Heute reisen wir ins ULTENTAL.
Ans Talende, hinauf zum Weissbrunnsee auf über 1800 Meter und kehren im Restaurant Enzian ein. Mehr ahnend als lesend können wir den verblassenden Enzian-Kelch und Namens-Schriftzug auf der Hauswand erkennen. Aus der Einkehr wird nichts, das Restaurant dämmert seit Jahren dem endgültigen Verfall entgegen.
Mit diesem Südtiroler Alpengasthaus verbunden ist einer der großen Köche Italiens, Giancarlo Godio. 2009 brachten vier junge Ultener eine Publikation über Godio und seine Kochkunst heraus, das mehr als eine Biographie oder ein Kochbuch ist. BLAU. GIANCARLO GODIO. ein stern für die bonne cuisine _ _ _ wurde von Werner Oberthaler geschrieben und von Alfonso Demenz zu einem kleinen Kunstwerk geformt, das im Gamsblut Verlag erschienen ist. Diese Sendung will den Schleier des Vergessens ein wenig anheben und dieses gebundene Kleinod aus der Versenkung holen. Dazu müssen wir zunächst in die Geschichte abtauchen, um dann zum Eigentlichen, dem Koch und seine Rezepturen aufzuschließen.
Wir reisen zurück in die 50er Jahre. Da baute der italienische Energiekonzern ENEL Speicherdämme, brachte Arbeit und ersten Wohlstand ins Ultental. Im Gasthaus ‚Enzian‘ wurden die Bauarbeiter verköstigt wie auch Tagesausflügler. Noch während der Bauzeit heuerte ein junger Koch aus dem Piemont, frei nach Watzmannsmanier „auffi mues i auffi auf den Berg“, in der Küchenbrigade an. Später wird er dort oben seine Kochkunst und das bis dahin kaum bekannte Ultental einer staunenden gastronomischen Weltöffentlichkeit vorführen. Mehr noch: Godio wird Kult, zu einem Leuchtstern am Ultener Himmelszelt. Giancarlo verliebt sich in eine Einheimische, Elisabeth Gamper, die Tochter des Hausherrn. Da treffen zwei starke Geister aufeinander, die einander brauchen und ein gemeinsames Ziel verfolgen: Kochkultur wenn nicht ans Ende der Welt, so doch ins wenig erschlossene Ultental zu bringen, aber auch hinaus zu tragen. Sie arbeiten hart. Tagsüber stand Ausflugskost auf dem Speiseplan, am Abend Menü à la card vom Feinsten.
Godio das „Teufelchen“, wie ihn Freunde nennen, hat Humor. Der eher kleinwüchsige Mann mit Schnauz und intelligenten Augen könnte direkt Don Camille und Peppone Filmen entsprungen sein. Mich erinnert er auch an Grandvilliers, einen vom Schauspieler Jean Rochefort verkörperten Koch in der Krimikomödie ‚Who Is Killing the Great Chefs of Europe?‘, der alles daransetzt, zu den besten Köchen Europas zu zählen. Auch Giancarlo ist ehrgeizig, ein i-Tüpfler und visionär mit Spürsinn für Neues. Die Abgeschiedenheit der Berge ist für Gian der ideale Ort für kulinarische Experimente und Neuschöpfungen. Der eigenwillige Fusionist, vereint die Südtiroler Küche mit der der Piemonteser. Er heimst Preise unzähliger Kochwettbewerbe ein, die Presse wird aufmerksam und Feinspitze entdecken Godios ‚bonne cuisine‘. Die wird zu einem kulinarischen Reiseziel an einem der entlegensten Orte Südtirols. Die Prominenz drückt sich die Klinke in die Hand, und der wohl bekannteste von ihnen, Giulio Andreotti wird mit dem Hubschrauber eingeflogen. Zwischen dem Koch und dem Ministerpräsidenten Italiens entwickelte sich gar eine Art Freundschaft, beide konnten wahrscheinlich bei gutem Essen die realpolitischen Zustände einfach vergessen. „Im Grunde war“, meint Werner Oberthaler in einem Interview, „Godio überhaupt nicht an Politik interessiert, und das gefiel wahrscheinlich Andreotti. Im Ultental als Italiener politisch aktiv sein war damals unmöglich. Godios Interesse galt vielmehr der Gastfreundschaft und dem Geschäft, aber vor allem, dass er sich dort oben verwirklichen konnte. Und er bekam dort die Produkte die seiner Vorstellung nach für eine gute Küche notwendig sind. Gewürze mit intensivem Aroma usw.“
Andreotti witzelte bei einem seiner Südtirolbesuche, dass mit dem Rotary Club gut zu dinieren sei („Ho pranzato cosi bene lassù, che ieri sera alla cena del Rotary club ho fatto finta di mangiare“), – im ‚Enzian‘ natürlich -, das Godio viel publicity einbrachte und neue Gäste. Aber der Koch konnte sich auch bestens selbst inszenieren und präsentieren, hatte einen guten Draht zu den Medien und fühlte sich wohl im Scheinwerferlicht der Seitenblickegesellschaft. Gleichzeitig liebte er die Stille der Berge und Wälder, sammelte Pilze und Kräuter, die in dieser Höhe intensiver schmecken. Dieses Wissen von der Natur setzte er um und kreierte mit Wenig sehr Viel.
1994 aber war dann alles aus. Da überschatteten zwei Abstürze, in die Godio involviert war, das Ultental; der zweite war für ihn leider tödlich. Zunächst wurde ihm ohne Begründung der Michelin Stern entzogen, eine Demütigung die er nicht wirklich verkraftete. Und dann stürzte das Kleinflugzeug auf dem Rückweg von einem Istrien-Kurzbesuch in den Bergen von Vicenza ab. Alle drei Insassen fanden den Tod. Godio wird zur Legende.
Wären da nicht die bereits genannten vier Ultener um Daniel Breitenberger, die Godio in den Köpfen vieler Südtiroler, Italiener und Gastrosophen verankern wollen. Es ist der Versuch einer Wiederbelebung mit dem Ziel seine Kochphilosophie und -praxis als Marke und Aushängeschild zu etablieren. Das gelang bisher nur rudimentär, denn Anläufe gab und gibt es immer wieder. Dazu gehört auch BLAU. GIANCARLO GODIO. ein stern für die bonne cuisine _ _ _ Oberthalers eindrückliche, dichte Texte darin leuchten alle Winkel Godios vielseitiges Leben und Wirken aus. In 42 Kapiteln vergleichbar einem Schlagwortkatalog, wird Godios Leben helixgleich aufgeschlüsselt. Als da wären Ehre, Blau, Wertschätzung und Kochhut, Wasser, Drachen und Gulden, Schnee, Sorbets, Filet „Enzian“, Morgens am 7er-Tisch, Wein und Wagnis, Ulten und der „kleine Italiener“, Davenport, Chicago, Abstecher zum „Pasta-Shop“, Schnecken und Schleim, Fliegen usw. Eingestreut, ab der Buchmitte sind Godio-Rezepte, zum Teil faksimiliert, wie der Meister sie zurückgelassen hat. Dabei spielt das Design eine wesentliche Rolle. Alfonso Demetz gelingt es, die Lebenswelten Godios dermaßen spielerisch in Formen und Farben zu übersetzen, dass es für uns Betrachter zu einer Begegnung auf Augenhöhe mit dem Meister der Kulinarik kommt. Allein schon die verschiedenen Schriftzüge, die Alfonso für Godios Namen kreiert, rufen Staunen hervor. Und immer wieder Blau, das sich durch das Druckwerk zieht, einmal den Himmel versinnbildlichend, dann die Weite, die Freiheit, das Wasser … alles was für Godio wichtig war. Selbst die Spur des schleimigen Weichtiers ist blau und führt zum Rezept für geschmorte Schnecken. Lumache in umido klassisch zubereitet erweitert Godio es mit gehackten Haselnüssen, die dem Gericht einen körnigen Biss geben. Der Wildererspieß mit Pfifferling Rösti ist eines von vielen Rezepten, die Godios Verbundenheit mit Natur, Landschaft und Jahreszeiten aufzeigen. Dabei wird Reh- und Kalbfleisch mit Bauchspeck zusammengeschnürt, im Rohr gebraten und wie ein Maiskolben gegessen. Godio mochte die Jagd, die Wilderer wie auch das Pilze Sammeln.
Neugierig geworden, wie wohl Haselnussnocken schmecken, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, sie auszuprobieren, merkte aber sofort, dass das ein etwas aufwändigerer Kochversuch wird. Zunächst werden Nocken aus Brandteig geformt. Sie werden dann im Salzwasser gesiedet, in eine Auflaufform geschlichtet, anschließend mit Bechamelsoße übergossen und im Ofen überbacken. Ein wunderbares Gericht, das mich an einen Mix von Buchteln mit Lasagne erinnert.
Noch größeres Erstaunen rief bei mir aber der Mohnstrudel mit Parmesan hervor wie auch die Bauernsuppe. Mohn wird seit jeher im Ultental angebaut. Ein schöner Höfewanderweg führt an unzähligen Mohnfeldern vorbei und an Feiertagen gibt es die traditionellen Mohnkrapfen, natürlich süß. Da musste erst ein Italiener kommen, um Nord und Süd kulinarisch miteinander zu vereinen und einen pikanten Mohnstrudel zu kreieren. Und prompt gewann er 1977 damit den Goldenen Löffel. Nicht anders verhält es sich mit Godios Bauernsuppe. Dieses üppige Süppchen ist ideal nach einer kräftezehrenden Bergtour. Mit ihr gewann er den begehrten Cuoco d’Oro, den Oskar der Kochkunst, wobei die Jury auf die Raffinesse seiner Interpretation eines Volksrezeptes verweist. Damit Sie das nachvollziehen können, verrate ich Ihnen die Kochanleitung.
BLAU. GIANCARLO GODIO. ein stern für die bonne cuisine _ _ _ ist ein ungewöhnliches Kochbuch. Im Quartformat strahlt es beim Durchblättern Ruhe und Unruhe gleichzeitig aus. Gleicht einem Spannungsbogen von Stillstand zur Hektik, wie es eben dem Lebensrhytmus eines viel beschäftigten kreativen Kochkünstlers wohl entspricht. Von Anfang an war den Herausgebern klar, dass es etwas Besonderes werden muss (Oberthaler); kein Kochbuch, keine Biographie, keine Monographie. Es sind Textbausteine, die, mit Farben, Formen und Fotos kombiniert, immer neue Zugänge schaffen zum Wesen und zur Persönlichkeit Godios, zu seinen kulinarischen Hintergründen usw. Godios Stärke lag im Einfachen, in der Vereinnahmung der Landschaft in seinen Kochkreationen – das zu zeigen gelingt mit diesem Buch sehr schön.