Alexandra Maria Rath, SÜSSES WILDES WIEN

Genascht wird, was in der Stadt wächst

Fotos von Stefan Mayer (Food-Fotografie) und David Maninger (Outdoor-Fotografie)
Illustrationen von Alfons Theininger
Gmeiner Verlag, Meßkirch, 2023, 224 Seiten, 31.– Euro
ISBN 978-3-8392-0419-1
Vorgekostet

Heute reisen wir nach WIEN.

Lassen uns verführen von Alexandra Maria Rath zu einem Parcours durch Wiener Gstettn auf der Suche nach Taubnesseln, Walderdbeeren, Wiesensalbei, Labkraut, aber auch Kriecherln und Baumhaseln sowie andere köstliche Wildpflanzen. Rath kennen wir bereits über ihre essbaren Stadterkundungen, die sie in dem Kochbuch Wildes Wien aufzeichnete. Diesmal gilt es, Wien aus einem völlig neuen Blickwinkel kennen zu lernen, auf Wegen zu wandeln, die das süße Wien im Fokus haben. SÜSSES WILDES WIEN ist nun der Leitgedanke und ein kulinarischer Reiseführer der besonderen Art. 

Wir wissen: Wien ist die Stadt der Zuckergoscherln, Naschkätzchen & -katern und so verwundert es niemand, dass Rath ihr Buch der Schleckereien allen süßen Wiener Mädeln und Buben sowie deren Hawara widmet. Und da dürfen sich alle angesprochen fühlen, die nur irgendwie mit der Walzerstadt verbandelt sind und sei es auch nur freundschaftlich.

In 13 Kapiteln präsentiert Alexandra, die Ernährungswissenschaftlerin und Kräuterpädagogin, rund ein Dutzend Wildpflanzen in ihrer natürlichen Umgebung und verknüpft die Fundplätze mit historischen Geschichten und Wissenswertem. Dass Wildpflanzen, Blüten, Wildobst und Nüsse ihre süßen Seiten haben, zeigt sich in über 40 Rezepten, die die Autorin neu interpretierte. In einem Sonderkapitel widmet sie sich dem Wiener Stadthonig. 

In der Einleitung erklärt Rath zunächst einige Verhaltensregeln, auch wo und wie gesammelt wird. Zudem, was bei der Verarbeitung in der Küche unbedingt zu beachten ist. Etwa, dass wir auch die Süßspeisen betreffend unseren Gaumen schulen sollten, dass Backen Chemie ist und die Küche sauber und aufgeräumt sein muss. Dann erfolgt noch ein Schnellkurs in süßes Wissen zu Blindbacken, Schokoladeschmelzen, Schneeschlagen inklusive -unterheben, Dressieren und Nadelprobe. Und schon tauchen wir ein in die Wiener Mehlspeisküche, die lange den Reichen und Adeligen vorbehalten war. Denn Zucker aus Zuckerrohr war ein teures Luxusgut und erst der Zucker aus der Zuckerrübe ab etwa 1850 für jedermann erschwinglich. Rath zeigt in einem Schaubild, was in der Zuckerrübe so alles drin steckt. 4.000 Bauern leben von dieser Rübe, ernten jährlich über 3 Millionen Tonnen, die in Österreich an zwei Standorten – Tulln und Leopoldsdorf – verarbeitet werden. Die Zuckerrübe löste also diesen Hype aus, der bis heute anhält: zuckersüße Köstlichkeiten zum Kaffee, zum Frühstück oder Zwischendurch. Raths Conclusio: Ja, zu viel Zucker ist nicht gesund. Es ist aber auch nicht gesund, jeden Tag fünf Äpfel zu essen. Und wo sie recht hat, hat sie recht. Also, genießen wir es dann mal, wenn wir ein Törterl essen.

Für das erste Kapitel begeben wir uns in die Hofburg. Dort blühen jetzt im April die ersten Taubnesseln. Ihr Standort sind Hecken, Gräben, Wege und Zäune, aber wo bei der Hofburg die Gefleckte Taubnessel wächst, muss wohl jeder selbst herausfinden. Über mehrere Seiten werden der geschichtsträchtige Ort vorgestellt wie auch Biologisches, Kulinarisches und Volkskundliches über Bienensaug, wie die Pflanze auch genannt wird, vermittelt. Wie süß, diese Feenschuhe und wie wunderbar der Schokokuchen, der Taubnesselblätter und -blüten enthält. Der saftige Taubnessel-Schokokuchen ist außerdem glutenfrei. Die Taubnessel-Crème Caramel ist vorgemerkt für ein Geburtstagspicknick im frühlingshaften Prater. Und die Taubnessel-Power Balls werden demnächst ausprobiert, dann, wenn viele Pflanzen ihre violette Blütenpracht freizügig präsentieren. Sie sind ein Eyecatcher, verleihen Desserts einen Hauch des Zaubers. 

Die wohl meist verwendete Blüte in der Küche stammt vom Holunder. Eine vielseitige Pflanze. Selbst Zauberer sind von ihm abhängig, so ist der Zauberstab des Schuldirektors Dumbledore in Harry Potter aus Holunderholz. In Ottakring, im 16. Bezirk rund um die Kuffner-Sternwarte sollte buschweise Holler wachsen. Die zu finden braucht es kein Fernglas, auch nicht wer den Himmel nach der Göttin Freya absucht, denn Freya bevorzugt den Schatten der Holunderstaude. Aus den Blüten mache ich soviel Sirup, dass wir das ganze Jahr damit auskommen. Manchmal verwende ich die Blüten auch zum Dekorieren. Die Idee, Holunderblüten in eine Zabaione hineinzuverarbeiten, finde ich hervorragend und ist im Kalender vorgemerkt, dass ich das ja nicht vergesse. Verfeinert wird die Holunderblüten-Zabaione mit Erdbeeren. Zu den Holunderbeeren hätte ich mir noch ein weiteres Rezept gewünscht, auch wenn das vorgestellte Sorbet außergewöhnlich gut zu schmecken scheint. Jedenfalls vergibt der Fotograf aller Gerichte in diesem Buch, Stefan Mayer, für das Holunderbeeren-Sorbet mindestens drei Sterne. Hier werden 400 g Zucker verbraucht, sehr viel, während in den meisten übrigen Rezepten der Zuckereintrag auffällig zurückhaltend ist.

Im Lustschloss Neugebäude in Simmering ist allein der „Untere Garten“ 17.000 Quadratmeter groß und von schattenspendenden Bäumen flankiert. An den Wegrändern und im Schatten der Bäume sollte hier Frgaria vesca, die Walderdbeere anzutreffen sein, vorausgesetzt, der Boden ist feucht und nährstoffreich. Ab April erblühten sie in fünfblättrigem Weiß, braucht keine Bienen, ist Selbstbefruchter. Aber wir müssen die kleinen süßen Sünden pflücken, um die Mini-Pawlova zu schmücken oder den weltbesten Cocktail zu verarbeiten. Walderdbeer-Margarita und Daiquiri schmeckt auch mit wilden Himbeeren oder Brombeeren. 

Angeregt blättere ich mich durch dieses Koch- und Stadtbuch, um immer wieder einzuhalten, nachzulesen und zu staunen, wieviel an kulinarischem Wildwuchs Wien bereithält. Rath verknüpft gekonnt ökologisches Wissen mit den geschichtsträchtigen Orten der Bundeshauptstadt. Dazu ergänzende Zeichnungen und Fotografien, die den Text in gut verdaubare Lesehappen gliedern. 

SÜSSES WILDES WIEN ist eine Aufforderung, mit offenen Augen und Papiersäckchen in der Tasche die grünen Oasen der Stadt zu durchforsten. Zu 12 ausgewählten Pflanzen finden sich genauere botanische Beschreibungen und Ortsangaben samt potenzieller Verwendungsmöglichkeit. Wer das beherzigt, wird das sich Bewegen in freier Natur und Sammeln grüner Zutaten nicht mehr missen wollen. Alles sehr gesund. Aber erst wenn internationale Backkunst mit allerlei Früchten aus dem „wilden Wien“ eine duftreiche Verbindung eingeht, erst dann ist Wien wieder die Stadt der Zuckerbäcker und die süße Welt in Ordnung. SÜSSES WILDES WIEN ist eine spannende Sache mit Überraschungsmomenten, selbst für die Alteingesessenen.