Heute reisen wir nach MITTEL- und SÜDEUROPA.
Unser Reiseführer ist Lojze Wieser. Seines Zeichens Kärntner-Slowene, Österreicher, Europäer und Verleger. Mit dabei waren Kamera- und Tonmänner, sie zeichneten auf, was gesprochen, gegessen und getrunken wurde. Sie filmten die Landschaften und Dörfer, hielten Lojzes Begegnungen mit Menschen in den besuchten Regionen fest. Sieben Stationen sind es: Der slowenische Karst, die Innerschweiz, Siebenbürgen, die toskanische Maremma, Lausitz, Galicien im Norden Spaniens und das Gailtal. Warum diese Regionen ausgewählt wurden, erfährt man nicht. Aber die entscheidenden Ausgangsfragen, Impulse, die zu diesen Reisen geführt haben:
Gibt es eine „europäische Tafel“? Wie schmecken europäische Speisen? Und weitere Fragen, die zu Geschichten des Essens wurden. Zusammengefasst ergeben sie die Historie der Entwicklung des Essens, die an die Geschichte der Sprachen erinnert, die einem ständigen Werden und Vergehen unterliegt, meint Lojze Wieser und verortet so eines seiner Lebensthemen. Die Reise durch die Kochtöpfe spezieller Regionen, es sind auch Gebiete von Sprach-Minderheiten wie die der Lausitzer Sorben oder Siebenbürgen-Sachsen, wurde zunächst auf digitales Zelluloid aufgezeichnet. Dann in Schrift umgeformt und liegt nun als schwergewichtiges Buch vor mir. Der Geschmack Europas, so der Titel, ist im Wieser Verlag erschienen.
Der Anspruch Wiesers ist hoch. Er will alle Sinne bedienen und mitteilen, was er vor allem mit seiner Zunge auf dieser Reise erschmeckt hat. Und er zieht dabei viele Register, macht daraus quasi eine Multimediashow. Er lässt AutorenkollegInnen zu Wort kommen, WissenschaftlerInnen und hier vor allem Historiker, Metzger, Künstler, Frauen die traditionell kochen, Männer die keltern, er greift auf das Internet zu, führt Begriffe von Produkten und Speisen in mehreren, ja vielen Sprachen ein, zeigt Bilder aus der Sicht der Filmer und zeigt auch die Filmemacher als Objekt und Teil des Projektes. Lojze Wieser ist Feldforscher und Chronist gleichzeitig und das geht oft daneben. So einfach, so klar, denn der Autor will zu viel. Alle benutzten Medienformen versucht er zu bündeln, ohne Akzente zu setzen. Meine Schlussfolgerung legt nahe, dass Wieser an seinen eigenen Ansprüchen scheitert. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Idee, den Geschmäckern Europas nachzuspüren, ist super. Die Übersetzung aus dem Medium Film in das Medium Buch ist sehr aufwändig, keine Frage, und größtenteils auch gut gelungen. Aber Wieser ergänzt das gefilmte Wissen, die Geschichten um die lokalen Produkte, Düfte und die Essenszubereitung mit vielen fremden Zitaten, Radiointerviews, Emails u.a., ohne eine klare Struktur erkennen zu lassen. Eine Endloswurst von Sätzen entstand, wo Wichtiges neben Unbedeutendem steht, was das Lesen zur Qual macht. Am schlimmsten sind die eingestreuten Zuschauerreaktionen auf die Filme, die offensichtlich im 3sat-Kanal ausgestrahlt wurden. Diese Zitate von Freunden, Bekannten und Prominenten bleiben substanzlose Lobhudeleien ohne inhaltliche Relevanz. Auch die vielen Hervorhebungen von vor allem langen literarischen Zitaten finde ich übertrieben, wenn sie dann im Fließtext eins zu eins wiedergegeben und da noch einmal bspw. farblich markiert werden (die Kunst des Prsut-Schneiden). Und einige tauchen sogar noch ein drittes Mal auf. Dabei ist das Geschichtchen von der Flasche Teran des Dichters Miroslav Sincic in kroatisch und deutsch so schön, dass es wunderbar für sich allein – seitenfüllend mit Bildunterlegung – stehen kann. Es fehlen mir auch genauere Hinweise zu den Abbildungen, die Bedeutung für die Reportage haben: Welches Dorf, welches Bauwerk ist das? Zwischenüberschriften hätten dem Werk mehr Übersichtlichkeit verliehen. Lästig sind auch die inhaltlichen Wiederholungen, wie bspw. auf Seite 57: „Alles was existiert, kann und soll zum Genuss werden …“ und sechs Zeilen weiter heißt es: „Stefan Wieser geht davon aus, dass alles, was existiert, zum Genuss werden kann und soll. “ Einmal ist es verzeihbar, aber öfter? Hier scheint das Lektorat versagt zu haben.
Dabei finden sich im Geschmack Europas so schöne Geschichten wie die des 97jährigen Fleischers Dragomir Svagelj und seiner Kunst des Prsut(Schinken)-Schneidens. Oder die Spree-Meditation mit Conrad Hagen und Kapitän Frank in der Lausitz. Bewegend auch die Rückkehr in die baskische Heimat eines gewissen Alejandro nach 45 Jahren Glückssuche in der Fremde. Und auch – was uns Rosalia Bujan erzählt – das Essen, das sie früher vor der Feldarbeit zubereiteten: Empanadas, Teigtaschen mit der würzigen Chorizowurst mit Paprika und Knoblauch, oder in der exquisiten Variante mit Herzmuscheln.
Jedem Kapitel widmet der Autor zwischen 30 und 50 Seiten, die immer mit einem Rezeptteil abschließen. Die Rezeptbeschreibungen sind in der Regel sehr einfach gehalten, die Zutaten vielfach nur aufgelistet und nur zum Teil mit genaueren Mengenangaben versehen. Selbst die Innerschweizer, deren nationales Erbe die Präzision ist, geben nur bei drei von fünf Rezepten genaue Mengenangaben an. Und so waren auch Hansruedi Fischli und Barbara Schmidthaler mit Zahlen zurückhaltend bei den Älpler-Makronen, wobei angemerkt werden soll, dass in der Schweiz Makronen meist mit g geschrieben wird. Und da die Älplermagronen ein so wunderbares Gericht ist, erfahren Sie am Ende detaillierte Angaben der Zubereitung von mir. Meine Alplermagronen habe ich wahrscheinlich von Marianne Kaltenbach, aber das weiß ich nicht mehr genau.
Einige Gerichte habe ich nachgekocht. So die sommerliche Jota, diesen gehaltvollen Eintopf aus dem Karst. Allerdings, jahreszeitlich angepasst, sommerlich leicht, mit Zucchini und anderem Gemüse aus dem Garten. Daher auch mehr Ritschert als Jota und ohne Schuss Teran, den würzigen Karstwein. Geschmeckt hat es allen.
Überrascht war ich von dem Siebenbürgener Vorschlag für das Schmalzbrot mit Zwetschgen. Eine abenteuerliche Kombination, dachte ich, aber der erste Bissen überzeugte und erzeugte Hunger nach mehr.
Auch die Empanadas mit Herzmuscheln nach Rosalia interessierten allein schon wegen des Teiges. Mais- und Roggenmehl im Verhältnis 1:2 mit Wasser angerührt, ergab bei meinem Versuch nicht mehrere Stücke, sondern eine große Teigtasche, die das ganze Backblech einnahm. Typisch für spanische Empanadas.
Zuguterletzt noch eine kritische Anmerkung. Wer nach der Gailtaler Kirchtagssuppe, nach Kaskrapfen, dem sorbischen Kartoffelsalat, einer maremmischen Panna cotta mit Anis oder dem Schweinsfilet mit Steinpilzen und Speck gedünstet sucht, der sucht vergeblich: Es fehlt ein Register und das ist mehr als schade. Die Rezepte sind Kulturvermittler, definieren also den regionalen Geschmack Europas, sie sollten auch in einem Index zu finden sein.
Man sieht den Aufwand und Fleiß des Autors beim Durchblättern. Auch die Freude in der Begegnung mit Menschen anderer Kulturkreise. Schön layoutiert, verlangt Lojze Wiesers Der Geschmack Europas mir als Leser einiges ab, nämlich Arbeit. Man erfährt Neues über die Esskulturen von sieben ausgewählten europäischen Enklaven. Vieles möchte man gerne selbst vor Ort kennenlernen. Aber erst wenn man einige der vorgestellten Gerichte nachgekocht und gekostet hat, weiß man, dass es sowohl autochthone und solitäre Speisen gibt als auch Ähnlichkeiten mit manchen Essen in andernen Kulturkreisen. Für Nerds der Gastrosophie bietet dieses Länderkochbuch auf alle Fälle eine gute Möglichkeit, den Geschmack Europas zu erkunden.