Andreas Caminada, Pure Leidenschaft

Meine einfache Küche

Texte von Alexander Kühn
Fotografien von Gaudenz Danuser
AT Verlag, Aarau und München, 2019, 216 Seiten, zwei Lesebändchen, 36.-- Euro
ISBN 978-3-03902-028-7
Vorgekostet

Heute reisen wir nach GRAUBÜNDEN.

Ins Bündnerland oder Grigioni (Gridschoni), wie Einheimische ihren Kanton liebevoll nennen. Ja, wir sind in der Schweiz. Auf Spurensuche. Nicht nach Heidi und Alb-Idylle, nicht nach Alphorn- und Jodlerklängen, auch nicht nach der Bündner Nussorte, obwohl sie so verlockend ist. Wir sind auf der Suche nach der genuin eidgenössischen Alpen-Küche, die keine eigene ist, weil das Land über Jahrhunderte umschlossen war von drei großen einflussreichen Kulturen. Im Herzen der Alpen, schreibt Paul Imhof, zwischen Rhein und Rhone, zwischen Inn und Ticino sind sie aufeinander getroffen und steckengeblieben. Vermutlich in Unkenntnis darüber, dass sich auf der anderen Seite des Berges eine andere Mentalität eingenistet hat, haben sich die drei Kulturen in den Tälern der Alpen festgesetzt. Das ist der Grund, warum die Schweiz keine eigene, wohl aber die reichste Küche Westeuropas hat. Das mag stimmen, aber – würde wohl Andreas Caminade einwerfen – … aber die Bündner Küche hat noch etwas mehr. Landschaft, die mit all ihren Elementen prägt und sich einnistete in der Esskultur. Sie ist die Seele des guten Essens wie die Jahreszeiten stets dessen Abbild sind. Und Andreas Caminada ist einer, der sich auf bodenständige, natur- und heimatverbundene Gerichte spezialisiert hat. In Pure Leidenschaft, ein Kochbuch, das im AT Verlag erschienen ist, erschließt er uns seine Bündner Küche, die ohne Knalleffekte auskommt. Es gilt das Optimum herauszuholen, selbst bei bekannten Gerichten wie Capuns, Bündner Gerstensuppe, Maluns etc.. Caminadas Referenz ist der Urgeschmack seiner Bündner Heimat, die Erinnerungen an Dörrbirnen, geräucherten Schinken, braune Butter und Zwiebelschmelze. Sie standen und stehen sinnbildlich für Kargheit, Überlebensnotwendigkeit und regionale Rohstoffe. Deshalb kreiert der Küchenchef von Schloss Schauenstein seine Bündner Küche über Landschaftsbilder. Eine Annäherung, die sich im Inhaltsverzeichnis spiegelt. Da sind Unser alpiner Garten Eden, Berge wohin das Auge reicht, Wege durch Graubünden und in die Fremde, Unter dem Dach des Waldes und Wilde Wasser, sanfte Seen. Sie sind gleichzeitig Hauptkapitel, die noch um zwei weitere Schwerpunkt-Kategorien erweitert werden: Die kleine Region der großen Weine und Im Feuer liegt die Kraft. Den Abschluss bildet Nr. 57, das sind Grundrezepte, die erklären, wie man Bratbutter, Nussbutter, Kalbsjus, Blätterteig, Eingelegte grüne Korianderkörner und Eingelegte Holunderknospen zubereitet.

Caminadas Anspruch ist das Einfache und Handwerkliche der Bündner Küche hervorzuheben, einer exquisiten Küche, die von der Qualität der Naturalien lebt. Die Zutaten sind die Basis. Und hinter diesen stehen Menschen, die viel Zeit und Liebe in ihre Produkte stecken. Auch sie werden vorgestellt. Judith und Albert Nigg dörren Birnen, Maria Meyer und Martin Bienerth sind Käser und stellen aus silofreier Rohmilch zwanzig Käsesorten her. Gion Grischott liefert den feincremigen Frühlingswiesen-Alpenhonig. Auch Bauern, Bäcker und Fischer gesellen sich dazu und garantieren mit ihren Lebensmitteln das hohe kulinarische Niveau. Spitzenküche ist die Summe ihrer Einzelteile und dem Abbild von Persönlichkeiten wie auch landschaftlicher Gegebenheiten. Andreas behandelt alles und alle mit gebotener Achtung und erreicht gastronomische Weltklasse.

Caminadas Kreationen sind sehr sinnlich. Das zeigt sich in den Abbildungen. Die Dörrbirnenravioli schwimmen in seichtem braunen Buttersee wie Inseln, die von kleinen Wolken aus Nussbutterschaum belagert werden. Die Schärfe der Harissa-(Paste) wird scheinbar von marmornem Mörser im Zaum gehalten und das Radieschenbrot mit Senfmayonnaise ist ein Schiff mit unzähligen Radieschensegeln, das auf einem Geschirrtuch gestrandet ist. Es sind kleine Kunstwerke, farbenfroh und von eleganter Leichtigkeit, die meist auf einem Teller angerichtet sind. Ansporn und Herausforderung für alle, die diese Rezepte nachkochen. Aber vorrangig geht es um den Geschmack und dann erst ums Dekorative.

Ausprobiert habe ich die Petersiliengnocchi, die grün wie Spinat im ach so grünen Petersilienpüree dümpeln. Meine Besucher hatten die so schnell ausgelöffelt und nach mehr verlangt, dass ich notgedrungen die für zwei spätere Gäste reservierten Portionen den „Verfressenen“ opfern musste.

Auch an den Capuns kam ich nicht vorbei. Das sind Wickel, in Mangoldblätter eingewickelter Topfen mit kleingeschnittenem Trockenfleisch und Gewürzen. Sie ähneln unseren Krautrouladen. Ein Nationalgericht, das zur Philosophie erhoben wurde, denn fragt man im Gasthaus fünf Ortsansässige nach dem Rezept, so kommt es zunächst zu einer lebhaften Diskussion und dann zu fünf verschiedenen Kochanleitungen. Interessanterweise erlangte der Österreicher Michael Bauer in seinem Dorfwirtshaus nahe Chur mit seinen Capuns einiges Aufsehen. Anerkennend meinen dort die Einheimischen: ‚Ja, so sollten die eigentlich schmecken‘! Caminadas Capuns sind etwas aufwändiger in der Zubereitung, dafür auch eleganter in der Ausgestaltung. Gefallen hat mir auch, dass gehobelter und nicht geriebener Alpkäse darauf verteilt wird. Mangoldröllchen, die mit Nussbutter und klein geschnittenem Schnittlauch phantastisch schmecken.

Ein Gericht, das in Tirol als Kartoffelwirler bezeichnet wird, ist Maluns. Ein traditionelles Bauerngericht, das in der Schweiz 1758 erstmals urkundlich erwähnt wird. Man reibt gekochte Kartoffeln, vermengt sie mit Mehl und röstet die ‚Würmchen‘ in der Pfanne. Dieses Gericht ist so einfach, dass es so gut wie keine Abweichungen gibt, lediglich bei den Zutaten-Mengen haben die Köche unterschiedliche Vorstellungen. Aber einig sind sich alle: Aus Kartoffeln lässt sich nichts Köstlicheres zubereiten als Maluns oder eben Wirler. Dazu Apfelmus und man ist im siebten Himmel. Caminada serviert Maluns auch mit Zwetschgenkompott, eine Variante, die man unbedingt kosten sollte.

Der Autor liebt Eingelegtes. Rezept-Nr. 14 enthüllt Farbtupfer für kalte Tage, gemeint sind eingelegte Radieschen, Schnittlauchblüten, Spargelspitzen, Rosenkohl, Blumenkohl, aber auch Weinblätter. Konserviertes Gemüse, hinter Glas, haltbar gemacht wenn nicht für die Ewigkeit so doch für die nächsten drei bis vier Jahre. Überhaupt scheint Caminada ein Faible fürs Haltbarmachen von Gemüse zu haben. Nr. 5 gibt die Rezeptur für fermentierten Spargelsaft, Nr. 6 eine Flut von Zwiebelvariationen, von Röstzwiebeln bis zur Zwiebelschmelze. Aber auch Obst lässt er in süß-gewürztem Sud einlegen. Für die Sternanis-Birnen ist die Lösung eine b’soffene G’schicht, der Sud aus Weiß- und Portwein. Die Süss-sauren Zwetschgen dagegen baden in Weißweinessig; sie harmonieren wunderbar mit Gegrilltem aber auch mit Speiseeis. Beim Einlegen klotzt Caminada, macht Menge. Da werden Halbliter- und Liter-Einweckgläser gefüllt mit Apfelmus und anderem für die Vorratskammer. Bei Bedarf hervorgeholt, reduzieren sie manchen Kochschritt, bspw. beim Kalbsrahmgulasch, das mit geschmolzenen Zwiebeln – in diesem Fall aus dem Glas – garniert wird.

In vielen Fällen sind Caminadas Gerichte winzige Anhäufungen von aromatischer Sprengkraft. Alpenkräuter und -gräser, die sich in der Milch, im Käse und im Fleisch konzentrieren. Wundert es mich, dass die Fleischgerichte einer bis aufs Äußerste reduzierten Häppchenküche ähnelt? Die essbaren Tupfen auf Keramik gleichen minimalistischen Bildern, schärfen den Genuss für das Wesentliche. Hier tritt Camanidas Koch-Maxime der einfachen Küche augenscheinlich zutage. Ich staunte über die Wirkung des Schweinebauch mit einer BBQ-Creme-Nocke und dem kontrastierenden Hauch eines blassgrünen Petersilienstängels. Auch die Abbildung der Milchlammkeule mit Gremolata verblüfft; hier stimmt einfach alles. Und ich verstehe, dass – so habe ich gelesen -, manche Gäste in Caminadas Schloss-Restaurant zu Tränen gerührt waren über die Schönheit des inszenierten Essens, das aufgetischt wurde.

Auch die Cremeschnitte mit Joghurtglace traf voll meinen Geschmack. Ich genoss die luftige Freiheit von Vanillecreme ohne Glace ganz für mich allein und habe mir vorgenommen, sie beim nächsten großen Familienessen als Nachtisch zu reichen. Die Familie weiß noch nichts von ihrem Glück.

Pure Leidenschaft von Andreas Camanida ist ein großartiges Kochbuch. Mehr noch. Die zwischen den Rezepten eingestreuten doppelseitigen Abbildungen von Menschen, der Berg- und Tierwelt, der Wiesen und Wälder, der Flüsse und Seen Graubündens bringen klar zum Ausdruck, dass diese alle im Kontext der Jahreszeiten mit der Bündner Küche zusammenhängen. Ein wunderschönes Kochbuch, dass zum Blättern, zum Verweilen und sich Vertiefen in die Beschreibungen und Rezepte einlädt. Der Leineneinband in Karminrot, fast sexy mit dem großen Herzen auf der Titelseite, unterstreicht, worauf im Titel hingewiesen wird: Leidenschaft und einfache Küche. Caminada hat ein Gespür für die Natur. Er saugt sie auf und gibt sie veredelt zurück als Graubündner Miniaturwelten. Bei ihm verbünden sich Kultur und das Unbewusste, die Welt des Archaischen zum kulinarischen Genuss. Diese Freude am Suchen, am Experimentieren ist spürbar und ansteckend. Für uns, die Camanidas Rezepte zuhause umsetzen, sind seine Gerichte ein großartiges Erlebnis.