Heute reisen wir in die SCHWEIZ.
Nach Zürich, wo wir Elisabeth Bronfen besuchen; fiktiv natürlich. Wahrscheinlich würden wir sie an ihrem Lieblingsort antreffen, in der Küche. Ein Ort, der sie prägte und – egal wo sich die Vielreisende gerade aufhält – von ihr immer sofort vereinnahmt wird. Sie ist begeistert vom Kochen und dazu braucht es nun mal auch das entsprechende Intérieur. Aber Kochen ist „nur“ ihr Hobby, ihre Entspannung und Krafttankstelle. Von Brotberuf ist sie Anglistin und lehrt in Zürich und New York. Vielseitigst sind ihre Themenschwerpunkte, die sich in beachtenswerten Publikationen niederschlagen. So gab sie eine Kulturgeschichte der Nacht heraus, widmete sich in ihrer Habilitationsschrift der Ästhetisierung toter Frauen durch männliche Künstler, schreibt kritische Artikel und Glossen, die brandaktuellen politischen Themen gewidmet sind, wie etwa die Trump-Wahl. Lang ist die Liste der Veröffentlichungen und so fragt man sich, woher nimmt Frau Bronfen noch die Zeit, ein Kochbuch zu schreiben? Vielleicht, weil Kochen einen Teil ihrer Alltagskultur bildet, was zum Forschungsschwerpunkt avancierte. Oder einfach, weil Elisabeth Bronfen für all jene hitzigen Situationen brennt, die klare Vorstellungen einfordern, ob im öffentlichen Raum oder am Küchenherd. Deshalb ist auch der Titel ihrer Kochmemoiren, die im Echtzeit Verlag erschienen sind: Besessen. Besessenheit ist die Antwort einer Begeisterung, die die Zeit aushebelt; das trifft sowohl auf die Autorin als auch mich – wenn auch in viel bescheidenerem Maße – den Rezipienten zu.
Der Einband zeigt zwei Arme, scheinbar aus dem Nichts kommend, die mit dem Schälen einer Zitrone beschäftigt sind. Ein Farbenspiel, das sofort die Blicke auf sich zieht. Aber erst wenn man beide Umschlagseiten plan zum Buchrücken aufschlägt, wird die Person, die zu den Händen gehört, sichtbar. Das einzige Bild im ganzen Buch, d.h. außen, am Schutzumschlag. In Öl abgebildet die Autorin vom holländischen Künstler Pascal Mühlmann. Die höchst sinnliche Wirkung verstärkt ein schwarz eingefärbter Buchschnitt. Ein Kochbuch, das Begehren weckt. Das ist gewollt und begehrlich schön.
Bronfen die leidenschaftliche Esserin und Köchin, ist geprägt von ihren Eltern. Bekennende Gourmets, deren Einstellung ihrem Äußeren entspricht. Papa Bronfen legte sich im Laufe der Jahre einen Wohlstandsbauch zu, während Mutter Bronfen ladylike die Versuchungen in Maßen hielt. Das erfährt man in der Einleitung. Auch, dass ihre großen Vorbilder Julia Child, MFK Fischer, Nigella Lawson oder Alice Waters sind. Und sie hält sich an Childs Wahlspruch: No matter what happens in the kitchen, you should never apologize. Denn, die Arbeit in der Küche bleibt ein nie ganz abwägbares Abenteuer.
Elisabeth Bronfen ist eine begnadete Schreiberin. Entsprechend leicht lässt sich ihr Kochbuch lesen. Eine Mischung aus Erzählen und Rezepten. Biographisches fließt fast nebenbei ein. Auch ihre im Laufe der Jahre gesammelten Kocherfahrungen sind viel mehr als schmückendes Beiwerk. Sie sind die Essenz einer Auseinandersetzung mit dem Ziel, aufzuklären und zu beglücken. So ist Besessen trotz dieses dramatisch konnotierten Titels ein heiteres Kochbuch. Mit Anekdoten garniert, laden 250 Rezepte – von ihr und Freunden aus aller Welt – zu Küchenabenteuern ein. Der Kochstil orientiert sich dabei weitgehend an dem, was die Amerikaner unter home cooking bzw. kitchen dinner verstehen. Einfach und regional, mit frischen Zutaten und wenn möglich jeden Tag.
Das kostet natürlich Zeit sowie eine entsprechende Lebensmittel-Vorratshaltung, aber vor allem eine fast generalstabsmäßige Tagesstruktur. Bronfen gibt zu, dass sie einen Großteil ihrer Freizeit dem Kochumfeld widmet. Sie liest Kochbücher wie Romane, besucht Feinkostläden, geht auf Märkte; lädt Freundinnen und Freunde zum Kochen ein – ist bereit, die Freude am Essen mit anderen zu teilen, und das bereits über Jahre hinweg ohne Ermüdungserscheinungen.
Es scheint, dass die Autorin einem strukturalistischen Prinzip folgend, sich im Levi-Straussschen Sinne bewegt: vom Rohen zum Gekochten. Dementsprechend aufbauend und ergänzend sind die Kapitel um die wichtigsten Kochwerkzeuge – DIE PFANNE, DER TOPF und DER OFEN, d. h. das Backrohr – gruppiert. Los geht es aber mit KALTE SPEISEN, denen warme folgen, und zwar Pfannengerichte. Eingeschoben zwischen Pfanne und Topf wird VORRÄTIGes: das von kostbarem Lagergut (Lavendelsalz, Chiliöl, Gewürze u.a.) handelt. Von Gehortetem (Pestos, Hummus etc.) bis zu diversen Vorschlägen der Resteverwertung. Beim letzten Punkt wurde ich sofort fündig. Da werden acht Vorschläge gemacht, um die Reste von einem gerösteten Huhn zu verwerten. Sie ergänzen Suppen, werten Toasts auf, verfeinern ein Couscousgericht. Auch lässt sich aus dem Übriggebliebenen sowohl ein Gratin kreieren oder – wie in meinem Fall – ein schmackhafter Hühnerrisotto mit Pilzen zaubern. Aus Resten am nächsten Tag mühelos etwas Neues zu schaffen ist ein Ratschlag der amerikanischen Kochbuchautorin Barbara Kavka. Eine Haltung, der auch Bronfens Mutter gerecht wird. Von ihr hat sie gelernt, dass aufgewärmtes Essen, verfeinert mit Nüssen, Sahne oder anderen Zutaten, manchmal sogar besser schmeckt als das Essen vom Vortag. Der Hühnerrisotto war so eine Erfahrung. Leider gibt es nur wenige Resteverwertungsrezepte.
Am Ende des Vorrätig-Kapitels widmet sich die Autorin dem Geschmack und Aroma. Dieses Thema, das Bronfen besonders liegt, und ihre Neigung, kulinarisches Wissen mit einem Quantum von Didaktik und Pädagogik zu garnieren, bewirken höchsten Lesegenuss. Alles eine Frage der richtigen Dosierung, und sie meint klarerweise das Salz, das immer im Hintergrund bleiben und nie dominieren sollte. Eh logisch ist man versucht zu kontern um einige Zeilen weiter zu lesen, was man von Profiköchinnen und Frau Bronfen lernen kann. Nämlich, … ein Gericht nicht erst am Schluss mit Salz würzen. Während man zwischendurch bereits immer wieder abschmeckt, merkt man, ob sich die gewünschte aromatische Würzung entwickelt hat. Wenn das nicht gelingt, hilft meist eine kleine Prise Salz. Dabei intensiviert Salz nicht nur herzhafte Gerichte, sondern kann auch dafür eingesetzt werden, Süße oder Säure zu unterstreichen. Deshalb würze ich Orangenscheiben, die ich in Honig und Öl gewendet habe, mit einer Prise Salz. Zugleich kann mit Salz ein bitterer Geschmack gemildert werden, weshalb es so gut zu dunkler Schokolade passt. … Würzen ist nicht nur die Beherrschung aller Geschmacksrichtungen, sondern auch ein Spielen mit den vielfältigsten Aromen. Elisabeth Bronfen gibt in dieser kleinen Abhandlung wichtige Impulse zum Würzen. Wer sich darauf einlässt, macht die Küche zum Spielkasino. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied. Je länger man mit dem Würzen spielt, desto weniger verliert man. Zeit und Erfahrung verleihen den Gerichten ihre spezielle, individuelle Note. Auch gehören Sahne wie auch Crème fraîche zu den häufiger verwendeten Zutaten in Bronfens Küche.
Der Topf kommt etwa ab der Hälfte des Kochbuchs dann zu seiner Entfaltung. Schmoren statt Braten ist angesagt, Niedrigtemperaturgaren und die Mischung aus Hitze und Dampf über mehrere Stunden entfalten sich zu wunderbaren Suppen-Köstlichkeiten, Risotti und Couscous-Gerichten oder – wie Bronfen es nennt – Alles in einem Topf-Speisen. In Letzterem werden zunächst die Grundprinzipen des Schmorens im Topf erklärt, aber kaum erhascht man einen Blick auf die Rezepte, ist man versucht, sofort loszulegen. Zumindest erging es mir so, wie ich der Pastinaken in Kokosmilch ansichtig wurde. Nicht alle Details nachvollziehend und die Pastinaken durch vorrätige Chioggia Rüben ersetztend, habe ich meine Geschmacksrezeptoren dennoch mit neuen Erlebnissen beglückt. Auch die Artischocken mit Orange und Zitrone waren eine feine Erfahrung für mich wie auch für die Testesser.
Über den europäischen Tellerrand hinaus spähend, widmet sich Elisabeth Bronfen in einem weiteren Topf-Unterkapitel dem maghrebinischen Schmorgerät Tajine. Hier deutet sich ihre Experimentierlust an, wenn sie dieses nordafrikanische Kochgerät mit einem europäisch, einem afrikanisch und einem asiatisch angehauchten Gericht beschickt. Die Meeresfrüchte mit asiatischen Aromen überraschten mit dem sich gefügig unterordnenden Fenchel. Die Kunst Elisabeth Bronfens ist es, gelebte Küchenerfahrungen langsam herauszuschälen und handfest werden zu lassen. Etwa wenn sie erklärt, warum das Schmoren in einem Tagine-Topf besonders gut gelingt: Dank des konischen Deckels kondensiert der Dampf am Zenit und beträufelt so ständig das Gericht. Oder, warum Backen mit Umluft die bessere Kruste ergibt. Na ja, weil die in Bewegung gehaltene heiße Luft eine schön gleichmäßige Hitze abgibt. Und die ultimative Steigerung ist dann, mit dem Wasserbad im Ofen zweierlei Crème brulée zuzubereiten. Hier fällt die Entscheidung schwer zwischen Crème brulée mit Ingwer und Tonkabohne und Crème brulée mit Orange und Lavendelhonig. Ich habe mich für die Orangenvariante entschieden und es nicht bedauert. Aber Vorsicht, dieser Pudding hat es in sich. Bei so viel Reichhaltigkeit und Verlockung ist Widerstand so gut wie unmöglich. Verzweifelte Abwehrmaßnahmen bleiben rhetorisches Geplänkel, einzig die Reduktion des Zuckers vermindert den Kalorienschock und was bleibt, ist Genuss pur.
Dem Ofen ist das letzte Kapitel gewidmet. Wir bewegen uns durch die Wüste, von heißer Luft umweht. Ob das Objekt der Begierde geröstet, in Pergamentpapier bzw. Alufolie gewickelt oder unterm Grill schmort, heiße Luft ist hier kein falsches Versprechen. Bewährt hat sich, Fisch mit Gemüse ins Rohr zu schieben, wie hier eine Dorade mit Tomaten und Kräutern. Für Bastelfreudige bietet sich eine Pouletbrust mit getrockneten Steinpilzen an, die in einer Hülle aus Pergamentpapier still und leise vor sich hinbrutzeln. Die Vorbereitung ist die meiste Arbeit, den Rest macht der Ofen. Unterm Grill sind würzige Süßkartoffeln mal etwas anderes. Sojasoße und Mirin, ein süßer Reiswein, verleihen diesem Ofengemüse den Flair Südostasiens. Auch zu den Ofengerichten zählen Gratins und Aufläufe, Quiche und Kuchen. Der Gratin aus Mangold und Fenchel lässt alle Liebhaber dieser spinatähnlichen Pflanze aufjuchzen. Aber ein besonderes Highlight ist in der Backwerkabteilung zu finden. Der New York Cheesecake ist der Rolls Royce unter den Kuchen, der immer Erstaunen, Aufsehen und Begeisterung bei den Gästen hervorruft.
Am Ende einer Kochsession aber passieren dann die blödesten Unfälle. Angebrannt, was tun? Oder, das Gekochte entfaltet kaum Aromen. Womit kann farblos geratenes Gemüse oder Obst aufgefrischt bzw. aufgebaut werden? In KÖSTLICHE DESASTER werden Notpläne ausgegeben, die Katastrophen wenn nicht ganz, aber immerhin so weit abfedern helfen, dass noch ein passables Essen auf den Tisch kommt.
Es wäre kein Kochbuch von Elisabeth Bronfen, wenn es nicht noch eine besonderen Ansatz gäbe. Nicht für 2, 4, 6 oder viele Personen, sondern FÜR SICH KOCHEN lautet die Devise. Es wird reduziert aufs Elementarste, vom einfachsten Gericht wie ein Rührei in der Pfanne bis zum Festessen bei sich, mit Hackbraten für Erwachsene oder Quiche mit Bottarga, dem ultimativ letzten Rezept. Im Anhang listet das Rezeptverzeichnis 250 Gerichte auf, die nachzukochen reizvoll ist, aber einige Zeit beanspruchen wird.
Besessen von Elisabeth Bronfen ist kein gewöhnliches Kochbuch. 25 Jahre Kampf und Leidenschaft stecken in diesem umfassenden Werk. Anders als man vielleicht erwarten könnte, enthält das Buch praktisch keine Querverweise zu Kochszenen aus der Literatur. Und trotzdem kommen sie vor, die bekannten Namen aus dem Fachgebiet der Professorin. So William Shakespeare, der seinen Hamlet im Monolog Sein oder Nichtsein sagen lässt: Readiness is all. Diesen Grundsatz bezieht Bronfen auch auf das Braten in der Pfanne: Eine Bereitschaft, seine ganze Aufmerksamkeit dem zu widmen, was sich in der Pfanne ereignen wird, bestimmt auch das Gelingen. Dazu gehöre auch, den richtigen Augenblick abzuwarten.
Was man von Elisabeth Bronfens Kochmemoiren nicht erwarten darf, sind einfache Anleitungen im Stil von man nehme. Die Literaturwissenschaftlerin erzählt Geschichten mit Gerichten, zuweilen sehr blumig und manchmal etwas ausufernd, aber immer spannend. Einfacher als die Rezepte Schritt für Schritt nachzukochen, ist es, die Geschichten wirken zu lassen.
Kochen ist für mich eine Form von Kommunikation, sagt die Singlefrau, die mindestens zweimal die Woche Gäste hat. Aber auch eine Frage von Macht. Wer kocht bestimmt, was es zu essen gibt. Mitunter auch das Gespräch. Ich mag es gesellig und pflege gerne kultivierte Unterhaltungen. Und klar, sie erhalte gern Lob für ihre Küche, wobei es zuweilen auch frustrierend sei, mehr Komplimente für einen Kürbisrisotto zu erhalten als für eine wissenschaftliche Abhandlung, an der sie monatelang geschrieben habe.
Besessen, Elisabeth Bronfens Kochmemoiren sind im Echtzeit Verlag erschienen. Für ihr jüngstes Werk wird sie gewiss viel Anerkennung erhalten. Dass es keine Bilder enthält und man sich all die Köstlichkeiten vor dem inneren Auge vorstellen muss, ist ganz im Sinne der Autorin. Ihre Lebens- und Kocherinnerungen sind ein Lese- und kein Bilderbuch. Die Texte stehen in symbiotischer Beziehung zu den Rezepten. Wie beim Zwiebel schälen legt Bronfen Schicht um Schicht frei, nähert sie sich gewitzt, freudig, weise und wissend dem Kern des Kochens. Eine Partitur in fünf Sätzen: Kalt, Heiß, Pfanne, Topf und Ofen. Wenn die Maxime stimmt, dass Essen lebensbejahend ist, dann sind Elisabeth Bronfens Kochmemoiren der Leitfaden dazu. Besessen hebt sich wohltuend von den meisten Neuerscheinungen auf dem Kochbuchmarkt ab. Spannend und sehr persönlich geschrieben, mit einer Vielzahl an entdeckungswerten Rezepten, wird mich dieses Kochbuch noch viele Jahre beschäftigen. Und jetzt gehe ich in die Küche, um Fenchel mit Apfel und Parmesan anzurichten. Wie dieser Salat für Zwei zubereitet wird, erfahren Sie aus dem angefügten Rezept.