Heute reisen wir ins BAYRISCHE.
Genauer gesagt ins Frankenland. Das ist der nördlichste Teil des Freistaats. In Würzburg besuchen wir das Restaurant Reisers am Stein an der Peripherie der Stadt gelegen. Nicht weit entfernt fließt der Main gemächlich gegen Westen. Im Restaurant Reisers hat vor allem einer das Sagen: Bernhard Reiser. Auf seiner homepage erfährt man, dass sich Reiser verfünffacht hat (10. April 2020) und ab sofort fünf super schöne Locations bespielt. Nun ja, nicht ganz, denn Reisers Koch- und Grillschule in Dettelbach ist Corona bedingt bis September ausgesetzt. Aber wer ist dieser Reiser, der sich so ins Zeug legt, der tun muss, weil abwarten nicht gerade seine Stärke ist (homepage). Ein erfolgreicher Patron, auf alle Fälle. Ein Teamplayer und Einzelgänger, ein Zerissener und Familienmensch, ein Arbeitstier und vor allem ein Koch. Seine Küchen-Stationen können sich sehen lassen, eine Erfolgsstory, die bis zur Mitarbeit an tragenden Staatsbanketten reicht. Zudem beschäftigt er sich mit aktuellen Ernährungsfragen und diversen Küchentrends wie der klösterlichen, ayurvedischen oder mediterranen. Bernhard Reiser ist ein Tausendsassa und Einfach ganz normal. Das zumindest behauptet und denkt Reiser von sich und legt gleich einen Beweis auf den Tisch. Der Schickimicki Koch, ein Kochbuch der etwas anderen Art. Weil es ein Rückblick ist auf 25 Jahre Koch-Leben, weil es den Blick auf das Private eines Sternekochs nicht verstellt, weil Familienmitglieder, Freunde und Bekannte darin zu Wort kommen, weil hier Reisers köchelnde Vielseitigkeit über die Rezepte sichtbar wird wie auch sein soziales Engagement. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Bernhard Reiser mit diesem Kochbuch, das im Eigenverlag erschienen ist, quasi ein Denkmal setzt, das gleichzeitig Vermächtnis und Zwischenbilanz ist. Aber auch Einfach ganz normal – so heißt es im Untertitel und weiter: So is(s)t DER REISER! Wobei hier auf die Doppeldeutigkeit von ist hingewiesen werden muss, einmal mit einem s und einmal mit Doppel-s. Zum Inhalt. Hier zeigt bereits die Kapiteleinteilung worum es Bernhard Reiser geht. Denn da wechseln sich Rezeptblöcke mit Gastbeiträgen unterschiedlichster Qualität ab, die vom Interview bis zur Lobeshymne reichen und Selbstverfasstem über Basics wie Fleisch, Brot, Gesundheit u.a. Am Anfang aber präsentiert Bernhard Reiser sich selbst. Er, der nicht Fussballprofi oder Akademiker wurde, traf mit seiner Kochlehre nicht den Berufswunsch seines Vaters. Prägend für ihn waren der Kreislerladen seiner Oma, wo er als Jugendlicher mithelfen durfte. Wie auch die Metzgerei in unmittelbarer Nachbarschaft. Dort wurde wurde ganz traditionell geschlachtet und – für ihn unvergesslich – durfte er mit nackten Armen das Blut rühren, damit es nicht gerinnt. Hier scheint sich sein Motto zu bewahrheiten: um echtes Glück zu empfinden, muss man wissen, dass man alles gegeben hat.
Und so steigen wir ein in Reisers Hall of Cooking, dürfen wir ihn privat kennenlernen. Da geht es um das Tellerglück in den eigenen vier Wänden, abgekoppelt vom Berufsalltag. Es sind einfache, schnelle Gerichte, mit frischen Kräutern und Gemüse wie auch Eintöpfe und Pasten, die private Glücksmomente bescheren. Konkreter: Kochkäse mit frischem Schwarzbrot, Allgäuer Käsespätzle, Hühnerleber mit Artischocken, Angemachter Parmesan mit Tomate und Rucola, Zitronenhühnchen mit Bohnen, Kartoffelbaunzen; aber auch die Crostata di Limone, nach einem Rezept von Tante Rosa, die in der Provincia autonoma di Trento lebt. Reiser spannt den kulinarischen Bogen von Bayern über die Alpen bis nach Oberitalien, wobei hier mediterrane und levantinische Einflüsse in Form von Reis, Pulpo und anderem sichtbar werden. Natürlich darf aber auch die deutsche Oma mit ihrem Kirschkuchen mit Mandelstreuseln nicht fehlen. Und was für eine Überraschung, es gibt auch Scheiterhaufen, der nicht mit altbackenem Weißbrot sondern mit Zwieback ausgelegt ist. Ein Gericht, das zudem sehr schön regionale Ausformungen demonstriert. Reiser mischt der Apfelmasse gehobelte Mandeln bei, im Weinviertel sind es nur Rosinen und in unseren alpinen Breitengraden beides, mit lokalen Besonderheiten, etwa wenn sich eine Schicht Topfen, das heißt, Quark zwischen Äpfel und Brot schummelt.
Dem Kapitel des privaten Reiser folgen einige Seiten des Rückblicks auf 25 Jahre Kochen – ein Fotoalbum.
Ein eigenes Kapitel widmet er seinen Kochlehrlingen, setzt sich mit ihrem Werdegang intensiv auseinander. Da werden gar sozial-philosophische Fragen angerissen: Welchen Stellenwert haben Köche in unserer Gesellschaft? Werden die Qualitäten eines guten Kochs, einer guten Köchin wertgeschätzt? Für Reiser sind es Fragen, die nicht eindeutig zu beantworten sind. Dennoch ist seine Einstellung klar und eindeutig für eine gute Ausbildung zum Koch-Handwerk. Er vermittelt seinen Azubis Respekt und Wissen. Die Qualität der Zutaten und das kulinarische Feingefühl für die Gäste haben oberste Priorität. Mit der Nahrungszubereitung werden Genussmomente erschaffen. Deshalb darf der Nachwuchs für einen kompletten Montag-Abend alleine das Menü konzipieren und umsetzen, vom Einkauf bis zum Anrichten. Im Kapitel Easy Monday beweisen die Jungköche ihr Können. Da werden Hechtklößchen mit grünem Spargel, knusprigen Kartoffelwürfeln und Silvanerdip oder Kalbsroulade mit Bergkäse, Spinat und Kartoffelpüree oder Birne Helene aufgetischt – Beweise höchsten Niveaus.
Reiser geht seinen Weg konsequent. Er brennt fürs Kochen, wie Schauspieler fürs Theater. Daher ist seine Motivation nicht unbedingt das Greifen nach Sternen, sondern die Verankerung mit dem Bodenständigen, die Qualität aus der Region. Und so verbündet er sich mit Gleichgesinnten, die ebenfalls wahre Meister ihres Faches sind. Norbert Langer, der Dexter Rinder züchtet, ist sein Fleischlieferant. Mit den Winzern Ludwig und Sandra Knoll verbinden ihn die bacchiantischen Genüsse. Zudem ist das Restaurant Reiser am Stein im Familienweingut Knoll etabliert. Kein Buschenschank, sondern gehobene Gastronomie mit guten Frankenweinen, die direkt vor der Haustür angebaut werden. Zur engen Kochfamilie gesellen sich noch Bäcker Florian Weiler, die Ärztin Claudia Löffler, die Kochen als Therapie einbringt, vereinfacht gesagt: einmal am Tag muss ein frisch gekochtes Essen auf den Tisch. Ob das Kalbsleber mit Zwiebel-Lauchsalat und Haselnuss oder eine Hühnersuppe oder ein Pulpo mit Algen-Sprossensalat und Limettensabayon oder ein deftiger Kaiserschmarrn mit weißem Ketchup ist, das muss jede, jeder selbst entscheiden. Der Kaiserschmarrn bleibt sich in seiner Grundaus- stattung treu, lediglich die weiteren Zutaten überraschen. Da sind Champignons, Lauch, Strauchtomaten, Apfelsaft und Schmand hinein verarbeitet und meine Kinder staunten, als sie ihn verkosteten. Meinem dreijährigen Enkel Jakob servierte ich das süße Fondue mit Hefezopf und Vanillesoße und bescherte allen Anwesenden eine gefühlte halbe Stunde verdächtige Ruhe. Lediglich das leise Schmatzen von Opa Bernhard und Enkel Jakob zeugte vom Hunger stillenden Glück an diesem Mittag. Ja, es gibt auch ein Kapitel für Kinder. Quasi Kampfansage gegen die Lebensmittelindustrie mit ihren Fertiggerichten. Dagegen halten mit Rezepten für frisch gekochtes Essen mit der Familie, vor allem für Kinder und Kind gewordenen Großeltern. Es gäbe noch vieles zu berichten. Von Silia, der Frau an Bernhards Seite, von Onkel Max, von weiteren Familienmitgliedern und Zulieferern wie die Landmetzgerei Hollerbach. Dazwischen Kochanleitungen die von einfach bis kompliziert von Hausmannskost bis zur Sterneküche reichen.
Dass etwas weniger mehr sein kann, zeigt Reiser wunderbar im Abschnitt Sterneküche. Da formieren sich geräucherter Saibling oder Kalbsfilet im Strudelteig oder Kaninchenravioli samt Beilagen zu kunstvollen, farbenfrohen Arrangements, die trotz der Fülle an Zutaten eine überschaubare Entschiedenheit nicht verlieren. Besonders beeindruckt hat mich der Toast Hawai mit einem breiten Saturnring aus Granatapfelkernen, ein Nachtisch dessen Aromen lange nachklingen.
Bernhard Reisers Der Schickimicki Koch ist ein sehr privates und ein sehr kommerzielles Kochbuch in einem. Ein Widerspruch könnte man glauben, sowie auch der Titel, der das Gegenteilige ausdrücken soll. Reiser ist kein Schickimicki-Koch und gleichzeitig ist er einer. Er ist eine Rampensau und hält sich zurück, wenn andere sich gastronomisch beweisen sollen. In der äußeren Gestaltung einfach schön. Zwei Pappdeckel mit leuchtend roter Schrift umfassen den Innenteil und eine offene Fadenheftung verhindert, dass die Blätter mit den Geschichten und den 60 Rezepten davonfliegen. Der Text stammt überwiegend von Kerstin Böhning die so sehr plastisch einen ambitionierten Schickimicki Koch zeichnet. Stefan Bausewein hat das Drum herum gekonnt fotografisch in Szene gesetzt, sodass wir von den Beteiligten wie auch von den Speisen eine klare Vorstellung haben. Leider finde ich die Gestaltung nicht so gelungen, mancherorts zu überladen, zu unruhig. Das dürfte aber auch der thematischen Vielfalt geschuldet sein, dem Versuch der allumfassenden Vorstellung eines Meisterkochs. Mit oranger Hintergrundfarbe setzten sich jeweils die ersten zwei Seiten eines Kapitels von den übrigen ab, verleihen dem Werk so eine sichtbare Struktur. Manche Kapitelüberschriften sind durch Motti ersetzt, die verblüffende Überlegungen wiedergeben. Bspw. heißt es da, Regionalität ist Augenwischerei, und führt mit einem einfachen Rechenbeispiel die Unmöglichkeit von flächendeckender regionaler Produktion von Filets vor. Hier plädiert der Autor für Vertrauen auf die traditionellen Handelspartner, was o.k. ist, und stellt gleichzeitig seine ausführlich vor, was nahe einer Werbung kommt.
Trotz aller kleinen Einwände: Bernhard Reisers Gerichte sind immer wieder originell, überraschend in ihrer Zusammensetzung. Was will man mehr? Der Schickimicki Koch ist online über www.der-reiser.de zu bestellen.