Hildegard Keller & Christof Burkard, Frisch auf den Tisch

Weltliteratur in Leckerbissen

Zeichnungen von Hildegard Keller
Edition Maulhelden Nr. 2, Zürich, 2020, 144 Seiten mit Lesebändchen, 21.50 Euro
ISBN 978-3-907248-01-0
Vorgekostet

Und noch einmal reisen wir in die SCHWEIZ.

Der zweite Band aus der Edition Maulhelden ist elf Schriftstellerinnen und Schriftstellern gewidmet. Sechs Männer und fünf Frauen, alle, mit Ausnahme von Alfonsia Storni, weltbekannt. Frisch auf den Tisch, so der Titel, ist eine Anspielung, die wir sofort verstehen. Der Fokus liegt auf Mitteleuropa mit Ausnahme des Amerikaners Herman Melville. Nach welchen Kriterien die Auswahl getroffen wurde, ist nicht nachvollziehbar. Stark vertreten ist die Schweiz mit Alfonsia Storni, Friedrich Glauser, Gottfried Keller, Robert Walser und Max Frisch sowie Deutschland mit Hildegard von Bingen, Hannah Arendt, Rosa Luxemburg und Walter Benjamin. Der schon erwähnte Melville und die Österreicherin Ingeborg Bachmann sind die Ausreißer. Hildegard Keller schreibt sehr pointiert und einfühlsam über diese Größen der Literatur, bringt Details ein, die diese in neuem Licht erscheinen lassen. Zudem ziehen die Herausgeber eine weitere Betrachtungsebene ein, indem sie die vorgestellten Persönlichkeiten mit kulinarischen Vorlieben verbinden. Das sind natürlich gourmande Vorstellungen von Keller und Burkard. Köstliche Gerichte, egal, ob die Literatinnen und Literaten diese jemals selbst genossen haben oder nicht, werden in Rezeptform beigestellt. Eine charmante Vorstellung: Ich sitze mit Hannah Arendt in New York im Restaurant und esse Königsberger Klopse. Für die Auswahl der Rezepte ist Christof verantwortlich. Er lässt sich inspirieren von Gegebenheiten, Eindrücken, Gelesenem und Diskussionen mit Hildegard. So sind bspw. Ingeborgs Profiteroles, gefüllte Brandteigkugeln wohl als eine Anlehnung an das Brüssler Atomium im Modellpark Minimundus am Wörthersee zu verstehen. Und er verbindet mit dem Rezept Klagenfurt und Rom, die Lebensstätten der Schriftstellerin. Allein das Dessert gewordene Atomium „passt auf einen Teller, ist süß und ungewöhnlich komplex, das flinke Handarbeit verlangt. Wehe, wenn das Mehl nicht mit Schwung in die Butterbrühe fliegt. Wehe, wenn die Eier zu früh im Teigkloß landen. Und wehe, wenn der Ofen während des Backens geöffnet wird, scheint Ingeborg Bachmann zu flüstern.“ Damit sind alle Kriterien aufgezählt die ein Scheitern verhindern sollten. Profiteroles sind Poesie pur, ein Dessert, das einem ihrer Gedichte nahekommt, davon sind die beiden Autoren überzeugt.

Spannend erzählt sind diese Lebensgeschichten allemal und die daran geknüpften Rezepturen versprechen Genussfreuden. Fast alle Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind von Hildegard auch grafisch portraitiert. Manche werden durch ihre Titelhelden vertreten. So zeigt sich anstelle von Herman Melville ein Wal, Moby Dick, im Suppenteller schwimmend. Robert Walser dagegen mutiert zu einer Wurst mit Zylinder und Gehstock.

Äußerst spannend und kenntnisreich ist das Nachwort, eine gegenseitige Aufforderung, das eigene Talent zu zeigen. Da führen sich die Maulhelden selbst vor, sprechen über ihre Visionen und vom wahren Maulheldentum. Ein sehr gegenwartsbezogenes Gespräch, auch Bilanz über Tote, die noch sehr frisch sind. Das alles kann doppelt und mehrdeutig interpretiert werden, ist gewollt von den Beiden. Ein spielerischer Schlagabtausch, manchmal etwas bemüht. Wer nicht spielt, verpasst sein Menschsein, lässt uns Christof wissen. Ich verstehe das als Aufforderung und versuche es mit Omelette surprise, einer heißen Hülle mit kaltem Kern, und denke an Walter Benjamins Satz: Die Mahlzeit ist nahrhaft wie Märchen. Rosa Luxemburg wird mit einem salzigen Kuchen gewürdigt, weil die Verteilung des Kuchens für sie von höchster sozialer Priorität war. Ihr zu Ehren wird er einfach Rosas Kuchen genannt. Max Frisch wird mit Ravioli bedacht, Hannah Arendt mit Königsberger Klopse in Kapernsauce und Kastanien in Caramelsauce. Hannah ist die einzige, die mit zwei Gerichten beehrt wird, weil sich Hildegard und Christof nicht einigen konnten, obwohl der Rezepttitel des Klopse-Gerichts mehr Konsonanten als der des Kastanien-Gerichts hat.

Frisch auf den Tisch ist ein sehr unterhaltsames Büchlein mit Geschichten, die nicht so allgemein bekannt sind über bedeutsame Literatinnen und Literaten. Zudem öffnen sich mit den ihnen zugeordneten Rezepten neue Ansätze und Inspirationen zum besseren Verständnis ihrer Werke. Wer es nicht glaubt, sollte zumindest den Versuch wagen und bspw. beim Schlürfen der Clam Chowder, der Muschelsuppe, ein wenig in Moby Dick hineinlesen. Oder zu Gottfrieds Kellers Seldwyla-Novelle Kartoffelstock mit pochiertem Ei essen. Das ist Weltliteratur in Leckerbissen – im wahrsten Sinne des Wortes.