Heute reisen wir nach BERLIN.
In dieser Stadt ist der Bär los – im wahrsten Sinne. Scharen von Touristen, Aussteigern, Newcomern, Kulturschaffende und Spekulanten, sie alle wollen die Bundeshauptstadt erobern. Berlin ist so etwas wie das europäische Silicon Valley und New York in einem. Nirgendwo ist die Quote an Start ups-Gründungen so hoch, und nirgendwo manifestieren sich Lebensstile so stark über Esskultur wie in Berlin. Das mögen sich wohl auch Mengting Gao und Verena Hubertz gedacht haben, als sie kitchen stories gründeten. Eine Idee, so einfach wie durchschlagend ist ihre Internet-Kochplatt- form, auf welcher Rezepte zum Downloaden sind. Nun, werden Sie einwenden, das gibt es doch schon tausendfach. Ja, schon … aber nicht so … Die Gründer*innen der Berliner Rezepte-App animieren mit ausführlichen step by step-Anleitungen und Videos zum Kochen, frei nach dem Motto ‚anyone can cook‘. Heute kochen sie mit mehr als 17 Millionen Nutzer*innen weltweit. Und nun versuchen sie einen Schulterschluss zwischen zwei Medien herzustellen, bereichern die digitale Welt mit einer gedruckten Version ihrer Idee.
In anyone can cook sind auf 320 Seiten die liebsten Gerichte der kitchen stories-Macher*innen vereint. Die Ideen sind nach wie vor die selben: inspirieren mit einfachen, unkomplizierten Rezepten. Und animieren zum Nachkochen, auch unter der Woche, von einem Essen, möglichst jeden Abend. Deshalb sind viele Gerichte in 30 Minuten tischfertig, längstens in 60 Minuten. Für einige benötigt man nur 5 Zutaten und für manche nur einen Topf. So die einleitenden Absichtserklärungen. Aber die Autor*innen wollen noch mehr: Sie wollen junge Menschen an den Herd bringen, ihnen ein Rüstzeug an die Hand geben, weshalb in einer Art Crashkurs die notwendigsten Grundlagen des Kochens vermittelt werden. Die ersten drei Kapitel widmen sich also den Küchenutensilien, der Vorratskammer und den Techniken vom Schneiden, Blanchieren bis zum Kochen, Braten und Sautieren. Die wesentlichsten Fragen werden hier kurz und bündig – und vor allem für Einsteiger – bildhaft erklärt. Da erfährt man, was Julienne schneiden, also in Streifen geschnittenes Gemüse, bedeutet, wie Reisnudeln gekocht werden usw.. Das eigentliche Kochen beginnt ab Seite 47 mit Salate & Suppen. In weiterer Folge geht es dann um Vegetarisch & Vegan, Pasta, Fleisch und letztlich Aus dem Ofen. Zugänge, die zugeschnitten sind auf eine neue Generation Essbewußter, so scheint mir. Hier gibt es kein Dessert, keinen Kuchen; den Kalorien und dem Zucker wird weitgehend abgeschworen. Eine interessante ernährungsbewusste Linie wird hier verfolgt. Der Salad Bowl mit gebackenen Süßkartoffeln und Perlgraupen ist das beste Beispiel dafür. Ein perfektes Gericht, einfach und farbig schön. Nichts anderes als eine fotogene Art der Resteverwertung, wie es im Vorspann heißt, mit der Möglichkeit der grenzenlosen Abwandlung, weil jede einzelne Zutat durch eine andere ersetzt werden kann. Im vorliegenden Rezept trifft Avocado auf Gurke, Süßkartoffel, Romanasalat, Sonnenblumenkerne, eingelegte Zwiebeln; das alles zusammen wird mit Agavendicksaft, Weißweinessig und Olivenöl gedresst. Sehr gesund. Anschließend folgt eine kurze Abhandlung über den Salad Bowl deiner Träume in sechs Schritten. In einer Art Küchen-Matrix werden Rezepturvariationen anhand von Getreide, Gemüse, Dressings und Toppings durchdekliniert und eröffnen so den individuell angepassten Salad Bowl Kosmos. Mehr noch: Die Kombinationsmöglichkeiten sind eine Spielwiese des Erkundens und Probierens, bis der perfekte Salad Bowl steht.
Das ganze ist auch grafisch sehr klar und nachvollziehbar aufbereitet. Eine Art Roter-Faden-Prinzip, das sich durch das ganze Buch zieht. Die Spinat-Bohnen-Suppe, das zweite Gericht, geizt nicht mit Zutaten aus dem Gemüsegarten. Piktogramme am Seitenrand informieren, dass alles innerhalb von 50 Minuten zubereitet wird, dass viele davon satt werden können, es also ein ideales Familienessen ist. Diese Suppe erinnert die Autorin Devan an ihre Heimat Minnesota, die flüchtigen Aromen aus der Suppenschüssel machen sie glücklich.
Jedes Rezept ist flankiert von Symbolen, die markante Eckdaten liefern. Man bekommt eine Orientierungshilfe hinsichtlich Aufwand, Saisonalität, spezieller Ernährungsweise von vegan bis low carb, aber es werden auch sozioökonomische Aspekte berücksichtigt, bspw. Gerichte, die vorzubereiten, die familientauglich sind usw.
Eine besondere Rolle spielen auch die good-feeling Seiten. Schön demonstrativ, doppelseitig große Fotos von einer glückseligen Community. Die Küche ist Bühne, und wir schauen den App-Protagonisten wohlwollend zu beim Rühren der Sauce, beim Wenden des Pfannkuchens … ein inszeniertes Panorama der Essenszubereitung.
Die Süßkartoffel-Linsen-Suppe ist mit 5 Zutaten eher die Ausnahme, die meisten Gerichte sind reichhaltiger, was natürlich nichts über die Qualität aussagt. Für einige Speisen werden besondere Zutaten benötigt, die nur in speziellen Länder-Shops in größeren Städten oder via Internet erhältlich sind, wie Agavendicksaft, ungesüßte Kokoschips, Sumach oder Ajvar, ein Paprikamus, das man selber machen könnte, wenn man weiß wie es geht.
Generell ist es eine sehr frische Küche die hier präsentiert wird, mit mediterranen und asiatischen Akzenten. Pasta mit Brokkoli und Salsiccia, Orecchiette in Gorgonzolasoße mit Radicchio und Walnüssen oder Thailändische Reisnudelpfanne um drei anzuführen.
Man merkt an der Formulierung wie auch an der Herangehensweise neue Gerichte zu kreieren, dass die Autor*innen noch sehr jung sind. Da wird drauflos fabuliert, sodass mitunter der Eindruck entsteht, man sitzt ihnen gegenüber. Es ist ein erzählerisches Heranführen ans Kochen. Das birgt aber auch Ungenauigkeiten in sich. Bspw. heißt es im Vorspann zu Thailändische Reisnudelpfanne „… Achte beim nächsten Einkauf doch mal auf die unterschiedlichen Varianten von Sojasoße – hier kommen sie richtig zur Geltung!“ Diese locker, lässige Ausdrucksweise hat natürlich Charme, und ich bin gespannt, wie das umgesetzt wird. An Zutaten werden dann für das Pfannengericht je 4 EL dunkle und süße Sojasoße gelistet. Schön wäre hier im Vorspann bereits ein wenig mehr über Sojasoßen zu erfahren. Dass man natürlich gebraute Sojasoßen verwenden soll, weil sie vollmundiger und reichhaltiger im Geschmack sind. Oder, dass die süße Sojasoße einfach selbst hergestellt werden kann, als Reduktion von Palmzucker und dunkler Sojasoße zu gleichen Anteilen. Hier wird klar, dass der Anspruch der Autoren nicht in der Produkt-Aufklärung sondern in der Vielfaltigkeit liegt, mit Kombinationen ein breites Gerichte-Spektrum zu erzeugen. Ein Konzept, das sie konsequent durchziehen. Deshalb belasse ich es bei diesem Hauch einer konstruktiven Kritik, um nicht als ‚Erbsenzähler‘ bezichtigt zu werden.
Zum Beispiel habe ich zwei Ofengerichte entdeckt, die ich so noch nicht zubereitete. Die herzhaften Pfannkuchen aus dem Ofen mit geräuchertem Lachs und die knusprigen Ofenkartoffeln mit Koriander-Pesto und griechischem Joghurt überzeugten meine Testesser und Versuchskaninchen restlos. Nichts blieb übrig, alle waren sie pumperlsatt.
Sehr gut geschmeckt haben meinen Enkeln sowohl die Pasta mit Mangold und Salsiccia, wie auch die Fleischbällchen mit Kartoffel-Meerrettich-Püree. Zwei Rezepte, für die ich idealerweise Zutaten aus eigenem Anbau verwendete. Bei den Fleischbällchen kann man sogar zwischen sechs Varianten wählen, ob mit Dill, mit Currypaste, mit Umami-Geschmack oder anderem, die Wahl entscheidet sich mit den Gästen oder dem Gusto, den man gerade hat.
anyone can cook ist ein sehr buntes und im positiven Sinn sehr fotolastiges Kochbuch von einem sehr jungen Autor*innen-Team, das sich selbst gerne feiert. Indirekt ist es auch ein Trendkochbuch, spiegelt es doch m.E. die kulinarischen Vorlieben der 30plus Generation. Das heißt aber nicht, dass andere ausgeschlossen werden. Dieses Kochbuch aus dem Penguin Verlag ist ein spannender Weg, Rezepte digital und analog zusammenzuführen. Wer hier nicht fündig wird, kann also immer noch auf die App ausweichen – anything goes.