Heute geht es ums Essen im Norden LONDONS.
Das stimmt zwar nur eingeschränkt, denn eigentlich geht es ums Essen aus dem Chriskitch, einem Lokal in der Hauptstadt Großbritaniens, das Gastrokritiker in den Himmel loben und Begeisterungsstürme wie in einem englischen Fussballstadion hervorruft. Die Scheinwerfer sind auf Chris Honor gerichtet. Der gebürtige Australier – mit Wurzeln großmütterlicherseits im Libanon – hatte es beruflich weit gebracht: bis zum Küchenchef großer Hotels mit fast 200 Köchen unter sich. Und dann ein Rückzug. 2013 eröffnet er das Chriskitch, zusammen mit seiner polnischen Frau Bibi. „Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um ein Restaurant zu eröffnen. Der Ort passte eigentlich auch nicht.“ beschreibt Honor seinen Neuanfang. „Das Lokal (in einer ehemaligen Schokoladefabrik) war bezahlbar und nicht zu groß, um von nur einem Koch geführt zu werden“. 18 Plätze gibt es im Gastraum. Das Lokal, das nur tagsüber geöffnet ist, bietet zwar durchgängig Kaffee, Tee und Kuchen an, zu Mittag aber nur drei Salate, belegte Brote und eine Suppe sowie ein Hauptgericht. Am Wochenende gibt es außerdem Brunch. Das alles ist nachzulesen in Big Flavour, dem ersten Kochbuch von Chris Honor und Laura Washburn Huttons, das im Knesebeck Verlag nun auf deutsch erschienen ist.
Honors Wandel vom Küchenchef großer Luxushotels zum Betreiber eines kleinen Bistro, bzw. einer Cafe-Trattoria, hat persönliche Gründe. Zeit für die Familie und weniger Hektik. Das ist gut für ihn und für uns! Denn ohne Chris Neuorientierung hätte es wahrscheinlich nie dieses Kochbuch gegeben.
Angelehnt an das Angebot im Chriskitch, ist das Buch in die Kapitel Salate, Brunch, Suppen, Hauptgerichte und Gebäck gegliedert. Ein erstes Durchblättern des Abschnitts Salat lässt bereits erahnen, welches Potenzial in diesem Koch steckt. Da werden Blutorangen mit Fenchel, Dill und Fetakäse zu einem bunten Rohkosthäufchen kreiert, ein ungewöhnlicher Wassermelonensalat für heiße Tage vorgestellt, Cox-Äpfel zu lustigen Apfeltürmen mit Etagen aus Blauschimmelkäse, Spinatblättern und gerösteten Walnüssen hochgezogen. Ein japanisch angehauchter Algensalat mit überwiegenden Grüntönen erinnert an „Die große Welle vor Kanagawa“ des Malers Hokusai. Besonders angetan war ich von der Avocado mit Koriander, Chilischote und Zitrone, der Inbegriff von Einfachheit und schneller Zubereitung. Dass er köstlich war ist selbstredend. Aber nicht alle Salate sind kalt.
Chicorée – goldbran angebraten – mit Apfel, Granatapfel-, Walnusskernen und Ziegenkäse bekommt den Feinschliff mit Petersieliestengeln und einer Prise Sumach. Erstaunlich. Die ohnehin leicht bitter schmeckende Chicoree wird mit Sumach – einem sauren Gewürz mit angenehmem, astringierendem Geschmack – veredelt, und verschiebt so die Grenzen der Salatwelt. Spätestens hier wird klar, dass Chris Honor nicht nur Mögliches und Unmögliches, Rohes und Gekochtes miteinander mischt, sondern auch exotische Zutaten verwendet, wie Sumach, Tahini, Tonkabohnen, Chiasamen, weißer Mohn und andere. Und er setzt offenbar voraus, dass alle NutzerInnen dieses Kochbuches diese kennen bzw. zuhause haben. Hier wäre ein erklärendes Glossar und eventuell Bezugsadressen im Anhang nützlich. Es haben nun mal nicht alle einen Markt um die Ecke. Aber kaum vertiefe ich mich wieder in Honors fantastisches Angebot an Salaten, ist diese marginale Schwäche vergessen. Bei Aubergine, Datteln und der Seeampaste Tahini, ein Salat, der einem Schlachtfeld gleicht, das unglaublich gut schmeckt, gewährt der Meister einen Einblick in seine Kochphilosophie. „Gleichgewicht ist für mich das Wichtigste beim Kochen“, bekennt er, was bedeutet: „ein Gericht muss ausgewogen sein“ in Aromen und Texturen und sich somit über das Gewöhnliche erheben. Im Idealfall wird es zum schmackhaften Kunstwerk. Und es gibt viele kleine Koch-Kunstwerke in diesem Buch. Couscous mit Lauch, Zitrone, Kürbiskerne und Chilischote setzt den Lauch, einen Zutaten-Mitläufer herkömmlicher Küche, in den Mittelpunkt und lässt uns auf eine Salat-Installation blicken – ein wahrer Augenschmaus. Das bringt mich auch zu einem Exkurs. Die Food-Fotos – jedes Gericht ist abgebildet – sind phänomenal. Sie verleiten zum Hingreifen, zum Nachahmen, das Nachgekochte auch so zu arrangieren, aber vor allem lässt es – so ist es mir zum Teil ergangen – eine Vorstellung vom Geschmack des abgebildeten Gerichts im Kopf entstehen. Tamin Jones erschafft mit diesen Fotos eine Brücke, die ein Ausdruck des Gleichgewichtes zwischen Auge und Gaumen ist, das der Koch anstrebt.
Im zweiten Kapitel spielt das Ei die Hauptrolle und Honor führt in unzähligen Gerichten vor, was in diesen ovalen Dingern drin steckt. So wird bspw. Rinderhackfleisch, Kreuzkümmel, Zwiebel, Ei und Zitrone zu einer farbigen Gemengelage verrührt, die gelöffelt werden kann. „Eggs & Army“ heißt es intern in Honors Familie und man kann sich vorstellen, dass die Kinder ihre Freude haben mit der Kampfzone auf ihren Tellern. Weitere Ei-dominante Frühstücksangebote folgen. So das Ei mit Spinatblatt auf Fladenbrot oder ein deftiges Sandwich mit Parmaschinken, Ei, Brunnenkresse und Mayonaise, das meinen Söhnen wunderbar schmeckte. Eingeschoben in dieses Kapitel sind einige Kleinstgerichte, die zu einem Mezzebüfett passen. Auch hier wartet Chris wieder mit ungewöhnlichen Ideen auf, etwa die Radieschen mit Butter, oder einem Melonensalat mit Marshmallows, oder bis knapp vor dem Zusammenfallen gegarte Tomaten mit Zimt, Orange und Mandeln. Fast schon etwas zu knapp, nimmt sich der Abschnitt mit den Suppen aus. Diese sind international in ihren Zutaten, ob exotisch die tiefrote Bete-Suppe mit Fetakäse, polnisch angehaucht mit Räucherspeck, Schweinerippchen, Piment, Sauerkraut und Kartoffel oder thailändisch inspiriert. Diese Suppe aus Karotten, Ingwer, Kokosnuss und Chiliflocken habe ich auch ausprobiert. Mit Ingwer von vorgegebenen 25 g auf 15 g reduziert, war der Geschmack der Suppe immer noch sehr von diesem Gewürz dominiert. Trotzdem hat sie uns sehr gut geschmeckt, sodass ich Ihnen dieses Rezept nicht vorenthalten möchte und am Ende vorstelle.
Die Hauptgerichte gesplittet in Fisch, Fleisch und Gemüse, sind sie ahnen es bereits, überraschend in der Zusammensetzung eine wahre Gaumenfreude. Ausprobiert habe ich die Rinderbäckchen mit Wacholderbeeren, Sternanis und Sojasauce. Dieses einfache Schmorgericht bekommt durch die Komponenten den Hauch des geheimnisvollen und köstlichen Asien.
Bewundernswert an diesem Kochbuch ist das hohe Niveau, das bis zur letzten Seite durchgehalten wird. Das Kartoffel Rosmarin Brot buk ich für eine Freundin zum Geburtstag. Mit einem georgischen Heringsaufstrich als Vorspeise gereicht, wurde es bis zum letzten Krümmel aufgegessen und man verlangte nach dem Rezept . Auf die Idee einen Kuchen mit Pastinaken, Apfel, Pekanüssen und Ahornsirup zu machen kam ich erst durch Chris Honor. Entstanden ist ein spektakulärer Hingucker mit erstaunlichem Geschmack. Und dieses Kochbuch birgt noch viele besonders kreative Kochideen.
Chris Honor ist mit mit Big Flavour ein kleines Meisterwerk der Kochkunst gelungen.