Heute reisen wir nach SKANDINAVIEN.
Das ist natürlich eine vermessene Ansage. Der geographische Raum Nordeuropas ist rund 3,5 Mio km2 groß, und um eine bessere Vorstellung von der gigantischen Größe zu bekommen, genügt es zu wissen, dass 40 Österreichs darin Platz hätten. Dementsprechend unterschiedlich ist auch die Geo- und Topographie dieser enormen Landmasse, die sich prägend auf alle Lebensbereiche auswirkt, so auch auf die Esskultur. Skandinavienreisende nach ihren Esserfahrungen befragt, bleiben mit ihren Antworten meist vage, bzw. bedienen Klischees. Das hängt einerseits mit der Anpassung an mitteleuropäische Essstandards zusammen, andererseits mit dem Auftischen typisch skandinavischer Gerichte, wie Graved Lax, Smorrebrod, Trollkrem und anderes. Vergleichbar ist das mit den Tirolerabenden und seinen Schuhplattlern, die als Inbegriff einer alpenländischen Kultur verkauft werden. Also hier wie dort: Fremde bekommen kaum Einblick in die Privatsphäre der Einheimischen und deren spezifische Essgewohnheiten. Zudem, es gibt keine skandinavische Esskultur. Aber es gibt ein neues Kochbuch von Magnus Nilsson. Nordic Das Kochbuch, das im Phaidon Verlag erschienen und viel mehr als nur ein Kochbuch ist. Eine möglich gewordene Unmöglichkeit. Nämlich, die Küche Skandinaviens umfassend zu beschreiben. Mehr Dokumentation und ethnographische Nabelschau über einen geographischen Raum, den wir zugegebenermaßen nicht wirklich kennen. Dominant die Rezepte – über 700, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Über zwei Jahre lang bereiste Nilsson die nordischen Länder, suchte und fand viel Neues und Interessantes über eine Esskultur, die er zu kennen glaubte. Es ist spürbar, wie viel ihm die Arbeit daran bedeutete. Nordic Das Kochbuch, aus dem auch der Geist der unzähligen InformantInnen spricht, ist ein Meisterwerk, das gleich vorweg.
Ein vorangestellter Aufsatz über „Eine kurze Geschichte der nordischen Küche“ von dem Historiker Richard Tellström, kurzweilig und aufklärend geschrieben, sollte gelesen werden.
Da erfährt man, welche Bedeutung Brot als Hauptnahrungsmittel hatte, dass die Kartoffel sehr spät eingeführt wurde, der Speiseplan von saisonalen Bedingungen stark beeinflusst ist usw. Das hatte zur Folge, dass die kurzfristigen Überangebote, bspw. Moltebeeren, Lachs etc. schnell verarbeitet und haltbar gemacht werden mussten. So hat Konservieren, Trocknen, Räuchern, Pöckeln und Einlegen in der nordischen Küchentradition einen großen Stellenwert. Darauf weist Nilsson auch bei den Rezepten immer wieder hin. Vielleicht kann man das am besten so zusammenfassen: „An der Küche und den Rezepten lässt sich eine Art Rationalisierungsmentalität erkennen, mit der im Alltag sparsam und kontrolliert gekocht und gegessen, an Festtagen groß aufgetischt wurde.“
Aber ehe wir uns weiter über die nordische Küche auslassen, sollten wir uns ein Butterbrot mit Käse machen. Das essen viele Nordländer jeden Tag, ein identitätsstiftendes Merkmal skandinavischer Esskultur. Eine Tradition, die sich über 1000 Jahre zurückverfolgen lässt. Und, ein Geschmacksakkord, der für die Menschen wichtig ist.
Mit schönen einfachen Bildern, die kulturellen Reichtum widerspiegeln, werden die thematischen Abschnitte immer eröffnet. Ob Wildenteneier in der Aschekiste, Gerätschaften zur Milchverarbeitung, Küstenlandschaften, Kochhütten, Bäckerinnen bei der Arbeit, Restaurantszenen, die Bilder passen zu den entsprechenden Kapiteln. Über Produktgruppen tastet sich der Autor an die skandinavische Küche heran.
Nilsson beginnt mit dem Ei. Das fasziniert ihn, ist nährstoffreich, lange haltbar und unglaublich vielseitig verwertbar. Gekochte Eier mit Dorschrogencreme oder Eier in Currysauce sind die ersten Rezeptvorschläge. Und dann geht er schon über zum nächsten Kapitel, das sich den Milchprodukten widmet. Von Topfkäse bis zur überbackenen Biestmilchcreme* reichen die Vorschläge. Spätestens hier wird einem klar, das ufert aus.
Das dritte Kapitel gehört dem Gemüse und den Hülsenfrüchte. Dem folgen Fische, Meeresfrüchte, Geflügel, Fleisch vom Wild bis zu den Innereien, Brot und diverse Süßigkeiten, Grundrezepte, Marmeladen und Getränke, allerdings teilweise noch differenzierter untergliedert.
Einschub: Natur in Skandinavien beschränkt sich nicht nur auf Postkartenidylle, sondern wird gelebt. Fischen ist frei zugänglich und weit über 100.000 Seen laden regelrecht dazu ein. Auch Jagen ist mehr als ein Sport, erinnern wir uns bloß an die verfilmten Krimis á la Larsson, Mankel, Nesbo ua. Irgendwann tauchen in den weiten Wäldern Jäger auf.
Deshalb finden sich in diesem Buch auch Rezepte mit Hechten, Zwergmaränen, Eissturmvogelküken, Rentierfleisch, Birken- und Kiefernrinde, Löschkalk, Grindwal und Stint, kleine Fische, die wie frische Gurken riechen. Fast schon archaisch, erinnern diese Gerichte an das frühmenschliche Jäger- und Sammlerdasein, sie bleiben eine Minderheit. Aber viele, viele Rezepte sind normal, wie ein Mitteleuropäer sie sich vorstellt.
Immer wieder überrascht das Buch von Neuem. Dazu zählt der Lebkuchen, den ich vor Weihnachten buk. Zwei Tage Ruhezeit für den Teig. Aber es war der beste Lebkuchen, den ich bisher gebacken habe. Mit der Zeit wird er spröde, wogegen Apfelspalten ankämpfen. Lebkuchen ist übrigens wie ein Kraftriegel, ideal für sportliche Aktivitäten wie Langlaufen. Ich habe immer zwei, drei eingepackt.
Auch eine Überraschung war das Kartoffelgratin. Einfachste Kost – herausragend gut. Ein Gericht, das meine Kinder nahezu verschlangen. Allerdings kam ich mit der vorgegebenen 45-minütigen Backzeit nicht aus.
Schwer beeindruckt hat die Hagebuttensuppe. Allein schon deshalb, weil diese gesunde Rosenfrucht sonst völlig ignoriert wird. Die Zubereitung ist zwar etwas aufwändig, aber das Geschmackserlebnis unvergesslich.
Haben Sie eine Vorstellung, was der Fliegende Jakob ist? Ja, mit dem Geflügel- Tipp sind sie ihm auf der Spur. Ein geschmortes Hähnchen, das mit Banane, Sahne, Chilisauce, Schinken und Erdnüssen zubereitet wird. Fast schon ein Nationalgericht. Die Trefferquote im Internet für dieses Rezept liegt bei 109.000, umgerechnet 1 Rezept auf 100 Schweden.
Die eingesalzenen Pilze erinnern mich an die Salzzitronen aus dem mediterranen Kulturkreis. Wer hat hier wohl wen beeinflusst? Kandierte Kartoffel, eine ‚dänische Schweinerei‘, ist eine ungewöhnliche Beilage zu Fleisch. Da heißt es ausprobieren, auch wenn man sich das schwer vorstellen kann. Angetan war ich aber von den vielen Brotsorten. Einfach und aufwändig in der Zubereitung, hat mir das Weizenbrot aus Aland und das Sami-Fladenbrot besonders gemundet.
Das Blättern im Nordic Kochbuch und Neues Entdecken sind vorprogrammiert – endlos ist die Liste der Vormerkungen.
Angesichts der Rezeptfülle sind die eingestreuten Foodfotos, leider, fast schon Makulatur. Auch sind es meist Sammelabbildungen. Damit kann man leben, mehr wäre wünschenswert. Gefehlt haben mir manchmal Mengenangaben, etwa wie schwer ein Lummenei ist oder Isländische Schneehühner sind. Wüsste ich es, fiele es leichter diese Produkte, die bei uns nicht erhältlich sind, durch andere zu ersetzen. Das sind verschmerzbare Marginalien, angesichts der Fülle an Kochideen. Ein ausführliches Register sowie umfangreiches Glossar wie auch eine Liste ausgewählter Onlinehändler formen dieses Kochbuch zu einem unverzichtbaren Nachschlagewerk. Nordic Das Kochbuch ist ein Meisterwerk, das uns die skandinavische Esskultur mit all ihren Facetten erschließt.
Anmerkung:
* Biestmilch, das Kolostrum, ist die erste Muttermilch bei Kühen (Säugetieren). Ein natürlicher Energiedrink, der soviel Protein enthält, dass die Milch beim Erhitzen eindickt wie Eiercreme. Die Überbackene Biestmilchcreme wird häufig mit Zimtstangen oder Kardamom gewürzt. Sie kann kalt, lauwarm oder warm serviert werden, direkt aus dem Ofen mit etwas Schlagsahne und etwas Marmelade.