Heute reisen wir nach HAMBURG.
Vor mehr als 60 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter aus Italien in die Elbestadt. Armut und Arbeitslosigkeit ließen sie in den Norden aufbrechen. Einer von ihnen war Antonio Cotugno, der 1969 im Hamburger Hotel Parkhochhaus als Kellner und an der Bar engagiert wurde. In der Küche verbrachte er oft seine Pausen und schaute in die Töpfe und Pfannen, was da gebrutzelt wurde, lernte dabei auch einige Rezepte. Im Parkhochhaus verkehrten auch viele Künstler, bekannte Größen wie James Last oder Luciano Pavaroti. Sie kamen spät nach den Konzerten ins Hotel, meist wenn die Küche schon geschlossen hatte. Aber sie hatten Hunger und Antonio eine kohldampfbrechende Idee. Mit dem Flambierwagen briet er sensationell gute Filets* mit Champignons und Zwiebeln, beglückte so Ausnahmekünstler wie Placido Domingo, Peter Ustinov und andere. Das Rezept der Rinderfilets für die Künstler nimmt so gesehen schon eine Sonderstellung ein, begründet es doch die Karriere eines Kochs. Antonios Werdegang war nicht geradlinig und hat Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Traum und einigen Wendepunkten. Das Rezept des besagten Lungenbratens für die Künstler ist eingebettet in Antonio Cotugnos Lebensbericht, quasi ein sehr ausführliches Vorwort eines italienischen Kochbuchs. Gutes Essen ist gutes Leben, ist der Titel seiner Memoiren, die nicht ohne seine Rezepte erscheinen durften. Vielleicht ist es auch umgekehrt: keine Rezepte ohne autobiographische Anmerkungen. Jedenfalls schildert Antonio sehr ausführlich seinen Lebensweg, lässt Erinnerungen aus seiner Kindheit aufblitzen, die geprägt waren von dem einfachen italienischen Essen. Die Mutter betrieb im Freibad in Neapel eine Imbissstätte und Klein-Antonio half mit beim Zubereiten von Panzeotti (Kartoffelkroketten) wie auch von Arancini, diese köstlichen sizilianischen Fleischbällchen. Frühe Erfahrungen also für den späteren Meisterkoch. Überhaupt waren Mama Cotugnos und Nonna Luisas telefonische Ratschläge und Kochanleitungen sehr gefragt und von großem Einfluß auf seinen Kochstil. La semplice cucina italiana – die einfache italienische Küche. Sie ist bestimmend für ein Konzept, das in Tonis Restaurant L’Europeo angewandt wird. Keine Speisekarte, denn der Patron stellt das tagesaktuelle Menü am Tisch vor. Es ist zwar irritierend, wenn man erst nachher erfährt, wieviel es kostet, aber es hat sich bewährt. Den großen Lohn, findet Antonio, ernten wir dann, wenn sich die Gäste verabschieden und sagen “Danke. Das war ein schöner Abend.“ Und viele Gäste kamen und kommen ins L’Europeo, weil dort viele Prominente essen, aber alle, weil es dort so gut schmeckt. Und da kommen wir schon zu einer Rätselfrage: Warum haben sie keinen Stern? Die Antwort erfahren Sie später.
Gutes Essen ist gutes Leben gliedert sich in zwei Hauptteile. Im ersten Abschnitt beschreibt er die Gastronomie als sein Leben. Die Auf und Abs, die Erfolge, den Stellenwert der Freunde und Familie bis hin zur Nachfolgeregelung. Es sind unterhaltsame Geschichten eines 70-Jährigen, der viel erlebt hat und viel von seiner Haltung und Einstellung preisgibt. Auch von seinen Kocherfahrungen, die den zweiten Teil – die Rezepte – bestimmen. Hier zeigt sich augenscheinlich die einfache italienische Küche, aufgesplittet in die Komponenten Antipasto e Pasta, Piatto Principale, also Hauptgerichte und Dolci, die man wohl nicht übersetzen muss.
Wenn Toni zum Essen bittet, dann werden traditionell Brot und Oliven auf den Tisch gestellt. Gutes Brot, zum Beispiel Ciabatta, sowie Oliven und Apfelkapern, in Olivenöl und etwas Knoblauch eingelegt, schmecken köstlich, stillen den ersten Hunger und sind Grundlage für den Aperitif oder das erste Glas Wein. So Toni und so wie ich es auch erlebt habe in guten italienischen Trattorias.
Wie schon angedeutet, wurden Antonio seine Kochkünste in die Wiege gelegt, zumindest behauptet er das. Denn er glaubt, in einem Restaurant geboren zu sein, obwohl ihm das seine Mutter nie verriet. Aber der Auberginenauflauf nach Mutterns Rezept ist eine kleine Offenbarung. Einfach und köstlich. Mit wenig Zutaten ein so tolles Gericht zu zaubern, ist Tonis Markenzeichen. Und es gibt viel mehr davon. Das Carpaccio vom Fassona-Rind mit Birne, Sellerie und Parmesan bspw. oder die Pellkartoffeln mit Anchovis, der Linsensalat – sie alle zeichnen sich durch wenige Zutaten aus. Hier ist die Qualität der Produkte wichtig. Die Kalbsleber mit Feigen oder Äpfeln benötigt nur das, was im Titel steht, fertig. Ein Gericht, das ich gerne meinen Eltern zubereitet hätte, die immer auf der Suche nach interessanten Leberspeisen waren. Natürlich sind Cotugnos Gerichte geprägt vom Süden, neapolitanisch angehaucht. Fische und Meeresfrüchte spielen eine große Rolle in seiner Küche. Pulpo in allen erdenklichen Variationen. Mit Tomatenfilets, Oliven, Kapern und Knoblauch schmort die Krake zu jenem mediterranen Gericht, das den Süden verkörpert. Pulpo auf Santa Lucia-Art ist jedenfalls eine gute Einführung in die Meeresküche. Sollten Sie dieses Rezept nachkochen, dann empfiehlt es sich, einen küchenfertigen Oktopus zu kaufen. Antonio Bezugsadressen, die alle in Hamburg angesiedelt sind, finden Sie am Ende des Kochbuchs, inklusive Links und welche Waren die einzelnen Händler anbieten.
Warum Toni kein Anguila Rezept aufnahm, hängt vielleicht mit einer vorherrschenden Ansicht zusammen, die Aal-Gerichte dem Norden Europas zuordnen. Dabei tummeln sich diese Tiere seit Urzeiten im Fluss Sarno und gekocht auf den Tischen der Neapolitaner.
Frisch und saisonal sind die Grundpfeiler in Tonis Küche. Konsequent verfolgt er diese Strategie und der Erfolg gibt ihm recht. Auch der Wohlfühlfaktor spielt in Antonios Berufsleben eine große Rolle. Die Gäste möchten sich aufgenommen fühlen, sie möchten, dass ihre Seele gestreichelt wird. Einmal weil der Gastgeber sie lächelnd empfängt und dann natürlich, weil die Speisen so wunderbar schmecken. Dazu zählen für mich die kleinen Kalbsrouladen, Bocconcini, die zugegebenermaßen etwas aufwändiger sind in der Herstellung. Viele der Rezepte müsste man aufzählen und hervorheben, um die Qualität dieses Kochbuchs der einfachen italienischen Küche zu bestätigen. Hier gilt nur eines: nachkochen und essen, aufkochen und einladen. Und weil wir gefragt haben, warum das L’Europeo keinen Stern hat, so lassen wir uns von Antonio selbst die Antwort geben: weil sie keine Astronauten sind! die Köche. Und auch keine Fotografen, muss ich ergänzen. Die Foodfotos sind leider sehr schwach, teilweise überladen, Lichtreflexionen und alle im Querformat. Letzteres führt in einem hochformatigen Buch zu viel weißer Restfläche und zu einem gestalterischen Prinzip mit begrenztem Charme. Sehr schön dagegen sind die ganzseitigen Schwarzweiß-Fotos, die die Restaurantkultur hinter den Kulissen wiedergeben. Nahaufnahmen des Küchenalltags. Was hier aber vor allem zählt, sind die Rezepte. Köstlich und authentisch – einfach und mediterran, wie selten.
Gutes Essen ist gutes Leben, ist nicht einfach ein Altersweisheiten-Spruch, sondern gelebte Wirklichkeit. Antonio Cotugno, den alle nur Toni nennen, lebt es vor und jeder kann es nachvollziehen, lesend oder mit dem Nachbauen seiner italienischen Rezepte der einfachen Küche, die etwas Besonderes sind.
* Rinderfilets für die Künstler