Heute reisen wir in die SCHWEIZ.
Wer die Schweiz zu kennen glaubt, weiß, dieses Land ist eigen. Das beginnt mit der Geschichte des Bundesstaates, seinen Kantonen, führt über ihr Verständnis von Rechtsstaatlichkeit hin zu den politischen Figuren, die weit rechts stehen, und weiter zu vier gleichberechtigten Sprachen oder zur Abschottung von der EU und endet bei großartigen Landschaften und ihren Menschen. Menschen, die überzeugt sind von demokratischen Grundwerten wie Freiheit, Vielfalt, Toleranz etc. Salopp ausgedrückt trifft wohl small is beautiful am ehesten für diesen Staat zu. Dass sich das sprachlich im Schwyzerdütsch und mitunter im Küchenjargon niederschlägt, sei unbestritten. Da sind bspw. die Guetzli, die Nüssli und die Tätschli, die die Kleinheit auf den Punkt bringen. Aber die Schweiz auf das zu begrenzen wäre falsch. Die Schweiz ist auch reich, nicht nur an Banken. Sie ist reich an kulinarischen Köstlichkeiten, die zu entdecken sind, wenn man Augen und Nase offen hält. Dann stößt man auf Rösti, Fondue, Älplermagronen, Capuns, Aufläufe, Gratins, Wähen, Rüeblitorte, Merängge und einiges mehr. Mit einem guten Führer sind sie aufzuspüren. Carlo Bernasconi war so ein potenter Kerl, ein Journalist und Koch, der in Zürich das Restaurant „Heimelig Cucina e Libri“ führte und zahlreiche Kochbücher und Restaurantführer verfasste. Nun ist sein letztes Kochbuch, Helvetia Vegetaria im AT Verlag erschienen.
Im Vorwort streicht Dominik Flammer heraus, dass die Schweiz, die mehr Rinder- und Ziegenrassen kennt als alle Nachbarn, ausschließlich vegetarische Gerichte zu internationalem Ruhm brachte. Man will es kaum glauben. An erster Stelle sind es vor allem zwei, das Kartoffelrösti und das Bircher-Müesli, die seit Jahrzehnten um die Vormachtstellung rittern. Dass die Schweiz so vegetarisch geprägt ist, hängt auch mit religiösen Zwängen zusammen. Noch bis in die Neuzeit hinein gab es rund 150 Fasttage im Jahr. Allerdings war es vor allem die wirtschaftliche Not, die die Schweizer Bevölkerung veranlasste, jeden Flecken landwirtschaftlich auszunutzen, um Grünzeug für die Küche zu produzieren. Flammer skizziert mit wenigen Sätzen sehr schön, wie sich dieser Zwerg in der Mitte Europas zu einem führenden Vegetarierland entwickeln konnte. Und es ist wohl der unermüdlichen Neugier Carlo Bernasconis zu verdanken, dass eine vegetarische Schweiz sichtbar wird, die man so nicht kennt. Mit seinem Kochbuch legt er die vegetarische Seele, archaische Strukturen frei. Da geht es um traditionell überlieferte Rezepte, an die 150 an der Zahl. Aufgeteilt auf sieben Regionen, die gleichzeitig die Kapitel darstellen. Sie beginnen in der Westschweiz, gehen dann in den Nordwesten und weiter ins Mittelland mit Bern und Zürich als geographische Eckpfeiler. Nun folgen die Zentral-, die Ost- sowie die Südostschweiz mit Alpenbogen und enden in der Südschweiz, in den Bündner Tälern und im Tessin. Jedes Kapitel beginnt mit einem doppelseitigen Landschaftsbild, einer kulinarischen Einführung von Carlo Bernasconi und einer wunderbaren Zeichnung eines Gemüses oder eines Obstes, das diese Region kennzeichnet. Kardy, ein Blattstielgemüse, das der Artischocke ähnelt, steht für Graubünden, Grünkohl für die Westschweiz, Mangold für das südöstliche Graubünden und die Kirschen für die zentralen Gebiete Luzern, Zug und Schwyz, um vier aufzuzählen. Natürlich tauchen diese Produkte dann auch in den nachfolgenden Rezepten auf. Einige der Käse- und Gemüsesorten bleiben lokale Schmankerln, wie der Friburger Vicheron oder der erwähnte Kardy – sie tragen zur kulinarischen Vielfalt bei. Die meisten fanden Eingang in die Küchen der Schweizer.
Warum die Westschweiz gegenüber den anderen Regionen rezeptmäßig bevorzugt und die Zentralschweiz benachteiligt wird, lässt sich nicht eruieren. Bereits beim Durchblättern und Reinschmökern wird klar, dass die vorgestellten Gerichte nicht in das konventionelle Kochbuchschema passen. Das trifft für den Westschweizer Teil vielleicht noch mehr zu als für die anderen Regionen. In der Romandie, der französischsprachigen Schweiz, kommen Gemüsesorten vor, die im übrigen Land wenig bekannt sind und wahrscheinlich noch weniger in der restlichen Welt. Karden oder Kardy ist ein Gemüse, das der Selleriestaude ähnelt. Das bis zu zweieinhalb Meter hoch wachsende bittere Blattstielgemüse erinnert geschmacklich an Artischocken. In Genf oder auf einem der Märkte im Kanton Waadt kann man diesen Korbblütler kaufen, um damit ein interessantes mit Greyezer überbackenes Ofengericht zu zaubern. Das Karden-Gratin kommt im Kanton Genf vielfach zu Weihnachten auf den Tisch mit Büschelbirnen zum Nachtisch. Insgesamt werden im Kapitel Westschweiz 40 spannende Gerichte vorgestellt. Da läuft einem schon beim Lesen der Titel das Wasser im Munde zusammen: Gefüllte Artischocken Waadtländer Malakoffs, Tomatenfondue, Freiburger Käsekuchen, Cholera usw. Wie kann man ein Gericht bloß Cholera nennen, frage ich mich. Und lese als Erklärung, dass der gedeckte Lauch-Kartoffel-Kuchen im Wallis zu Zeiten der Cholera kreiert und nur mit Zutaten, die alle Walliser zuhause hatten, gebacken wurde. Es ging also darum, mit der Cholera nicht in Berührung zu kommen. Das und andere historische, biologische und soziale Zusammenhänge erfährt man aus kurzen Absätzen, die vielen Rezepten beigestellt sind. So ist die Kappeler Milchsuppe für den Frieden zwischen den Zürichern und Innerschweizern, die 1529 im ersten Kappelerkrieg aneinandergeraten waren, verantwortlich. Gemeinsam löffelten sie die Suppe aus. Dass der Frieden nicht lange hielt, ist nicht der Suppe anzulasten. Diese kleinen Querverweise sind wie Farbtupfer, die viele unbekannte, liebenswürdige Seiten unseres Nachbarn aufdecken.
Von den Gerichten habe ich auch einiges ausprobiert. Die Kappeler Milchsuppe, die, nachdem ich meinen Gästen die historische Bedeutung der Suppe erklärt habe, zur aha-Suppe wurde. Das Berner Rösti musste ich versuchsweise zweimal nachkochen, mit je unterschiedlichen Kartoffelsorten. Peter Schärer, Küchenchef der Kronenhalle in Zürich, bereitet die Rösti jeweils à la minute in der Pfanne zu und zwar mit Bratbutter, d.h. Butterschmalz oder Ghee. Die Rösti haben so und anders zubereitet sehr gut geschmeckt, ohne dass ich einen großartigen geschmacklichen Unterschied bemerkte.
Spannend finde ich die Chäs-Chuttle, ein Gericht, das mit Käse-Kutteln zu übersetzen ist, also Innereien auf vegetarischer Basis. Aber über dieses Rezept können Sie sich selbst ihre Meinung bilden, weil ich es Ihnen gerne verrate.
Helvetia Vegetaria ist ein besonderes Kochbuch. Sehr schön gemacht, mit stimmigen Illustrationen, die hohes Können voraussetzen. Unter den zahlreichen bäuerlich geprägten vegetarischen Gerichten sind viele Entdeckungen und Überraschungen, die meine kulinarischen Sinne jubeln ließen. Bernasconi wusste um den reichhaltigen traditionellen Schatz der Schweizer Küche und hielt es wie der Tessiner Arzt Luigi Franconi: Die Gesundheit erhalte sich der Mensch in erster Linie durch gutes und vernünftiges Essen. Dazu trägt Helvetia Vegetaria mit Sicherheit bei.