Heute reise ich nach BERN.
In die Hauptstadt der Schweiz. Im Gepäck bequeme Freizeitbekleidung und eine Badehose. Ich habe viel vor. Es ist ein heißer Sommertag und mein erstes Ziel das Muribad, etwas außerhalb der Stadt liegend, an der Aare. Dort erstehe ich einen Aaresack, einen wasserdichten Schwimmsack. Nachdem ich meine Bekleidung gegen eine Badehose getauscht habe, kann das Berner Abenteuer erst richtig losgehen. Das Muribad ist ein normales Familienbad und gleichzeitig ein Flussbad. Ähnlich wie in Basel, wo man sich einige hundert Meter den Rhein hinunter treiben lassen kann, ist es an der Berner Aare. Übrigens ist die Aare das längste Fließgewässer der Schweiz mit 288 Flusskilometer. Gespeist vom Aare-Gletscher beträgt die Wassertemperatur im Sommer um die 16 Grad. Eine Untersuchung ergab, dass Bern im Vergleich mit anderen Städten am stärksten den Fluss in die Stadtkultur mit einbezieht. Träge auf dem Aaresack liegend, in dem meine Schuhe, Hose und mein kurzärmeliges Seidenhemd wasserdicht verstaut sind, treibe ich nun die von Bäumen und Buschwerk gesäumte Aare hinunter. An Plätzen mit spielenden Kindern vorbei und am Bundeshaus. Dann muss ich raus aus dem Fluss, denn die Mattenschwelle, ein Flussweer, ist schwimmend nicht passierbar. Nun wieder umgezogen, fahre ich mit der Marzilibahn hoch in die Altstadt Berns. Schlendere jetzt direkt vorbei am Parlamentsgebäude und der Schweizer Nationalbank; es zieht mich ins Casino Bern. Nicht um zu spielen, nein, dort kann man auch essen. Im Casino Bern steht der Zunfttisch, eine riesige kreisrunde Holzplatte, an der 14 Personen bequem Platz nehmen können. Er ist etwas Besonderes. Gezimmert aus Eichenholz, das im Umkreis von 20 Kilometern um das Bundeshaus gewachsen ist. Dieses Mobilar repräsentiert die 13 Zünfte und Gesellschaften sowie die Burgergesellschaft der Stadt Bern und damit Schweizer Originalität und Tradition. Aber auch ein neues Gastro-Konzept. Denn am Zunfttisch vereint sich Kulinarik mit kulinarischer Geschichte und Kino. Der Tisch als Leinwand, eine Projektionsfläche für eine multisensorische Zeitreise. Dazu ein neungängiges Menü. Kein Scherzbecher wird hier gereicht, wie früher in den Zunftstuben, die mehr Wein aufs Hemd als in die Kehle gossen. Das und mehr erfährt man am Zunfttisch oder aus dem Buch zum Tisch. Am Zunfttisch. Ist Ein Einblick in das kulinarische Erbe Berns und vom Casino Bern herausgegeben. Nach dem Vorwort führen acht Kapitel die kulinarische Seite der Schweizer Hauptstadt vor, die auf gesellschaftlichen Axiomen beruhen. Gemeint sind jene Bereiche, die uns die lebenserhaltenden Zutaten bescheren. Konkret beschäftigen sich die ersten drei Kapitel mit Feld und Markt, Flüsse und Seen sowie dem Zibelemärit, dem Zwiebelmarkt. Dem folgt eine Auseinandersetzung mit Schnabel und Federn, das von Weinrot und Silber abgelöst wird. Fleisch und Kräuter muss man nicht erklären, während für Korb und Käse die Deutung nicht mehr so eindeutig ist. Ist mit Korb der Tragkorb für den Käse gemeint oder der Picknickkorb? und diese Frage wird auch nicht wirklich beantwortet. Gesichert dagegen ist, dass im letzten Kapitel Bern sich von seiner Schokoladenseite zeigt. Toblerone, Ragusa und Ovomaltine sind weltweit bekannt und Ausgangsprodukte für drei Nachtische vom Allerfeinsten. Nun sollte es allen klar sein. Jedes Kapitel wartet mit verblüffenden Geschichten und vergnüglichen Anekdoten aus dem letzten halben Jahrtausend auf, immer mit dem Blick aufs Kulinarische und die Stadt Bern. Dem Eigentlichen, Essen und Trinken in Form von Rezepten sind je zwei Seiten gewidmet, eine für die Beschreibung und die zweite für das fotografierte Gericht, immer als Draufsicht.
Klar vorherrschend ist dabei die Fleischeslust, Veganer dürften in der 500jährigen Kulinarik-Geschichte Berns kaum vorkommen. Den Berner Essgewohnheiten nachgegangen sind Ivo Adam und sein Team. Sie haben dabei Archive und historische Kochbücher durchforstet, dann vieles ausprobiert und Neues kreiert, bis die Rezepturen ihren Vorstellungen was am Zunfttisch kredenzt wird, entsprachen. Im Buch werden die Rezepte den kapiteleinleitenden Text- und Bildblöcken nachgereicht. Das macht Sinn, denn sie stehen im Kontext der Stadtgeschichte und bekommen so auch eine historische Note zur aromatischen.
In einer kleinen Randnotiz ist angemerkt, dass der Schwierigkeitsgrad zur Umsetzung der Gerichte mittel bis hoch ist. Das stimmt, auch weil Fingerfertigkeit gefragt ist, zudem einige Rezepte nicht bis ins letzte Detail erklärt werden. Also: Kochen mit diesem Kochbuch ist eine Herausforderung, dessen muss man sich bewusst sein. Der Kartoffelsalat auf Rahmspinat mit Bratkartoffel-Essenz ist ein gutes Beispiel. Da heißt es: Festkochende, geschälte, mittelgroße Kartoffeln tief einschneiden (aber nicht durchschneiden!), sodass ein Fächer entsteht. Kartoffeln in einem Bratentopf mit Salz, Pfeffer, Olivenöl und Balsamico-Essig würzen und mit Nussbutter übergießen. Im Ofen bei 180 Grad während 8 Minuten garen. Nach dem Garen in einer Bratpfanne mit Nussbutter goldig arrosieren, allenfalls nachwürzen. Dann wird noch eine Bratkartoffel-Essenz und der Rahmspinat zubereitet; fertig sind die drei Bestandteile des Kartoffelsalats. Angerichtet wird zunächst ein nicht randfüllender grüner Teich in einem tiefen Teller, auf dem wie ein Schiff eine filetierte Kartoffel gesetzt und rundherum mit Essenz aufgegossen wird. Zugegeben, das ist nachbaubar. Der Zeitaufwand groß und es wie abgelichtet hinzubekommen, dazu braucht es Übung. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, ist hier richtig und kann weiteres versuchen. Wie wärs mit Fisch? Der gedämpfte Saibling auf Apfelwein-Beurre-blanc, Ingwer-Zwiebel-Purée und Safrancroutons ist Haute Cuisine mit Schweizer Einschlag. Offensichtlich hat hier ein Rezept aus einem Bündner Kochbuch Pate gestanden, konkret, eine Anweisung der Biberschwanz-Zubereitung.
In allen Rezepten wird in einer Randnotiz die Quelle bekanntgegeben bzw., wer die ursprüngliche Idee hatte, und so der historische Bezugsrahmen hergestellt. Das ist spannend und hat Charme. Die Taubenbrust mit Randenkompott auf Kakaobulgur ist dem Gastrosophen Brillat Savarin geschuldet und das Dessert mit Blätterteig, Millefeuille mit Mousse und frischen Beeren der Ovomaltine. Dieses Malzextrakt, ursprünglich als Kräftigungsnahrung für Bleichsüchtige, Blutarme, geistig und körperlich Erschöpfte auf den Markt gebracht, ist heute ein weltweit beliebtes Instant-Kakaogetränk.
Höchstvergnüglich zu lesen finde ich die Anleitung zu Frischkäse mit Birnel und IPA-Bier. Zudem eines der wenigen Rezepte, die selbst Kochanfänger nachbauen können. Der Geschmack des Käses wird dabei mit den beiden beigestellten Ingredienzen gezügelt. Birnel, ein Dicksaft in einem Einweckglas, sowie eine Flasche Bier verleihen dem Frischkäse ein tieferes Aroma. Das wird so beschrieben: Der einreduzierte Birnensaft ist nicht die Art von frischer grüner Birne, die man gerne mal zu einem rezenten Käse auftischt. Birnel ist die Essenz vollreifer Früchte, mit einem spürbaren Körper. Aber auch das Konsistenz-Erlebnis macht Spass: Cremig-bröckelnd mit zäh-schwer ist gute Unterhaltung im Mund. Dann das IPA: Die ziemlich heftige Bitternote entschärft die zu stark entwickelte Süsse des Käse-Birnel-Gemisches. Pale Ales mit ihrem meist höheren Alkoholgehalt und ihrer Stammwürze sind oft zitrusfruchtig – das hilft dem Gesamtgeschmack. Und ein Picknicktipp ist angehängt: Als Reiseproviant im Nachtzug nach Wien mit der besten Freundin. Dabei hätte ich gewettet, dass es sich um den Nachtzug nach Lissabon handelt. Die drei Käserezepte sind alle gut und problemlos nachzubauen wie auch Ausdruck einer gewissen helvetischen Originalität.
Am Zunfttisch ist ein inspirierendes, höchst vergnügliches Lese-Kochbuch. Eine Art der Geschichtsaneignung, die man gerne betreibt. Hier geht es ganz klar um die kulinarische Einverleibung der Stadt Bern. Diese lassen vor allem die historischen Fotos erstaunlich lebendig werden. Somit ist dieses Buch auch ein Dokument über die Berner Gesellschaft, samt ihren zeitbezogenen Speisen und Festmählern, wie Claudia Engler in ihrem Vorwort schreibt. Wer die Schweiz liebt und insbesondere Bern, wird begeistert sein. Diese Stadt war immer international vernetzt, was sich auch in der Kulinarik ausdrückt. Wer den Blick über den Tellerrand wagt, erlebt eine Küche vom Feinsten. Wem das Nachkochen zu mühsam ist, kann die Zunfttisch-Menüs vor Ort genießen. Ein Platz an diesem exquisiten Möbel kostet 280.- Franken.
Ich aber nehme wieder meinen Aarebeutel in die Hand, besuche zunächst das Einsteinhaus, fahre als 25 Millionster Besucher mit dem Mattelift hinunter ins Matte-Quartier. „Imme schwe e imr e iure“, oder sowas ähnliches ruft mir ein Einheimischer zu, was im Matte-Englisch wohl soviel wie „Ich schwimme gerne in der Aare“ heißt. Jetzt ist Mittagspause und ich setze mich ans Aareufer, packe das Zunfttischbuch aus, lese Warum Bern auf Wein gebaut ist und freue mich auf das abendliche Esserlebnis am Zunfttisch …