Heute reisen wir ans SCHWARZE MEER.
Vom Weltraum aus betrachtet, sieht das Schwarze Meer wie ein leicht deformierter Rochen aus. Ein Oval mit Schwanz, das Asowsche Meer, in das sich die Wolga ergießt, eine lange, biegsame Nadel, die tief ins russische Reich eindringt. Das Schwarze Meer ist eine Einheit, trennt Europa und Asien. Der große russische Lyriker Ossip Mandelstam (1915) schrieb
Das Meer, das schwarz beredte, an dieses Ufer schlägt es,
zu Häupten hör ichs tosen, es fand den Weg hierher.
Pontos Axeinos, ‚Das ungastliche Meer‘, nannten es die alten Griechen, um später – kaum gründeten sie vor 2700 Jahren an dessen Ufer Kolonien – es umzubenennen in ‚Das gastliche Meer‘ Pontos Euxeinos. Als Marco Polo im 13. Jahrhundert ‚Das große Meer‘ auf dem Weg nach China überquerte, war es längst ein vielfrequentierter Abschnitt der Handelsroute. In seinem Reisebericht sieht er davon ab, „darüber zu berichten, denn es erscheint mir ermüdend, etwas noch einmal zu erzählen … Denn es gibt so viele, die diese Gewässer erforschen und jeden Tag darauf segeln – Venezianer, Genuesen, Pisaner und viele andere, die ständig diese Reise unternehmen -, dass alle wissen, was sich dort findet.“ (Die wunderbaren Reisen des Marco Polo) Allerdings blieb Marco Polo recht allein mit dieser Meinung. Denn unzählig sind die Erkundungen und Beschreibungen des unbekanntesten Meeres Europas, das lange Zeit für Westeuropäer unzugänglich war. Die norwegische Journalistin Erika Fatland bereiste erst vor Kurzem den russischen und ukrainischen Küstenabschnitt und stellte fest: „Heute wird das Meer in den meisten Sprachen als Schwarzes Meer bezeichnet, obwohl das Wasser auch nicht schwärzer ist als anderswo.“ (Erika Fatland, Die Grenze) Und Caroline Eden, eine englische Autorin, die sich 2013 auf dem Weg nach Usbekistan befand, erfuhr in der Türkei ihr Schlüsselerlebnis, als der Bus nahe der Stadt Samsun beinahe verunglückte. Denn kaum dass der Reisebus wieder ruhig lief, erblickte Caroline zum ersten Mal das Schwarze Meer. Da zückten die Passagiere ihre Kameras, gaben sich nach dem Beinaheunfall der „beruhigenden Kraft des Meeres hin. Das Heben und Senken der Wellen am Horizont, so weit das Auge reichte, entspannte die Nerven und hob die Stimmung. Die Rotation der Räder intensivierte den Drift der Wellen noch.“ Sie war fortan gefangen von der „fast spirituellen Wucht und Stärke“ der blaugrauen Wogen, sodass sich in ihr eine regelrechte Schwarzmeer-Obsession entwickelte. Das ist gut so, denn sonst gäbe es nicht Schwarzes Meer, ein Reise- und Kochbuch, das eben im Prestel Verlag auf deutsch erschienen ist.
Der schwarz-blaue Einband mit stilisierten Wellenbergen und -tälern zieht an, hat Sogwirkung. Eine Andeutung, dass dahinter und an den Küsten des Schwarzen Meeres viel Verborgenes und Unbekanntes liegt. Deswegen ist die Kulturjournalistin Caroline Eden aufgebrochen und, um den Schleier von der Geschichte, den Menschen und den Landschaften des Schwarzen Meeres zu ziehen. Dabei geht es ihr auch und vor allem um kulinarische Traditionen, welchen sie nachspürt, die sie beschreibt und mit vielen wunderbaren Rezepten präsentiert. Sehr kurzweilig erzählt die Autorin vom Leben in ausgewählten Regionen der Schwarzmeerküste und hebt thematisch drei Stadtregionen noch extra hervor. Das sind geschichtsträchtige und poetische Hotspots. Quasi Standpunkte eines Dreibeins, das den Kessel Schwarzes Meer hält. An seinen Ufern loderten unzählige Feuer jener Völker, die die Essgewohnheiten der Anrainerstaaten mitprägten. Während Odessa und Trabzon direkt am Schwarzen Meer liegen, befindet sich Istanbul rund 20 Kilometer westlich, das am Bosporus über den Abfluss des Schwarzmeer-Wassers in das Mittelmeer wacht.
„Die Hälfte der Leute, denen man in Istanbul begegnet, kommt aus der Schwarzmeer-Region“, lässt der Chef einer türkischen Nachrichtenagentur bei einem Teller Mezze Caroline wissen. Edens Reise beginnt allerdings in Odessa. Vor rund 200 Jahren wurde diese Perle an der Schwarzmeerküste in der weiten ukrainischen Steppe aus dem Boden gestampft. Heute ist sie eine Hafenstadt mit europäischem Flair, bestaunenswerten Katakomben und einem prunkvollen Opernhaus sowie der Potemkinschen Treppe. Jener Ort, wo Sergej Eisenstein in seinem Film ‚Panzerkreuzer Potemkin‘ die russische Revolution beginnen lässt. In Odessa weilte Puschkin im Exil, schleckte Tschechov genüsslich das Eis italienischer Immigranten und begibt sich die Autorin auf kulinarische Entdeckungsreise in die Sofievskaya Straße. Dort trifft sie Tatiana, die Besitzerin des Sophie Cafés. „Odessanisches Essen“ erklärt sie, „ist wie ein Kompott aus gemischten Früchten“. Neben Muscheln und Borschtsch sind Zimmes und Vorschmack in der Küche dieser Region fest verankert. Die beiden Letztgenannten belegen mit ihren Namen ihre jüdische Herkunft. Süßes Zimmes bedeutet ‚großes Getue‘ und wird oft während der Neujahrsfeiern, Rosch ha-Schana, serviert. Jene, die dieses Gericht nicht kennen, sind meist erstaunt, dass sich hinter dem vermeintlichen Aufruhr ein schmackhafter Auflauf aus Karotten, Kürbis, Pastinaken, getrockneten Aprikosen und Pflaumen versteckt. Die in Scheiben geschnittenen Karotten symbolisieren Münzen und damit Hoffnung auf Wohlstand. Zudem steckt in den Karotten oder Möhren das jüdische meren, das fruchtbar bedeutet. Auch Kinder mögen dieses kunterbunte Gericht aus Trockenfrüchten und Gemüse. Vorschmack stammt auch aus dem Jiddischen, das zum Vorgeschmack in der deutschen Sprache wurde, in ganz Russland aber eine sehr beliebte Vorspeise ist. Die Hauptzutat ist der Hering und nach einer Meinungsumfrage der Lieblingsfisch der Russen. Zwei Rezepte finden sich in Carolines Kochbuch: Vorschmack auf feurige Art ist ein Heringsaufstrich aus der aschkenasischen Küche, die durchaus einen Spritzer Tabasko verträgt. Ich sage nur Neujahr und Katerstimmung. Der Vorschmack auf knackige Art ist ein mit Äpfeln und Eiern und Radieschen getunter Salat, zu dem Challah mit schwarzem Sesam hervorragend schmeckt. Diesen geflochtenen Brotzopf entdeckte Caroline erstaunlicherweise im Bernadazzi, einem italienischen Restaurant in Odessa.
Gogols Novelle ‚Die Nase‘ spielt zwar in St. Petersburg, aber der Autor, der vor dem feuchten Klima Moskaus und Piters flüchtete, schrieb in Odessa dieses wie auch andere Werke. Die Stadt ist für ihn ein literarischer Kurort und die Kulinarik ein schriftstellerisches Vehikel für ehrgeizige Themen, wie Caroline betont. Ausführlich beschreibt Gogol das ukrainische Landleben in ‚Gutsbesitzer aus alter Zeit’. Der Magen war für den Schriftsteller „das edelste Organ“ und die Nase, ja, die Nase ist die Heroine für den Bauch, dem Held der Gogolschen Geschichten, wie Vladimir Nabokov betonte. In ‚Die toten Seelen‘ endet die Schlemmerei mit ungewöhnlichem eingelegten Gemüse. Der ungehobelte Gutsbesitzer Sobakewitsch lässt sich Schwarzen Rettich mit Honig-Karotten schmecken. Allen, die süßlich-scharfe Geschmacksexplosionen lieben, wird dieser Salat schmecken und sie werden beim Verzehr den ‚Unsympathler‘ Sobakewitsch sofort vergessen. Gogols marinierte Pilze ist eine Anlehnung an eingelegtes Gemüse auf türkische Art. Die marinierten ‚Hüte‘ eignen sich wunderbar als Vorspeise. Ich servierte sie meinen Gästen, ehe ich sie mit zwei Istanbuler Börek-Gerichten überraschte. Einmal Laz Börek, ein gesüßter Strudel mit pfeffriger Note und dann Schwarzmeer-Börek mit Gemüse und Reis. Börek oder Pita gibt es überall im ehemaligen Osmanischen Reich: gefüllte Yuka- oder Filoteigblätter, im Ofen gebacken oder frittiert. Ihren Ursprung haben diese Pasteten oder Krapfen in Griechenland und am Balkan. (Gabi Kopp, Mezze) Es gibt unzählige Formen und Füllungen, deren Zutaten Weißkäse, Hackfleisch, Kartoffeln, Brennnesseln, Spinat und anderes Gemüse sind. In unserem Fall wurde der Laz Börek wie ein Strudel geformt, die andere Variante wie eine Lasagne in einer großen Auflaufform und dann in 4×4 cm große Quadrate geschnitten. Beide wurden als Hauptspeise heiß aufgetragen, können aber auch als Zwischenmahlzeit warm wie auch kalt gegessen werden. Besonders gut geschmeckt hat allen der Schwarzmeer-Börek, dessen Aromaspektrum aus Basmatireis, Sultaninen, Pinienkernen, Feta und Mangold unter Yufkablättern verborgen war.
Die Türkei nimmt geographisch den größten Anteil in diesem Schwarzmeer-Kochbuch ein. Von Istanbul ausgehend, fährt die Autorin zunächst die Küste entlang in Richtung Osten. Ziel ist Safranbolu, die Stadt des Safran. Auf dem Weg dorthin verzehrte Caroline ein Brot mit Tomatenaufstrich à la Busbahnhof; allein diese Benennung lässt aufhorchen und will genauer betrachtet werden. Einfach herzustellen und pflegeleicht fühlt sich dieser Frühstücksaufstrich auf diversen Brotsorten, Kräckern, Challah aber auch Maisbrot mit Parmesan und Kräutern wohl. Er presst uns Morgenfrische in die noch müden Glieder. Ein wunderbarer Muntermacher. In der Altstadt von Safranbolu entdeckte Caroline auch die Weiße Zwiebelsuppe. Eine christliche Vorspeise, die in byzantinischer Zeit ‚heilige Suppe‘ genannt wurde. Diese sämige Reissuppe mit Milch, Schalotten und Thymian schmeckt so ganz anders als die französische Zwiebelsuppe. Levantinisch beeinflusst dagegen scheint der Tante-Emma-Laden-Pilaw, der ursprünglich mit Einkorn zubereitet wurde. Caroline hat dieses ‚One-Pot‘-Gericht etwas modifiziert und den Vorläufer des Dinkels durch grobkörniges Bulgur ersetzt. Pilaw ist eigentlich ein orientalisches Reisgericht, das auch mit anderen Körnern funktioniert. Ein wohlschmeckendes einfaches Gericht, das im Handumdrehen fertig ist. Klassisch und von lockerer, körniger Struktur ist der Feldfront-Pilaw mit auf dem Reis verteilten Schmorfleisch und quergelegter Zimtstange.
Apropos Zimtstange. Das erinnert natürlich an ein beliebtes Dessert – Milchreis – und ließ mich sofort nach einem Schwarzmeer-Rezept suchen. Im Register wurde unter Milchreis weiterverwiesen auf Yayla Sütlaç, was in etwa mit Hochalm Milchreis zu übersetzen ist. Edens Rezept weicht vom populären türkischen Milchreis geringfügig ab. Sie aromatisiert mit Vanillezucker und ergänzt die Milch mit extrafetter Sahne, die das Ganze besonders cremig werden lässt. Mit Rohrzucker bestreut noch schnell unter den Backofengrill – zwecks Karamell-Bräune – und fast ist das Werk vollendet. Jetzt kommt das i-Tüpfelchen! Mit Zimt und gerösteten, gehackten Haselnüssen bestreut, lässt dieser Alm-Sütlaç aus der osttürkischen Schwarzmeerregion das Herz eines jeden Milchreisfans vor Freude tanzen.
Schwarzes Meer von Caroline Eden, das im Prestel Verlag erschienen ist, öffnet ein Fenster auf eine geographische Region, die vom Rest der Welt kaum wahrgenommen wird. Jalta Konferenz, Krimkrise, Goldenes Vlies, Seidenstraße, Haselnüsse sind die Schlagworte, die uns zu diesem Binnenmeer vielleicht einfallen. Aber mehr? Interessanterweise wurde mir erst nach der Lektüre von Edens Reise-Kochbuch wieder richtig bewusst, dass hier am Schwarzen Meer wie auch im nördlichen Mittelmeer es die Griechen waren, die die Küsten besiedelten bzw. Handel trieben und wohl auch mit ihren Essgewohnheiten die regionalen Ethnien beeinflussten. Und, dass sich daraus lokal ganz unterschiedliche Esstraditionen entwickelten, das beweisen die vielen Rezepte. Genau genommen 60, die in kurzweiligen und amüsanten Reisebeschreibungen eingebettet sind. Die Autorin übernimmt Anleihen und Zitate vieler Kulturschaffender, Literaten und historischer Persönlichkeiten, die am Schwarzen Meer verankert sind. Idealerweise – so der Wunsch der Autorin – sollte dieses Reisebuch vom Anfang bis zum Ende gelesen werden. Hier sollte noch eingeflochten werden, dass Eden den nordöstlichen Schwarzmeer-Abschnitt, das sind Russland und Georgien, ausklammerte. Der Rest, das sind immerhin die Küsten der Ukraine, Rumäniens, Bulgariens und der Türkei, lässt uns staunen über das riesige Potenzial an Kultur und Kulinarik. Wer sich darauf einlässt, wird ein unbekanntes Territorium entdecken – lesend und kochend. Atmosphärisch dicht sind die Fotografien von Menschen in ihrem Umfeld, von architektonischen und anderen Details, von aufgetischtem Essen und Vorräten in Regalen. Im Kontext mit den literarischen Schilderungen lassen sie dieses Reise- und Kochbuch zu einem kurzweiligen Vergnügen werden. Allerdings werden Sie erst nach dem Nachkochen der Rezepte das Schwarze Meer und seine Esskulturen mit allen Sinnen erfahren haben.