

Heute reisen wir nach PALÄSTINA.

Aber das ist gar nicht so leicht, in diese im Südosten gelegene Region des Mittelmeers zu kommen. Vor einem Vierteljahrhundert war es noch möglich, nach Rafah zu fliegen und am Yasser Arafat International Airport zu landen. Heute sind von diesem Flughafen im Gazastreifen nur Ruinen übrig. Damals reichten sich der israelische Premier Yitzhak Rabin und der Palästinenserführer Yasser Arafat die Hand zum Oslo-Abkommen, die Zweistaatenlösung schien in Reichweite. Das Abkommen zerbrach, die Palästinenser bekamen keine Gelegenheit zu beweisen, dass ihr Staat funktioniert. Viele leben in prekären Situationen auf palästinensischem Territorium, viele wanderten aus, gingen in die Diaspora. Immer mit dabei der Duft und die Gerichte ihrer palästinensischen Küche.

Auch Reem Kassis ging fort. Von Jerusalem in die USA nach Penssylvania zum Studium. Im Herzen das Heimweh nach ihrer Familie und im Gepäck Olivenöl und Gewürze, die Aromen ihrer Heimat, die ihre Sehnsucht linderten. Essen durchdrang viele Aspekte ihres Lebens. Wenn sie in ihrer neuen Heimat arabische Lokale mit Freunden ausprobierte, wurde sie jedes Mal enttäuscht. Mezze, Gerichte mit Granatapfelkernen, Sumach und einigen darüber gestreuten Gewürzen standen dort synonym für die nahöstliche Küche – das war zu wenig. Im Ausland begriff sie nun allmählich die Bedeutung der kulinarischen Gerichte für ihre eigene Identität. Die Speisen ihrer Mutter und ihrer Großmütter, die gemächliche Lebensart, die Bedeutung der Familie, das, was man gemeinhin unter Heimat versteht, was sich in der palästinensischen Küche fokussiert. Und so lag der Schluss nahe, dass Reem ein Buch über die palästinensische Küche schreiben wird. Die mittlerweile erfolgreiche Unternehmensberaterin nimmt sich nach dem zweiten Kind eine Auszeit, ändert ihre Lebensziele und startet eine Kochkarriere. Sie kochte sich quasi zurück in ihre Heimat und Familie mit alten Rezepten von der Großfamilie. Die Frauen ihrer Familie inspirieren Kassis beim Kochen. Viele von ihnen haben einen guten Ruf als exzellente Köchinnen, wie Tetma Asma, die Großmutter väterlicherseits, die jedes größere Festessen im Dorf testen musste, da sie den besten Geschmackssinn hatte. Viel gelernt hat Reem von ihrer Mutter. Aber immer noch gibt es geschmackliche Unterschiede bei manchen Speisen, begründet im Vorsprung langjähriger Kocherfahrung ihrer Mama. Davon ließ sich aber Reem nicht abbringen Zu Tisch in Palästina zu schreiben, das im Phaidon Verlag erschien. Ein genialer Titel, der uns Rezipienten dieses Kochbuchs die Küche der Levante zu kosten und ausprobieren einlädt.

Nach der Einleitung offeriert uns Reem in 11 Kapiteln die palästinensische Küche. Sie reicht von den Bergen in Galiläa im Norden bis in die Täler des Südens, von der Küste von Jaffa bei Tel Aviv bis in die West Bank und darüber hinaus über den ganzen Globus. Deshalb war das gar nicht so leicht, all das zusammenzutragen. Denn die palästinensische Küche ist eine Küche der Handmengen. „Gib soviel Mehl dazu, bis der Teig so weich ist, wie dein Ohrläppchen“, war eine Anweisung der Mutter. Die Rezepte, die, in ihrer Heimat nach Gefühl, Augenmaß, Geruch und Geräusch gekocht, mussten übersetzt werden. Zu Tisch in Palästina ist also eine Handreichung, die es uns ermöglicht, nahe an die Originale heran zu kochen. Und die Ergebnisse sind phantastisch, das sei vorweg verraten.

Es beginnt mit den Grundrezepten, die vielleicht banal und wenig aufregend erscheinen, die aber für viele Gerichte in diesem Kochbuch wichtig sind. Am Anfang steht das Neun-Gewürze-Pulver, das nach Möglichkeit selbst zubereitet wird und einen ersten bleibenden Eindruck aromatischer Fülle hinterlässt. Dieses Gewürz gibt es in unendlich vielen Varianten. Hier wird es mit Piment, Zimt, Koriander, Pfeffer, Kardamom, Gewürznelken und Muskat gemacht, in Bethlehem habe ich es erweitert mit Chilipulver und Rosenblätter kennengelernt. Beide Gewürzmischungen haben ein tolles Geschmacksprofil. Es werden aber noch weitere Basis-Zutaten, die man selber herstellen kann, vorgestellt. Labneh, ein einfacher salzig-säuerlicher Frischkäse, Lammfleisch mit Zwiebeln und Gewürzen geröstete Pinienkerne oder Mandeln, gewürzte Brühe, aromatisierter Zuckersirup, sie alle und noch einige mehr werden immer wieder in aufwändigere Speisen hinein verarbeitet. Ein weiteres Grundmerkmal palästinensischer Küche ist Brot. Kein Essen und kein Frühstück ohne Brot. In vielen Familien wird es tagtäglich frisch gebacken. Reem gesteht, dass jedes Mal, wenn sie Brot bäckt, sie die Präsenz ihrer Mutter fühlt. Und so findet sich auf jedem gedeckten Tisch entweder Pita-Brot oder Taboon-Brot), dessen unvergleichlicher Duft es dem Lehmofen verdankt. Erweiternd können die Fladenbrote mit Za’atar oder mit Spinat gefüllt werden, wobei die Füllungen der eigenen Phantasie keine Grenzen setzen. Während die äußere Strukturen in Form großer dreieckförmiger Taschen begrenzt ist. Sie schmecken wunderbar und eignen sich bestens als Wegzehrung. Also gleich einige Stücke mehr machen.

Breiten Raum räumt die Autorin dem Frühstück ein. Dem folgen Kapitel über Ofen- und Schmorgerichte, dann werden Reis- und Getreide-Gerichte vorgestellt, die von Festtagsgerichten abgelöst werden. Die nahöstlichen Desserts und das Feingebäck unterscheiden sich maßgeblich von den europäischen. Hier werden viel mehr Nüsse und Obst zu verführerischen Süßigkeiten verarbeitet. Abschießend geht es dann um Getränke, Eingelegtes und zwei Gewürzmischungen. Der Blick in die Vorratskammer wird von einem ausführlichen Register abgelöst, in Summe sind es 170 Rezepte.

Zu Tisch in Palästina von Reem Kassis ist ein wunderbares Kochbuch über die levantinische Küche. Selbst Kenner werden staunen, wie einfach und ungeheuer vielfältig die palästinensische Küche ist. Eine Küche, die unseren mitteleuropäischen Speiseplan um viele neue Bekömmlichkeiten anreichert. Was will man mehr!

Als Beweis meiner Behauptung dient Kassis Rezept von den Hackbällchen in Weinblättern.

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