Heute reisen wir nach Vietnam.
In ‚Die Jahrestage‘ von Uwe Johnson spielt dieses asiatische Land eine wichtige Rolle. Zeitungsmeldungen aus der New York Times von 1967 fließen in den Roman ein und dokumentieren so das schockierende Kriegsgeschehen mit Todesmeldungen amerikanischer Soldaten, den Agent Orange Einsatz, der großflächig Boden und Wasser vergiftete, sowie das endlose Leid der zivilen Bevölkerung. 100.000-e Vietnamesen flohen. Auch Xuan floh mit ihren vier Kindern, drei Buben und einem Mädchen. Das war 1967 und die Jüngste der Familie, Kim, war gerade 10 Jahre alt. Dass die Flucht gelang, war nicht selbstverständlich, aber sie schafften es nach Kanada. Dort begann Kim Thúy eine einzigartige Karriere: Nach einem Rechtsstudium wechselte sie in die Gastronomie und ist heute eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen Kanadas. Nun hat sie, nach drei stark autobiographisch geprägten Romanen, ein Kochbuch geschrieben: Das Geheimnis der vietnamesischen Küche ist im Verlag Antje Kunstmann auf deutsch erschienen.
Bemerkenswert ist, dass Thúy, die das Restaurant ‚Ru de Nam‘ betrieb, nicht kochen konnte, wie sie in einem Interview bekannt gab. Auch ihre Mutter hatte vor ihrer Ankunft im Westen nie gekocht, aber die Sehnsucht nach ihrer vietnamesischen Heimat veranlasste die Frauen dieser Familie, sich mit ihrer Ursprungsküche zu beschäftigen. So gelang es Mutter Xuan nach unzähligen gescheiterten Versuchen, sogar Reispapier herzustellen, das für die vietnamesischen Frühlingsrollen unerlässlich ist. Und so wird es auch niemanden verwundern, dass Das Geheimnis der vietnamesischen Küche uns über diese Frauen erschlossen wird.
In der Einleitung erläutert Kim zunächst die Bedeutung von Essen in der vietnamesischen Gesellschaft. Nämlich Speisen als Ausdrucksmittel von Gefühlen wie Dankbarkeit, Freude oder Zuneigung einzusetzen. Kaum, dass man ein vietnamesisches Haus betritt, wird man gefragt: Hast du schon gegessen? Möchtest du etwas essen? Koste mal diese Windbeutel! Gemeinsame Mahlzeiten an einem großen Tisch sind in Vietnam obligatorisch und deshalb ist auch Kims Familie in dieses Kochbuch eingebunden. Mit ihnen gemeinsam begeben wir uns auf eine Kochreise durch Vietnam.
Es beginnt mit der großen Schwester 3, die Mutter Kims, die uns die Basics der vietnamesischen Küche vorstellt. Das sind zunächst verschiedene Sorten von Reis- und Glasnudeln, viele Kräuter, unzählige Gemüse, kaum bekanntes Obst und natürlich Reispapier. In die Gartöpfe wandern vietnamesischer Koriander, Betelblätter, Fischminze, Chayote, Wasserspinat, Maniok, Vogelaugenchili, Fischsauce, Nudeln, Fleisch und einiges mehr, um daraus so wunderbare Gerichte zu zaubern wie Pho, eine traditionelle Nudelsuppe, oder Cá Chién, ein Lachssteak mit zwei Beilagen, oder Bò Kho, ein Rinderragout mit Zitronengras, oder Kem Chuói, das sind Eisbananen, also Eislutscher der anderen Art.
Das wunderbarste an der vietnamesischen Küche ist die große Vielfalt der verschiedenen Kräuter, unzähliger Gemüse und Wasserpflanzen. Vor Ort gegessen, verströmen sie manchmal einen leichten Hauch von Teich. Aber es sind die frischen Kräuter, um die sich eigentlich die ganze vietnamesische Kochkunst dreht. Den Charakter dieser Länderküche verdeutlicht Kim nachdrücklich in der Beschreibung ihrer sinnlichen Erfahrungen mit Fischminze, Schnittknoblauch, Thai-Basilikum, Koriander und anderen Kräutern: „Schon beim Hineinbeißen verbreitet sich ihre Frische über die Lippen im ganzen Mund. Beim Kauen entfalten und verbinden sich ihre wechselnden Aromen. Und hinterlassen tief in der Kehle noch lange die Erinnerung an den Duft des Kräuterbuketts … das wie ein Kuss zwischen Liebenden schmeckt.“ Die Liebe ist auch eine der wichtigsten Ingredienzien in Kim Thúys Büchern. Allerdings behaupten nicht wenige Vietnamesen, dass die wichtigste Zutat die Fischsauce sei. Sie verbindet alles miteinander. Die Fischsauce hat in Vietnam einen ähnlichen Stellenwert wie das Maggi für viele Mitteleuropäer. Kims Onkel 9 würde behaupten, dass ein blutiges Steak erst dann gut schmeckt, wenn man es unmittelbar vor dem Hineinbeißen mit ein paar Tropfen Fischsauce mit frischem Chili beträufelt. Da geben ihm sicher viele Landsleute recht. Wahrscheinlich beginnt deshalb der Rezeptteil mit der Zubereitung einer verdünnten Fischsauce (Nuóc mám chua) sowie der Fischsaucen-Vinaigrette (Nuóc mám gói), die sich lediglich in den Mengenverhältnissen unterscheiden. Von beiden sollte man sich einen kleinen Vorrat zubereiten, denn sie werden in vielen Mahlzeiten der vietnamesischen Küche verwendet. Ehe wir zu den eigentlichen Gerichten kommen, werden weitere elementare Grundlagen der vietnamesischen Küche vorgestellt. Da wäre etwa die Frühlingszwiebelsauce oder eine aromatisierte Hoisin-Sauce oder geröstetes Reismehl oder vietnamesisch eingelegtes Gemüse sowie Schalotten in Reisessig, die allesamt immer wieder in der vietnamesischen Küche benötigt werden.
Es ist Ly Kim Há, auch Tante 4 genannt, die uns dann einige vietnamesiche Suppen vorstellt. Beginnend mit einer leichten Suppe Canh, die nur aus Wasser, Fischsauce und Spinat besteht, es aber in sich hat. Sie wirkt wie der Calvados, der in der französischen Küche zwischen den Gängen als Papillen-, d.h. Zungenreiniger gereicht wird. Ein besonders angenehmes Süppchen ist Canh báu, die, je länger man sie ziehen lässt, umso besser schmeckt. Statt des eher schwer erhältlichen Wachskürbis kann man grüne oder gelbe Zucchini verwenden. Einfach aber sehr gehaltvoll ist die Fisch-Tomaten-Suppe, die mit Liebstöckel, Limettensaft und Korianderblättern gewürzt, meine Gäste zum Schwärmen brachte.
Tante 5, mit bürgerlichem Namen Ly Kim Hái, widmet sich dann den Nudelschalen und Kurzgebratenem. Schwer überzeugt hat mich das Rezept Schweinefleisch mit Zitronengras, wobei ich allerdings statt Schweinebrust Hühnerfleisch verwendete. Wahrscheinlich könnte man auch Tofuwürfel nehmen. Wie sehr die vietnamesische Küche von China beeinflusst ist, merkt man spätestens dann, wenn der Wok zum Einsatz kommt. Beim wokgebratenen Rindfleisch wird jede Portion einzeln zubereitet, damit die Hitze des Woks ins Fleisch geht. Und man höre und staune, es kommt 1 TL Maggi-Würze hinein. Ein köstliches Essen, das mit Jasminreis serviert wird.
Tante 6, eine erfolgreiche Managerin mit fünf Fuß Lebensgröße, das sind umgerechnet 1 Meter 60, zeigt auf, wie variantenreich mit Gemüse in Vietnam gekocht wird. Die gegrillten Auberginen auf vietnamesische Art bringen ihren Geschmack erst durch die Fischsauce-Vinaigrette und Frühlingszwiebelsauce so richtig zur Geltung. Ein doppelseitiges Foto einer Marktszene von oben betrachtet, lässt erkennen, welch hohen Stellenwert das Gemüse in der asiatischen Küche hat. Und das spiegelt sich in den Rezepten wie Kohlsalat mit Hühnchen Mungbohnensprossensalat und andere.
Tante 7, Ly Kim Hanh, liebt Gebratenes aber nicht Frittiertes, obwohl sie das Frittieren sehr mag. In diesem Kapitel werden allerlei Zutaten, vom Hühnerflügel über Rinder- und Schweinehack bis zum Wolfsbarsch auf verschiedenste Arten gebraten. Aber es ist Tante 8, Ly Kim Nhán, die den Backofen anwirft. Ob Rinderhackbraten mit Zwiebeln, vietnamesischer Hackbraten oder mein Favorit, das karamellisierte Schweineragout Thit kho, hier geht es richtig heiß her.
Am Ende besänftigt große Schwester 2, Ly Thanh Kim Thúy, sie verwöhnt uns mit Desserts und Süßigkeiten. Während uns die Tapiokacreme mit Bananen die wenig bekannte, exotische Seite Vietnams zeigt, entdecken wir im Karamellpudding Bánh Flan die französische Kolonialvergangenheit in Indochina. Am Ende aber stehen Natalies Machatee-Kekse nicht nur symbolisch für die Handreichung zwischen Ost und West, nein, sie schmecken m. E. besser zum Tee als zum Kaffee. Aber das ist bekanntlich Geschmackssache.
In dem quartformatig angelegten Kochbuch kommen die ganzseitigen Fotos voll zur Geltung. Alle Tanten und großen Schwestern sind zweimal portraitiert, was eine gewisse bildhafte Dynamik erzeugt und auch die Bedeutung der Familie herausstreicht. Es sind vor allem sehr fröhliche Frauen. Aber es gab auch Männer in Kims Leben und eines Tages wird sie von ihnen erzählen. Die Familien- und Rezeptfotos von Sarah Scott wie auch die Vietnamaufnahmen von Gilles Dufour sind eindrucksvolle Momentbilder mit Hang zur Reduktion auf das Wesentliche. Eher kleine Kunstwerke wie das Titelbild: Ein Tofuwürfel mit Zitronengras, eingeklemmt zwischen zwei Essstäbchen. Und wir Betrachter wissen, dass es gleich verspeist wird von der schemenhaften Person im Hintergrund, die die Stäbchen in der Hand hält.
Kim Thúy stellt uns mit Das Geheimnis der vietnamesischen Küche eine Länderküche vor, die einfach aber aromatisch sehr gehaltvoll ist. Es ist erstaunlich, dass die vietnamesische Küche selbst mit relativ wenigen Zutaten eine so große Bandbreite an Duftnoten freilegt. Und wer die Gelegenheit hat, mit Vietnamesen übers Kochen zu reden, wird feststellen, sie reden über den Geruch.
Ein vietnamesischer Schriftsteller hat über die klassische vietnamesische Nudelsuppe Pho geschrieben, dass sie nicht nur eine Speise ist, sondern eher wie eine Sucht. Er hat zweifelsohne recht. Ich würde aber meinen, das gilt für viele vietnamesische Gerichte. Einige davon habe ich bereits vorgestellt. Also Vorsicht: Das Geheimnis der vietnamesischen Küche kann süchtig machen.