Heute reisen wir nach SARDINIEN.
Als der Arzt Rafaele in sein sardisches Heimatdorf zurückkehrte, ahnte er nicht, dass in seiner Gemeinde der Anteil an Huntertjährigen überdurchschnittlich hoch ist. 22 Hundertjährige betreut er in seiner Praxis. Und wenn sie einmal in der Woche ihn anrufen, dann nur, weil sie wissen wollen, ob es ihm gut geht. Rafaele ist Arzt und Weinbauer und er weiß, dass ein Grund für das hohe Alter seiner Schützlinge die Ernährung ist. Die sardische Küche also ist der Schlüssel für langes Leben! Wenn wir als Touristen auf die Insel kommen, dann sehen wir vor allem eine zubetonierte Küste und bekommen vom Duft der Inselküche nicht viel mit. Um die authentische Küche Sardiniens zu erleben, müssen wir dorthin fahren, wo es keine Urlauber gibt. In den Gennargentu zum Beispiel, zu den Hirten der Insel, die sich in den Sommermonaten in die Berge zurückziehen. Sie grillen über offenem Feuer Spanferkel und Lämmer mit aromatischen Kräutern und Myrtenblättern.
Die Myrte, eine alte Kult- und Kulturpflanze mit ausgeprägtem Aroma, wird vielen Gerichten beigegeben. Sardinien riecht nach Myrte, behaupten die Einheimischen. Das meint auch Marco Serri, der in der Nähe des Faaker Sees das Restaurant Terra Sarda betreibt und Kärntner Gästen und anderen Feinspitzen seine sardische Küche serviert. Serri, der Haubenkoch aus Sardinien, hat nun im Lockdown ein Kochbuch geschrieben. La Cucina della Terra Sarda, ist der Kochtradition der Insel verpflichtet und im Verlag Ampuls herausgekommen.
Die sardische Küche ist, man mag es kaum glauben, nicht nur alt, sondern auch von vielen Kochkulturen beeinflusst. Das hängt mit der wechselhaften Geschichte der Insel zusammen, die geprägt ist von vielen Eroberungen. Der Nordwesten ist spanisch, der östliche Küstenstreifen römisch und der Süden phönizisch beeinflusst. Das drückt sich im Essen und in der Sprache aus. Auch die österreichischen Habsburger herrschten kurze Zeit über die Insel, tauschten sie jedoch mit dem Haus Savoyen gegen Sizilien ein. Ob die österreichische Küche Spuren in der sardischen hinterließ, wohl kaum. Wenn auch Marco Serri behauptet, dass es durchaus Ähnlichkeiten zur Kärntner Küche gibt, und meint, dass die sardischen Culurgiones aus Oglia mit den Kärntner Kasnudeln fast identisch sind. Ein dünner Teig, der in Kärnten mit einer Kartoffel-Topfen-Masse und in Sardinien mit einer Kartoffel-Pecorino-Mischung gefüllt wird. Gekrendelt, also verschlossen werden die Teigtaschen, hier wie dort mit ähnlicher Technik, die einige Übung erfordert. Aus den Fotos und der Beschreibung geht allerdings nicht hervor, wie die Culurgionens so schön fischgrätmäßig geschlossen werden. Dennoch, die Fotos von Ernst Peter Prokop beeindrucken wegen ihrer Plastizität und Tiefenschärfe. Die abgebildeten Gerichte und handelnden Personen, ob beim Teigkneten oder Weineinschenken, spiegeln das Flair der Landesküche, machen Lust auf sardisches Essen.
Serris Kochbuch ist klassisch strukturiert, führt kapitelweise durch Antipasti, Suppen, Primi Piatti, Fisch, Fleisch sowie Dolci. Nach einer Einleitung werden Sardiniens typische Lebensmittel vorgestellt. Käse, wie der berühmte sardische Pecorino, der im Geschmack feiner ist als der römische. Das liegt am Lab, denn in Sardinien verwenden sie das Lab vom Kalb und nicht vom Hammel. Eine andere bekannte Käsesorte ist Provolette. Ein Kuhmilchkäse der einer Birne ähnelt. In Nuoro, im Elternhaus der Nobelpreisträgerin Grazia Deledda das heute ein Museum ist, baumeln in der Küche diese Käsebirnen über der Feuerstelle. Das war in vielen sardischen Küchen so, wie auch der Geruch des geräucherten Käse, der sich überall ausbreitete. In Deleddas Küche herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, die Früchte der Felder wurden gebracht. Gerste, Bohnen, frische Produkte, die haltbar gemacht werden mussten. In ihrem Roman Cosima beschreibt Deledda, wie die Frauen das kulinarische Kulturerbe pflegen.
Auch Marco Serri wurde von den Kochkünsten seiner Mutter geprägt. Allerdings hatte auch sein Vater großen Einfluss, der ein Berufsfischer war. So erklärt sich, warum es in diesem Kochbuch mehr Fisch- als Fleischgerichte gibt. Zudem ist Serris Fisch- und Meeresfrüchteküche schon etwas gehobener, was unschwer aus den Rezepten herauszulesen ist. Für Sa Burrida wird der gekochte kleingefleckte Katzenhai mit einer Walnusssauce übergossen. Interessanterweise fehlen in Serris Rezept Pinienkerne und Myrte. Auch wird er nicht zwei Tage lange mariniert, wie ich es vom sardischen Burrida-Gericht kenne. Aber keine Frage, Serri versteht sich auf die Zubereitung von Meeräschen, Rochen, Tintenfisch, Aal und anderen Meerestieren. Große Lust bekam ich auf Zahnbrasse mit Artischocken, ein Gericht, das den römischen Einfluss nicht verleugnen kann.
Marcos Anspruch ist sehr hoch. In seinem Kochbuch gibt es keine Spaghetti Carbonara und keine Pizza. Dafür typisch sardisches „Arme-Leute-Essen“ wie Pane Frattau, in welchem Schichten von Brot, Tomatensauce und Käse sich nicht allzu hoch auftürmen. Je nach Region wird Pane Frattau schlicht ohne weitere Zutaten zubereitet oder wie in der Barbagia mit Kräutern verfeinert.
Im Suppenkapitel zeigt sich, wie vielfältig einfaches sardisches Essen sein kann. Da gibt es üppige Fischsuppen mit Fischen, Weich- und Krebstieren oder eine Brennnesselsuppe, die mit Schmalz, Zwiebel, Salbei und natürlich Pecorino aufgerüstet wird. Einfach und gut.
Kaum taucht man ins Primi-Piatti-Kapitel ein, ist man überrascht, wie viele ungewöhnliche sardische Pastasorten es gibt. Diese sind zugegebenermaßen einfach in der Zusammensetzung, jedoch aufwändig in der Herstellung. Weil auf Sardinien die Frauen der Fischer und Hirten tagsüber zu Hause blieben und sich tagelang mit der Nudelherstellung beschäftigten. Zum Beispiel: filin- deu (Gottesfäden), die hauchdünnen Spaghetti, kommen nahe an einen Faden der Spinnwebe heran. Sie erfordern enormes Geschick und Fingerspitzengefühl. Von den Filindeu gibt es kein Rezept, sehr wohl aber von Malloreddus, der vielleicht bekanntesten sardischen Pasta. Ihre Noppenform bekommen sie durch das Abrollen über die Gabelzinken bzw. einem Gnochetti-Brett. Durch die gerillte Oberfläche bleiben Sugo und Käse sehr gut an den Nudeln haften.
Spannende Sorten sind auch Frègula, kleinen Würfelchen ähnelnd, sowie Lorighittas; die in sich gedrehten doppelsträngige Ringe gleichen einer Möbiusschleife. Wer also gerne mit Nudelteig experimentiert, findet hier einige köstliche Gerichte. Etwa Ravioli mit Riccotta und Safran oder Spaghetti mit Muscheln und Bottarga. Auf Sardinien wird der salzige Fischrogen Buttaiga genannt. Ein vitaminreiches, gesundes Meeresprodukt, das wegen seiner langen Haltbarkeit auch im Landesinnern auf den Tisch kommt.
Bei den Fleischgerichten fällt mir sofort Stracottu de ainu, ein Eselfleisch-Eintopf auf. Im katalanischen Teil Sardiniens ist dieser Schmorbraten eine Spezialität, wenn auch auf allen Inseln und auf dem Festland Esel gegessen werden. Wer sich dafür nicht erwärmen kann, der probiere doch Sa Panada, einer sehr delikaten Lammfleischpastete aus Brot. Hier präsentiert uns Marco Serri ein wirklich außergewöhnliches Gericht.
Was wäre Sardinien ohne Süßspeisen? Unvorstellbar. Marcos kleine Auswahl spiegelt die Vielfalt sardischer Dolci wider, die von oristanischen Mandelmakronen bis zu den Sebadas reichen, das sind frittierte Teigtaschen, die mit Frischkäse gefüllt und Honig bestrichen, heiß serviert werden. Gaumenfreuden pur. Etwas misstrauisch bin ich gegenüber den Mustazzoli, dem sardischen Lebkuchen ob des hohen Zuckeranteils. Das endgültige Urteil wird gefällt, sobald ich ihn ausprobiert habe, also um die Weihnachtszeit. Wer einmal zu Karnevalszeiten auf Sardinien war, wird an Zippulasa, den Zuckerschlangen nicht vorbeigekommen sein. Es sind zwar Kalorienbomben, aber sie sind sagenhaft gut. Irgendwie erinnern sie mich an die Südtiroler Strauben, auch wenn sie anders schmecken. Grappa und Orange verfeinern das Aroma.
Eine Entdeckung war Pompia Intrea, ein traditionelles Zitronendessert, das sehr einfach in der Zubereitung ist. Allerdings ist die Beschaffung der Frucht Pompia nicht leicht, zumal die Spezies viel bekannter ist unter der Bezeichnung Zitronatzitrone. Diese dickfleischige Zitrone ist sehr, sehr bitter und es werden nicht das Fruchtfleisch und die gelbe aromatische Haut verwendet, sondern ausschließlich das Mesokarp, das ist das weiße Fruchtfleisch. Das köchelt dann einige Zeit in Zucker- und Honigwasser und ist am Ende für eine süße Überraschung gut.
La Cucina della Terra Sarda von Marco Serri ist ein spannendes Kochbuch über die Kochkultur der Sarden. Zwar gibt es kein Rezept vom Stier des Schusters oder malloru de su sabatteri wie diese Matroschka andeutet, in welchen verschiedene Tiere ineinander gesteckt und in einer Kalbshaut eingenäht werden. Das war einmal und ist heute eher ethnologischer Mythos. Traditionell und touristisch vermarktet wird das langsam gegrillte Spanferkel. Und wer einen Grill mit Motor zu Hause hat, kann das Milchferkel am Spieß selbst zubereiten und so mit Marco Serris Rezept ein wenig Sardinienfeeling einfangen.
Der sardische Koch, den es nach Kärnten verschlagen hat, bringt uns mit seinem Kochbuch La Cucina della Terra Sarda eine Kochkultur nahe, die einmalig und vielfach ganz anders ist als die geläufige italienische. Serri hält sein Versprechen und serviert uns Gerichte, die es so nur auf Sardinien gibt. Gelegentlich werden kurze thematische Abhandlungen eingeschoben, die Landestypisches näher erklären wie sardischen Wein, die appetitanregende Medizin Myrte sowie Geschichtliches und Persönliches. Welche Geheimnisse Serri über die sardische Küche lüftet, wie im Untertitel angekündigt, bleibt m.E. ein Geheimnis. Nun, vielleicht meint er einfach die Köstlichkeiten, die auf der zweitgrößten Mittelmeerinsel gekocht werden. Wer diese nicht kennt, dem werden sich einige kulinarische Geheimnisse offenbaren. Trinken Sie ein Glas Nasco oder Malvasia Sardegna und schon steigen vor Ihrem inneren Auge Landschaften auf, die Barbagia, Gallura, Sassarese, Monreale, und in ihrer Nase kitzeln die Aromen von sardischem Essen … und Sie werden 100 Jahre alt.