Heute reisen wir nach ENGLAND.
Ins Land der Skurilen und Spleenigen. Ein Schnapphase, eine Herzkönigin, ein verrückter Hutmacher, ein Tortendieb und ein Fünf-Uhr-Tee-Tisch: Sie gehören zum fixen Inventar in Lewis Carrolls Geschichte von Alice in Wonderland. Mit ihnen tauchen wir ein in die phantastische Welt des wundersamen Engländers, der Mathematiker, Fotograf und Autor von Kinderbüchern war. Seltsames passiert, denn als Alice sich zum Hutmacher und zur Haselmaus an den Teetisch setzt bleibt die Zeit stehen. Zu jeder vollen Stunde rücken sie einen Platz zurück, so bleiben sie immer auf 5 Uhr sitzen. Nicht ganz so kurios geht es in der Welt von Ella Risbridger zu, obwohl auch ihre Geschichte sich irgendwie verrückt anhört. Die beginnt mit einem Huhn in einer Stofftasche. Und diese hängt an der Lehne eines Küchenstuhls. In jenem Moment, als Ella im Flur auf dem Boden liegend das Huhn in der Tasche erblickt, fragt sie sich, ob sie wohl je wieder aufstehen wird. Irgendwann kommt der Große Mann, hilft ihr auf und Ella brät das Huhn, spät nachts. Um 24 Uhr verspeisen sie das Mitternachtshuhn mit Wein und Brot. Sie essen mit den Fingern, tunken die nach Knoblauch duftenden Säfte vom Backblech auf und nagen die Knochen ab. Die Story mit dem Huhn ist Ella Risbridgers persönliche Geschichte darüber, wie sie wieder ins Leben zurück findet und ausgiebig zu kochen beginnt. Es ist ein Buch über eine junge Frau, die sich in ihrer Depression vor einen Londoner Linienbus stellt und nicht totgefahren wird. Deren erster Gedanke nach dem Selbstmordversuch dem Backen einer Pie gilt. Heimgekehrt, macht sie zusammen mit dem Großen Mann die Pie. Das verändert ihr Leben. Kochen wird für Ella zu einer Art Anleitung, seelische Stürme zu überstehen und sich im Alltag zu behaupten. Die Geschichte beginnt mit einem Huhn ist ein Buch aus der Krise mit Rezepten und berührenden tagebuchartigen Anekdoten. Also Lese- und Kochbuch in einem, das im Callwey Verlag erschienen ist.
Zum Auftakt empfiehlt Risbridger drei Grundregeln, die zu beherzigen sind:
- Salz dein Pastawasser
- Nimm im Zweifelsfall Butter
- Mach einfach weiter
Motti, die jedes Gericht aus diesem Buch zum Lebensretter machen, behauptet die Autorin. Sie sind für dich da, heißt es einleitend, wenn du mit einer roten Nase vom Spazierengehen nach Hause kommst. Und sie schmecken besser, wenn du ein Glas Wein dazu trinkst – so ein weiterer Ratschlag.
In sechs großen Kapiteln offeriert uns Risbridger ihre Rezepte, für die es sich zu leben lohnt. Es beginnt mit dem Frühstück, und so erfahren wir, wie Ella ihren Tag beginnt. Eine Tasse schwarzen Kaffee, und damit zurück ins Bett. Dort, gegen das Kissen gelehnt, in der einen Hand die dampfende Tasse, in der anderen den Stift, für To-do-Listen, dem Schlachtplan für den Tag. Dafür sind 10 Minuten vorgesehen. Danach kommt das eigentliche, das gute Frühstück. Das ist abwechslungsreich und unkompliziert. Manche Gerichte eignen sich für heiße Tage, andere für kalte, manche gehen schnell wie die Drop Scones mit Butterscotch-Sauce, manche sind etwas aufwändiger wie Fionas Bagels. Alle Rezepte sind Teil einer persönlichen History, gebunden an Begebenheiten, Rückblicke, die den Gerichten ihre besondere Note verleihen. Die richtigen Oatcakes, dünne Pfannkuchen aus feinem Hafermehl, die mit Butter und Marmite bestrichen sind, erinnern Ella immer an ihre Großeltern im rosafarbenen Haus im ländlichen Staffordshire. Ein Essen, das Heimweh erzeugt. Die Fladen können vielfältigst belegt werden, gehören zum traditionellen Arbeiter-Frühstück, very british. Mit Cheddar oder in Scheiben geschnittenen Pilzen oder Schinkenspeck oder allem zusammen. Oatcakes lassen sich gut über Nacht im Kühlschrank aufbewahren und sind schnell aufgewärmt in einer Bratpfanne ohne Fett. In größeren Mengen produziert, lassen sie sich wunderbar einfrieren, eingelegt zwischen Schichten von Backpapier.
In weiterer Folge werden uns Sonntagmorgenschnecken, ungehörige Beeren-Crumble-Muffins, verschiedene Porridges, Beerenmarmelade, Avocado-Toast sowie unterschiedlichste Minuten-Eier zum Frühstück angeboten.
Das zweite Kapitel, Suppe & Brot, beginnt mit diversen Broten und schwenkt nach dem jüdischen Challabrot zur erbsengrünen Misosuppe die nach etwas schmeckt, das man sich zum Mittagessen kaufen würde, wenn einem kalt ist und man etwas Gesundes essen will und in der Mittagspause durch die Stadt stromert, auf der Suche nach etwas, das einen wärmt und aufheitert. Sie ist aber noch besser, denn du hast sie selbst gemacht. So und ähnlich eilt Ella Risbridger durch die Seiten, das ist O-Ton, in diesem Fall über den Geschmack der Misosuppe. Das wirkt cool, ist es aber nicht immer. Da klingen hippe Töne an die zeitgenössisch, trendig sein sollten – die wirken wie ein versuchter Schulterschluss. Und genossen habe ich die sehr erdige Rauchige Rote-Bete-Pistaziensuppe, die vor allem wegen dem knalligem Rot so hartnäckig in Erinnerung bleibt.
Sehr gelungen finde ich das dritte Kapitel über Picknicks & Pack-ups. Diese Seite wird in anderen Kochbüchern eher stiefmütterlich behandelt. Die Auflistung von Gerichten aus unterschiedlichen Kategorien sind eine große Hilfe für die Planung. Einige Rezepte davon habe ich ausprobiert wie die Ingwerbier-Hähnchenschenkel oder die dänischen Cracker oder den römischen Burrata-Salat. Alles wurde von meinen Gästen bis auf das letzte Ruccolablatt vertilgt.
Kapitel vier widmet sich den Vorratsschrankgerichten & Mitternachtsgelagen. Diese Rezepte haben auch Notfallcharakter, kommen zum Einsatz wenn alles schiefgeht. Ein Notfallplan findet sich in der Einleitung unter Blaue Suppe: Was tun? Wenn das Misslungene im Mülleimer landet, dann greift man auf diese Rezepte zurück, für die man die meisten Zutaten vorrätig hält. Hier kommen einige mediterran angehauchte Speisen zum Zug wie Risotto und Nudelgerichte, aber auch Anleihen aus der jüdischen Küche wie der leicht schwarz geröstete, mit Käse überbackene Blumenkohl oder Latkes, in diesem Fall von der fiktiven Oma Yvette.
Der umfangreichste Abschnitt gilt mit über 60 Seiten der Wochenendküche. Das Menü reicht vom rosa Roastbeef für zwei über das dicke, kleine Harissa-Stubenküken bis zur Kürbispfannen-Pie, die mit backfertigem Blätterteig zubereitet wird. Hier werden abwechslungsreiche Rezepturen mit enormer Geschmacksbandbreite angeboten, die dann zum Einsatz kommen, wenn man genügend Zeit zum Kochen und Genießen hat. Das sind auch Gerichte, die die Stimmung heben und Beziehungen stärken.
In Süße Sachen, dem letzten Kapitel, geht es um maximalen Genuss und minimale Anstrengung. Beides kann ich bestätigen mit dem Etcetera-Kuchen, der alle Erwartungen erfüllte. Natürlich finden sich hier noch weitere leckere Köstlichkeiten wie die Zitronencreme mit Kondensmilch oder die Pariser Kekse, um einige aufzuzählen, die aus Zeitgründen noch nicht ausprobiert sind. Sie stehen auf meiner To-do-Liste. Und dann stoße ich noch auf die Brownies mit geschmolzenem Karamell und brauner Butter. Sie erinnern mich wieder an Alice in Wonderland. Vielleicht weil sie unter die Kategorie „Es-wird-besser-Brownies“ fallen oder mehr als genug andeuten, dass es sich lohnt weiterzumachen. Stimmungsaufheller, die innen saftig-schwer und cremig, außen bissfest und karamellisiert und gespickt mit Walnüssen … sind. Vor allem das mit Abstand versponnenste Rezept des ganzen Buches, behauptet Ella.
Das Kochbuch Die Geschichte beginnt mit einem Huhn von Ella Risbridger kommt gänzlich ohne Fotos aus. Es ist ein sorgfältig gemachtes Buch, auf hochwertigem Papier gedruckt, sodass die Illustrationen von Elisa Cunningham ihre Ausdruckskraft bewahren. Die Geschichte vom Huhn ist auch eine Familiengeschichte, fast schon Nabelschau. Die Anekdoten in epischer Länge wirken noch in die Rezepte hinein. Risbridger nimmt uns an die Hand, lässt uns teilhaben an sehr Persönlichem und schafft so eine intime Vertrautheit, die sich über die Rezepte verstofflicht. Manche ihrer existentiellen Gedanken sind nachvollziehbar, korrelieren mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen. Ihre Gerichte vermitteln darüber hinaus vielfach kulinarische Ergänzungen, die dieses Koch-Lesebuch zu einer lohnenswerten Lektüre machen. In Häppchen genossen ein Manifest der Augenblicke, wie Ella Risbridger sagen würde.