Judith Stoletzky & Lutz Geißler, ca. 750 g Glück

Das kleine Buch von der großen Lust, sein eigenes Sauerteigbrot zu backen

Mit 20 Lochkamera-Fotographien von Hubertus Schüler
Becker Joest Volk Verlag, Hilden, 2018
100 Seiten, 16,50 Euro
ISBN 978-3-95453-159-2
Vorgekostet

Heute reisen wir ins BROTBÄCKERLAND.

Kann man(n) sich Poesie in der Backstube vorstellen? Ein Mann sicher schwerer als eine Frau würde ich meinen, aber dafür die Hand in den Ofen legen, auch nicht. Wilhelm Buschs schaurige Verse lassen das Brotbacken als eine Höllenqual erscheinen:

Und schließlich schob der Bäckermeister,
Nachdem wir erst als zäher Kleister
In seinem Troge baß gehudelt,
Vermengt, geknetet und vernudelt,
Uns in des Ofens höchste Glut.
Jetzt sind wir Brot. Ist das nicht gut?

(Wilhelm Busch, Das Brot)

Wie anders ticken da Judith Stoletzky und Lutz Geißler: Sie erleben ihr Glück mit 750 g Sauerteig.

Eine Benchmark, die nicht das Blaue vom Himmel verspricht, sondern Genuss pur. Ob Teig oder Brot, in beiden findet sich das Glück. Und das können Generationen von Sauerteigbrotessern kauend und Sauerteigbäckern knetend bestätigen. Judith, die schreibt, und Lutz, der backt, haben deshalb gemeinsam ein literarisches Brotbuch verfasst. Ca. 750 g Glück, ist das kleine Buch von der großen Lust, sein eigenes Sauerteigbrot zu backen, wie es im Untertitel so schön heißt.

Schon wieder ein Ratgeber, könnte man vermuten. Im gewissen Sinne stimmt das auch, denn wer denkt beim Brot backen an das Glück? Es passiert einem einfach. Der elastische, weiche, warme, reife und voluminöse Sauerteig verheißt drei Arten von Glück, behauptet das Autorenduo. Manchmal macht man zufällig alles richtig und das Brot, das man gebacken hat, ist essbar. Dagegen sind Brotsüchtige Jäger der Zuversicht. Sie sind getrieben von einer fixen Idee, einen Laib mit der perfekten Kruste, der perfekten Krumme und dem perfekten Geschmack zu backen; wenn nicht jetzt, dann morgen oder irgendwann. Und da gibt es noch das Glück der Stille, die eintritt, wenn der bittersüße Dehnungsschmerz an den Gehirnsynapsen erfahrener Bäcker synchron läuft mit den Dehn- und Streckübungen des vor ihm liegenden Sauerteigs. Das braucht Zeit, viel Zeit, wenn nicht Jahre und ist die höchste Stufe des Bewusstseins beim Sauerteigbrot backen. Vergleichbar dem schwarzen Gürtel im Judo. Stoletzky und Geißler beschreiben den Weg zum Glück beim Brotbacken. Acht Kapitel oder Stationen von Befindlichkeiten, die es gilt, lesend zu erfahren, um bei der Lust anzukommen, was wiederum mit Rezepten samt Anleitung belohnt wird. Zugegeben, man könnte auch abkürzen, direkt mit dem Lust-Abschnitt beginnen und sich ins Abenteuer des Sauerteigs stürzen. Aber wissen Sie, was Ihnen da verloren geht? Eine der großartigsten Beschreibungen vom Bäckerglück, von der Magie der Hefen und Essig- und Milchsäurebakterien, von den vereinnahmenden Düften der Starterkulturen, die aus den Schraubdeckelgläsern und Tupperdosen entweichen. Es ist auch ein Mut-Mach-Buch, weil es von Befindlichkeiten erzählt, die kaum angesprochen werden. Von der Angst, einen Anfang zu wagen, einzukalkulieren oder noch besser sich zugestehen, dass man scheiterte beim ersten selbstgebackenen Sauerteigbrot. In welchem Brotbackbuch steht – Scheitern ist erlaubt? Sich das einzugestehen, ist gar nicht so leicht. Denn, was benötigt man für einen Sauerteig? Etwas Wasser, ein bisschen Mehl, Salz und Zeit natürlich, that‘s all. Da kann doch gar nichts G’scheites dabei rauskommen, bei so wenig Inhalt, könnte man meinen. Und doch ist es genau das, was viele Sauerteig-Fans an diesem Brot so lieben. Und vor allem jene, die kein Industriebrot vertragen und an diversen Unverträglichkeiten, an Asthma, Reizbarkeit, Blähungen, Ekzemen oder einem sodbrennartigen Gefühl hinter dem Brustbein leiden, für die ist das Sauerteigbrot oft die letzte Rettung. Namhafte Sauerteig-ExpertInnen wie Vanessa Kimbell kamen über ihre Leidensgeschichte zum Sauerteig. Stoletzky zählt auf, was an Enzymen, Fettsäuren, Emulgatoren und anderen Inhaltsstoffen in kommerziellen Broten drin sein kann. Um auf den nächsten mutigen Schritt überzuleiten, der den Gedanken Taten folgen lässt. In Judiths Worten: Oft schreiten Menschen in einer dieser Nächte, nachdem sie eine Ewigkeit trübe Gedanken geknetet haben, endlich zur Tat. Sie fangen das Backen an. Nun kommt noch das Gedicht Archäischer Torso Apollo von Rainer Maria Rilke ins Spiel, mit dem ultimativen Aufruf: Du musst dein Leben ändern. Das betrifft auch Lutz Geißler und sein rettendes Rezept für einen Sauerteig, das wir allerdings erst auf Seite 66 erfahren. Bis dorthin erzählt Judith von diesem seltsamen Verhältnis von Bäckern, von Fans zum Sauerteig. Es ist eine kurze soziologische Abhandlung, die hier vorliegt. Eine gescheite, mit vielen sinn- und geistvollen Überlegungen und Sätzen wie: Man spürt instinktiv, dass Brot nicht ganz so schlicht ist wie die Summe seiner Zutaten und mehr als das sättigende Transportmittel für Käsescheiben oder Quittengelee. Oder wenn sie in einem Brotbackkurs die Teilnehmer fragt: „Denkst du, wenn du backst – und wenn ja, was?“, ist die Antwort bei allen dieselbe: „Nichts.“  Ganz das Gegenteil ist der Fall, wenn man sich auf Stoletzky und Geißler einlässt und durch die Kapitel Brot & Spiele, Mut, Liebe, Sinnlichkeit, Geduld, Konzentration, Großzügigkeit, Konsequenz, Lust liest. Dann erst weiß man, was es wohl alles zu bedenken gibt, bevor man seinen ersten Sauerteig ansetzt. Und das ist nicht zu unterschätzen, wie auch das Lesen nicht zu unterschätzen ist. Das ist genauso Arbeit, wie – und das ist wieder O-Ton Judith – die Verwandlung eines körperwarmen Batzens aus Wasser und Mehl in ein köstliches, Leib und Seele nährendes Brot. Hirn und Muckis haben ein Stelldichein mit dem Sauerteig.

Also. Wer hier ein klassisches Brobackbuch mit zig Rezepten erwartet, liegt falsch. Wer hier glaubt, die ersten 60 Seiten überspringen zu können, liegt nicht ganz so falsch. Aber sie werden nicht erfahren, wie ein Sauerteig unsere Persönlichkeit, unser Selbstverständnis, unsere Weltsicht und unsere Werte verändern kann. Ca. 750 g Glück von Judith Stoletzky und Lutz Geißler ist ein beneidenswert gut geschriebenes Buch übers Brotbacken und seine Protagonisten. Quasi die Starterkultur zur großen Lust, sein eigenes Sauerteigbrot zu backen. Schrift und Sauerteigkneten gehen hier eine fruchtbare Symbiose ein. Die aufs Wesentliche konzentrierten Fotos von Hubertus Schüler mit einer Lochkamera inszeniert, verleihen dem Druck(Back)Werk zusätzlich jene Spannung, die uns überkommt, wenn wir den Duft frisch gebackenen Brotes einsaugen. Und die Bildunterschrift unter dem Foto des gebrochenen Roggenbrots neben einem Glas Wasser lautet: Kosten Sie Ihr Brot mal so, wie es am allerüppigsten schmeckt: mit ohne alles und mit geschlossenen Augen. Versuchen Sie das mal mit Ihrem selbst gemachten Sauerteigbrot.

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