Heute begeben wir uns ins KOCH-LABOR.
An der Uni Graz gibt es – man höre und staune – Mitmachlabore. Dort werden Kochkurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene angeboten, die Kochen wie ein naturwissenschaftliches Experiment vermitteln. Quasi “Wissenschaft zum Anfassen”. Die Idee kam vom Molekularbiologen Fritz Treiber. Er wollte seine Wissenschaft den Besuchern der Langen Nacht der Forschung sinnlich vermitteln und begann für sie zu kochen. Keine konventionellen Gerichte, nein, es waren Speisen aus der Molekularen Küche. Das kam beim Publikum an und in Folge wurden die Forschungslabore in Geschmackslabore umfunktioniert. ‚Science goes public‘ begeisterte nicht nur die Bekochten, sondern auch die ausführenden Biologen. Und weil diese Form der Wissensvermittlung so gut funktionierte, wurde daraus eine kommerzielle Institution, die Kochkurse auf universitärer Ebene anbietet. In Zusammenarbeit mit der Ortweinschule Graz und Science Busters ist auch ein Kochbuch entstanden, das die molekularwissenschaftliche Küche präsentiert, einfach und nachvollziehbar. SCIENCE SCHMANKERL von Helmut Neuwirth ist im Verlag Amalthea erschienen.
70 Rezepte werden vorgestellt, die selbst für Kochneulinge ohne großen Aufwand nachbaubar sind. Diese Art zu kochen ist wohl mehr mit Experimenten aus einem Chemie-Baukasten zu vergleichen. Da werden bspw. 100 ml Mangosaft mit 0,8 g Gellan verrührt, erhitzt und in Halbkugel-Silikonformen abgefüllt. Das fest gewordene Mango-Gel, vorsichtig aus der Form herausgedrückt, kann als dekorativer Gel-Tupfer oder Nachspeise angerichtet werden. So weit so gut. Denn dieses Beispiel zeigt, dass hier zwei unterschiedliche Ansätze aufeinandertreffen. Ausgehend von einer herkömmlichen Zutat, in diesem Fall Mangosaft, wird diesem ein Zusatzstoff beigegeben, Gellan, ein Texturgeber. Letzterer ist wahrscheinlich bekannter als E418, ein Vielfachzucker und wasserlöslicher Nahrungszusatz. Agar-Agar, Cellulose-Pulver, Glycerin, Lecithin, Pektin u.a. zählen zu diesen mit einer E-Nummer versehenen Zusatzstoffen, die auch gerne in der Molekularküche eingesetzt werden. Sie dienen zur Stabilisierung, als Trennmittel und Trägerstoffe usw. Und der Kochkünstler Peter Kubelka würde damit wohl seine Theorie untermauern: Geschmacksintensivierung durch Verdichtung. Helmut Jungwirth beschreibt in seiner Einführung sehr schön und ausführlich das kulinarische und geschmackssensorische Potenzial dieser Technik. Sie ist mehr als ein Showeffekt, wenn auch manches Gericht in seiner äußeren Erscheinung dies vermuten lässt. Da gibt es Mozarella-Papier, Rote-Rüben-Papier, Gel-Augen, Pilzreigen, die aus einem gallertartigen Substrat herauswachsen, Campari-Kaviar, Roquefort-Espuma etc.. Alles zum Bestaunen, Anfassen und Verzehren.
In acht Kapiteln werden Papiere, Gele, Kaviar & Sphären, Espuma, Air, Sous Vide, Kryo – das sind rauchende Speisen – und Kreativ-Gerichte vorgestellt. Fast jedem Rezept ist eine Doppelseite gewidmet, dabei werden mit einer Bildergalerie die Handgriffe dokumentiert sowie übersichtlich die Zutaten aufgelistet und kurz und prägnant die Zubereitung beschrieben. Am Ende jeden Kapitels gibt es auch noch Tipps und Tricks.
Am ultimativen Ende findet sich ein Appendix, wo die häufigsten Texturgeber beschrieben werden, einige Literaturempfehlungen, eine Auflistung von Geräten und Hilfsmitteln, die in der Molekularküche benötigt werden, und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis. Bei den Geräten wurde die Espuma-Flasche bzw. der Sahnesiphon vergessen. Überhaupt hätte die Seite über Geräte und Hilfsmittel m.E. ruhig ausführlicher sein können, wenn auch erstaunlich ist, dass in dieser Kurzdarstellung alles Wichtige angesprochen wird. Sinnvoll wäre bspw. ein Hin- bzw. Verweis in der Einleitung auf diesen Punkt. Denn ohne Neu-Anschaffungen von Gerätschaften, die im normalen Haushalt nicht vorkommen, kann man nicht molekular kochen. Das fängt mit einer Feinwaage an und hört beim Sous Vide Wasserbad auf.
SCIENCE SCHMANKERL von Helmut Jungwirth ist ein sehr beeindruckendes Kochbuch. Einmal, weil es absolut verständlich geschrieben ist, zum anderen, weil die Foodfotos mehr als Impressionen darstellen, nämlich zu Bild gewordene Geschmacksvorstellungen, die zu Speisen avancieren. Überhaupt ist die gestalterische Umsetzung der ‚Rezepte aus dem Reagenzglas‘, wie das Kochbuch im Untertitel heißt, sehr gelungen. Wer sich auf die Molekularküche einlässt, sollte sich im Klaren sein, dass Investitionen anfallen und bei der Anwendung es Erfolge und Misserfolge gibt. Aber wer einmal damit begonnen hat und trial and error als Koch-Motto wählt, den wird irgendwann der molekulare Küchenbazillus befallen. Jedenfalls sollte man die Molekularküche zumindest einmal versuchen – es macht Spaß!