Heute reisen wir nach SÜDTIROL.
In ein Land, das immer eine Reise wert ist. Besonders im Herbst, wenn das Herbstlaub leuchtet, die Sonne noch warm ist, wunderbares Essen aufgetischt wird und vor allem der Wein … dann erlebt man einen Hauch italienisches Lebensgefühl. Dabei ist die Landschaft alles andere als italienisch. Schroffe Felsen, Wälder, sanfte Hügel und grüne Täler gehen ineinander über wie locker aufgeworfene Falten eines Seidentuchs, schreibt Karin Lochner in der Einleitung zu SÜDTIROL. Eine kulinarische Reise, das im Knesebeck Verlag erschienen ist. Der Reiz der Landschaft und ihre Farben zieht die Touristen an. Dahinter steht die Formen prägende Landwirtschaft, von der sich drei Fünftel in steilen Berghängen abspielen. Was früher zu Armut führte, ist heute ein Vorteil, denn es zwang die Bauern und Winzer, hochwertige, natürliche Produkte zu produzieren. Spezialitäten wie bestgereifter Käse, würziger Speck, frisch gekelterter Wein, herrliches Obst, Knödel, Krapfen und andere Köstlichkeiten gilt es zu entdecken. Aber auch ein Südtirol abseits von den bunten Reiseprospekten, üppigem Sommergrün und glitzernden Schneelandschaften. Südtirol mit seinen zahllosen Braun- und Grautönen – nicht im politischen Sinne – der Blick hinter die klischeehafte Touristen-Lock-Fassade, den wollen Karin Lochner und der Fotograf Peter von Elbert nach- und aufspüren.
Die meisten, die aus dem Norden mit dem Auto anreisen, müssen über den Brenner. Tauchen nach dem Grenztunnel ein in den engen Schlund des Eisacktales, fahren über endlose Autobahnbrücken, eingekeilt zwischen Bergen der Zillertaler und Stubaier Alpen hinunter, immer hinunter. Die meisten fahren durch. Wir aber bleiben stehen, lassen uns von Karin Lochner führen und entführen in eine Welt, die die Durcheilenden nie sehen werden. Unser erster Halt ist Der Alte Schlachthof in Brixen. Das Lokal mit Übernachtungsmöglichkeit direkt am Eisack gelegen, ist heute ein Ort der Begegnung oder neudeutsch Szenelokal mit historischem Flair. Auch Essen wird angeboten. Wir entscheiden uns für die Metzgernudeln, ein einfaches Gericht mit Sellerie und viel Rinderschulter. Dazu gibt es auch ein Rezept und das können wir dann zu Hause nachkochen und vergleichen. Der nächste Halt ist in Villanders, da geht es schon wieder den Berg hoch zum Schloss Gravetsch. Dorothea Pupp werkelt schon seit dem frühen Morgen in der Küche, ihre Kinder schlafen noch und der Mann ist im Kuhstall schon fertig mit dem Melken. Dorothea bäckt einen Mohnstrudel und Karottenmuffins, während wir uns die versteckten Räume und alten Steingewölbe anschauen, die ‚Kuchl‘ (alte Küche), die Selch, wo heute noch der Speck entsteht, die Tenne mit all den alten Gerätschaften. Wir erleben eine Zeitreise, bis uns der verführerische Duft von Dorotheas Gravetsch-Mohnstrudel wieder in die Gegenwart holt.
Später fahren wir weiter Richtung Bozen. Aber schon nach wenigen Kilometern statten wir dem Harald Gasser am Aspingerhof in Barbian einen Besuch ab. Er hat sich auf Gemüseanbau spezialisiert: Sellerie, Mangold, Rüben und anderes Grünzeug. Sein Gemüse hat einen legendären Ruf, wird von Südtiroler Spitzenköchen immer sofort komplett aufgekauft. Bei ihm entdecke ich die Sprossen der Winterrüben und erfahre, dass das früher die lebenswichtigen Vitaminlieferanten im Winter waren. Das Microgreen der Frühzeit.
Luftlinie nur wenige hundert Meter vom Aspingerhof entfernt, doch liegt der Ganderbachgraben dazwischen, sodass die Fahrt zum Lukashof ihre Zeit dauert. Dort züchtet Thomas Zanon Barbianer Hornochsen mit langer Mastzeit. Es ist eine Initiative, die darauf abzielt, dass die Konsumenten mehr Geld ausgeben für hochwertiges Fleisch. Und es funktioniert, nur Rezept mit Ochsenfleisch gibts keines und dabei hätte Hanna Perwagers Ochsenschleppsuppe so gut hierher gepasst.
Uns zieht es nun weiter, und nach wenigen Kilometern hinauf Richtung Seiser Alm bleiben wir auf halber Höhe beim Pflegerhof stehen, dort wachsen Kräuter in unermesslicher Vielfalt. Über 500 verschiedene Pflanzen, vom Anisbasilikum über den peruanischen Sauerklee bis zur Zitronenmelisse, alle wilden Ackerkräuter, auch die längst verschwundenen, werden hier angebaut. Ein Paradies für Kräuterfetischisten.
Das Prinzip des Südtirolbuches ist klar. Auf dem Erkundungsweg kreuz und quer durchs ‚Welschland‘ wird immer wieder an Orten Halt gemacht, um herauszufinden, was die Leute da so treiben. Vor allem auf Höfen trifft man findige Köpfe, die die natürlichen Ökosysteme und Kreisläufe in der Natur genau beobachten und nachahmen. Nachhaltig ist vielleicht der beste Oberbegriff für das, was sie tun: respektvoll umgehen mit der Natur und ernten fast nebenbei Qualität. Ihre Produkte sind gefragt.
Im Kapitel Bozen und Unterland treffen wir Adele Huber, die sich auf Lupinen-Anbau spezialisiert hat, auf Familie Kompatscher in Völs am Schlern, die ihr Glück in der Schweinezucht findet. Und Stefan Pramstrahler vom Grottnerhof, der verwöhnt seine Gäste mit Haubenküche und eigene Weine vom Feinsten. Das Rezept der Grottnerhof-Zwetschgenknödel kommt mir sehr gelegen, wie auch der Zwetschgen-Feigen-Rösti, habe ich doch jede Menge Zwetschgen und Feigen zu verarbeiten. Für einen weiteren Nachtisch hole ich mir Anleihen von Adele, d. h., die Panna cotta mit Altreier Lupine und karamellisierten Golden Delicious – schon beim Gedanken wird mir der Mund wässrig.
Neben klassischen Landesgerichten finden sich in SÜDTIROL einige innovative und spannende Rezepte, die nicht unbedingt das gängige kulinarische Südtirol-Klischee bedienen. Viel Farbe bringen Terlaner Spargel mit Sauce aus gerösteter Hefe und Leinkraut auf den Teller, eigentlich Farbtupfer, die den blassen Asparagus-Schiffchen Fröhlichkeit verleihen. Der Grünkohlrisotto mit Buchenpilzen und Parmesanfonduta ist nicht nur gesund; er schmeckt fantastisch und verträgt die kleine Sünd’ im Nachhinein problemlos: einen kleinen Quader von Mohntorte, da fällt einem die Zurückhaltung schwer. Nevesalm-Käseknödel wird mit Graukäse gemacht. Eingebettet in Blaukraut, versprüht dieses einfache Gericht, zu dem auch Krautsalat passt, ein sommerliches Alm-Hochgefühl, macht glücklich und satt – was will man mehr?
SÜDTIROL von Karin Lochner und Peter von Felbert ist ein Reise-Lesebuch mit kulinarischen Ambitionen. Der Anteil der vorgestellten Produzenten zu den Rezepten hält sich in etwa die Waage. Es wird eine Alpenküche mit traditionellen Anklängen präsentiert, die sich mitunter sehr zeitgemäß gibt. Keine wie sie Norbert Niederkofler auftischt, aber eine Landesküche, die sehr selbstbewusst ihre kulinarische Identität herausstreicht. Wobei Landesküche zu hoch gegriffen ist, weil dafür zu wenig Rezepte vorliegen. Die Fotos von Peter von Felbert verstärken mit ihrem Farbenrausch die Einzigartigkeit Südtirols, heben Menschen und ihr Umfeld aus dem Alltagsgrau heraus, lassen die Landschaften in traumhaften Panoramen fast unwirklich und geheimnisvoll erscheinen. Dabei werden auch Persönlichkeiten sichtbar, wie Traudl Schwienbacher, die Kulturinitiativen im Ultental initiierte, oder Juna, ein Mädchen mit ihrem Zwergpony, das am Fuße des Ortler lebt und so vertrauensvoll in die Zukunft schaut. Karin Lochner schreibt sehr plastisch, entwirft ein anschauliches Bild vom heutigen Südtirol und seinen Menschen, denen man auch auf der Straße – einfach so – begegnen könnte. Die Rezepte sind unkompliziert, können problemlos nachgebaut werden. Dazu zählen die ‚Gerschtsupp‘ (Gersten-, Graupensuppe), die im Vinschgau auch ‚Brei‘ genannt wird, oder die Brotsuppe, die mit hineingeschnittenen Bauernwürsten eine Kraftmahlzeit ist. Zur Supp’ gibt es traditionell Vinschger Paarlen, kleine Fladenbrote aus Roggenvollkornmehl. Viele Rezepte haben die Zeit überdauert und zählen wohl wegen ihrer Einfachheit zu den besten. Andere Südtiroler Gerichte werden es auch noch in den Olymp schaffen. Eine kleine potenzielle Auswahl finden sich in SÜDTIROL, dem Lese-Kochbuch von Karin Lochner.