Heute reisen wir nach NEW YORK.
Wo Anthony Bourdain lebte, die Betonung liegt auf der Vergangenheitsform. Bourdain war für viele US-Amerikaner kein angenehmer Zeitgenosse. Aber die Amerikaner sind nicht das, was man eine aufgeschlossene und wertefreie Gesellschaft nennt. Bordain ist bekannt geworden mit seinen Enthüllungsgeschichten über den Restaurantbetrieb. Er provozierte gerne. Sein Buch Kitchen Confidential, auf Deutsch: Geständnisse eine Küchenchefs – Was Sie über Restaurants nie wissen wollten, wurde ein Bestseller, erregte sogar internationales Aufsehen. Bourdain, der Starkoch, kochte unter anderem in der Manhattener Brasserie Les Halles, war Autor und TV-Moderator; ein Ruheloser, der um die Welt jetete und das Abenteuer liebte. Er war besessen von gutem Essen und Trinken und ein bemerkenswerter Geschichtenerzähler. Ein Zerrissener und Suchender. Mit 61 Jahren, während der Dreharbeiten in Frankreich, beging er Selbstmord. Neben Sachbüchern zum Thema Essen verfasste er auch Krimis. Und außerdem ein bemerkenswertes Kochbuch. APPETITES würden prüde Zeitgenossen als wildes Kochbuch einschätzen, rein von der äußeren Erscheinungsform, von der bildhaften Gestaltung. Das Titelbild von Ralph Steadman zeigt einen alles verschlingenden Dämon. Eine wilde Fratze mit weit geöffnetem Maul, das gerade den Autor verschlingt; eine Karrikatur in Gestalt eines kleinen Teufelchens mit heraushängender Zunge, blutrot im Gesicht mit zu Berge stehenden blonden Haaren. Blättert man langsam durch das Buch, stößt man auf weitere verstörende Bilder. Ein auf einer Schuhsohle klebendes Sandwich, ein Wildschweinkopf auf einem Teller vom Autor in Partystimmung präsentiert, eine völlig ausgelaugte Jiu-Jitsu-Kämpferin, Glasnudeln, die über den Tellerrand schwappen, herumliegende Essensreste und Fettflecken … Diese exzesshafte Stimmung gehört zu Anthony wie das Amen zum Gebet. Anthony Bourdain fiebert nach Aufmerksamkeit, er will hinzeigen auf die Banalität des Essens, um Arendt zu strapazieren, dabei ist es nur ein Kochbuch mit Familienrezepten. Hier kehrt ein Wütender sein Innerstes nach außen. Unterstützt wird er dabei von Bobby Fisher, dem Fotografen, dem es gelingt, all diese Stimmungen exzellent einzufangen. Kleine Kunstwerke, arrangiert wie von einem Maler. Es sind die Bilder, die sofort auffallen, noch ehe man ein Rezept gelesen hat. Die umwerfenden Fotos erinnern mich an Arbeiten von Nietsch, Rainer und anderen; eben Abgründiges als Teil unseres Alltags zu inszenieren. Für Bourdain gehört das auch zum Kochalltag. Er lässt Geschmack über Bilder einfließen. Spaghetti, die aus dem Mund auf den Teller tropfen …
Und dann, mich zurücklehnend auf den Text konzentriert, erfahre ich, dass Alle glücklichen Familien einander ähnlich sind, wie Tolstoi es ausdrückte, und ahne, dass hier ein verzweifelter Autor das junge Familienglück zu halten sucht. Und er versucht das mit dem, was er am besten kann, mit Kochen. Der Anlass ist fast banal. Bourdain hat zum Zeitpunkt, als er dieses Kochbuch verfasste, eine 8-jährige Tochter. Ariane und ihre FreundInnen wollen bekocht werden. Der 50-jährige Vater will sich seiner Tochter widmen, ist glücklich, will verlorene Zeit aufholen … und die Menschen um mich herum füttern, wie Anthony einleitend anmerkt. Das ist meine Familie. Und das ist unser Kochbuch. Das sind meine Lieblingsgerichte und die, die ich gerne meiner Familie und meinen Freunden vorsetze. Rezepte, die funktionieren, die über Jahre entwickelt und immer wieder erprobt wurden. Herausgekommen ist ein sehr am amerikanischen Lifestyle orientiertes Kochbuch. In 15 Kapiteln geht es ums Frühstück, Sport, Salate, Suppen, Sandwiches, Party, Hamburger, Pasta, Meeresfrüchte, Geflügel, Thanksgiving, Fleisch, Beilagen, Dessert sowie Fonds, Saucen und Dressings. Wobei er auf Desserts doch scheißt, weil er vielleicht kein Süßer ist und offen bekennt, dass er vom Backen keine Ahnung hat. Deshalb gibt es auch kein Rezept dazu. Und so offeriert er uns bildhaft, was er nach einem guten Essen schätzt. Guten Käse der Königsklasse: Stilton und ein Glas Portwein. Das ist doch mal eine elegante Lösung für ein Dessert-Kapitel ohne Desserts.
Sehr wohl kennt er sich mit Brunch und Frühstück aus. Gibt auch gleich zu verstehen, dass er seine Rühreier nicht wie der große Escoffier mit einer Knoblauchzehe auf den Gabelzinken gesteckt verquirlt. Auch keine Milch oder Sahne, kein Wasser einrührt. Eine Gabel benutzt Bordain allerdings auch, mit der er nur die Eier verschlägt, es soll keine homogene Masse entstehen. Butter in einer Pfanne erhitzen, das Ei hineingießen und mit der Gabel durchheben. Nicht zu kräftig, Sie wollen vorsichtig die Schichten aufeinanderstapeln, während sie garen. Wenn das Rührei fluffig, aber noch immer feucht ist, schnell auf den Teller geben und sofort servieren. Denken Sie daran, dass die Eier auch auf dem Teller noch weitergaren. Ist das nicht eine großartige Beschreibung für so was Einfaches wie Rührei? Souverän, sachlich und ohne untergriffigen Ton. Auch das Omelett lässt er mit einem kleinen persönlichen Scherz hochleben und demonstriert mit Foto, wie er geschickt unter zu Hilfenahme eines Geschirrtuchs die gebratene Eimasse zu einem ordentlichen Halbmond faltet. Und wenn Sie geschickt sind, können Sie zwei Omeletts gleichzeitig zubereiten – mehr vermutlich nicht. Es sei denn, Sie wären wie ich, beendet Anthony den Omelett-Diskurs.
Bourdain hat etwas von der Beat-Generation, etwas Ungestümes, Draufgängerisches und gleichzeitig beschützend Familiäres. Ersteres drückt sich in einigen Fotos aus. Das Sandwich mit Bratwurst und Paprika vertilgt der Autor auf einem Klodeckel sitzend. Den koreanischen Armee-Eintopf Budae Iigae serviert er in einem Stahlhelm. Mit der Tomatensuppe springen wir in Bourdains Kindheit. Er erzählt, wie er in New Jersey in der 3. Klasse von seinen Mitschülern verprügelt wurde und weinend nach Hause lief. Aber seine Mom machte ihm Tomatensuppe und seit damals gibt diese Suppe ihm Trost und Sicherheit. Eine gute Suppe, mit Staudensellerie und Karotten verfeinert. Und wenn einmal meine Kinder oder Enkel Zuspruch suchen, dann werde ich ihnen diese Suppe machen.
Gelegentlich beginnt Anthony zu dozieren, Etwa, wenn es darum geht Eier Benedict richtig zu machen oder was man beim Planen einer Party berücksichtigen muss. Es sind gute, einfache Tipps, die er uns vermittelt. Ich kann mich nicht erinnern, über Benedict-Eier je so umfassende Informationen gelesen zu haben. Das ist zweifellos seine Stärke, das Praktische und Naheliegende beim Kochen nachvollziehbar zu vermitteln, manchmal auch in einem rauen Ton.
Die meisten Rezepte sind Klassiker. Sie sind der gehobenen Klasse als auch Alltagsküche zuzurechnen und von Bourdain verfeinert. Ob Caesar-Salad, Tomatencremesuppe, Gulaschsuppe, Sandwich mit Fleischbällchen, gefüllte Eier mit Kaviar oder Sardellen, Spaghetti alla Bottarga usw., Bourdain gibt quasi ‚seinen Senf‘ dazu, man merkt, dass er in allen Weltküchen zuhause ist. Zum Teil sehr amerikanisiert und sehr Bourdain. So heißt es im Vorspann zum Rosenkohl mit Speck: Vergessen Sie das mit dem Salat an Thanksgiving – Rosenkohl ist das einzige Grünzeug, das Sie auf ihrer Festtafel brauchen. Und zum Safranrisotto merkt Anthony an; und jetzt bitte, bitte, bitte: Ganz egal, ob Sie den Risotto als Vorspeise oder als einziges Gericht machen, überladen Sie ihn nicht mit Zutaten. Waldpilze, Trüffel, grüner Spargel, was auch immer- eins davon reicht. Eh klar, eine gute Prise Safranfäden und wie immer der Rest mit Zwiebel, Carnaroli-Reis, Weißwein, Butter und Parmigiano Reggiano. Fertig ist der einfachste und beste Risotto.
Jedenfalls habe ich eine Liste der Gerichte verfasst, die ich unbedingt noch ausprobieren muss. Dazu gehört Clam Chowder, Ente mit Rotkohl, Robuchon Kartoffelpüree und einige mehr.
APPETITES von Anthony Bourdain ist ein aufmüpfiges, künstlerisches Werk. Im Vordergrund steht die Familie und die meisten Rezepte sind auf sie fokussiert. Von einfachen Gerichten mit nur fünf bis zu aufwendigeren mit 19, 20 Zutaten, wie die Ma-Po-Kutteln mit Schweinefleisch. Gleichzeitig bedient sich Bourdain schamlos an der Weltküche, spannt den Bogen von Portugal bis ins ferne Japan. Bourdain Kochbuch ist ausdrucksstark, poetisch sowohl in den gestellten Szenenfotos als auch in der Sprache. Deftig wie manche Gerichte ist seine ‚Underdog‘-Sprache New Yorks. Nervös und anarchistisch im Ton, wenn es um das soziale Umfeld geht, sachlich und klar in den Rezeptbeschreibungen. Die Co-Autorin Laurie Woolever sprach von der Absicht, ein dysfunktionales Familienkochbuch zu schreiben.
APPETITES ist ein exzellent geschriebenes, wunderbar von Barbara Neeb und Katharina Schmidt ins Deutsche übertragenes Familienkochbuch. Bourdain-Fans werden es lieben, jene, die sich an seiner Sprache stören und die die Bilder abschrecken, sollen sich auf den Kernbereich, die Rezepte konzentrieren. Sie bergen immer wieder kleine Überraschungen, lassen manches Lieblingsrezept in neuem, unkonventionellem Gewand erscheinen. Oder wie im Dessert-Kapitel. Da heißt es: Scheiß doch auf Desserts! Und Bourdain empfiehlt Stilton mit einem guten Glas Portwein dazu.