Heute reisen wir um die WELT.
Ein Schriftzug in Großbuchstaben heißt uns WILLKOMMEN. Wie durch ein Fernrohr blickt die unbekannte Frau, die vermutlich Martina heißt, auf terra inkognita. Sie hält einen Kringel zwischen den Händen, durch den sie mit einem Auge auf uns blickt. Das Gesicht ist verdeckt, braunes schulterlanges Haar, weiße Bluse, Goldring am kleinen Finger, eine elegante Damenarmbanduhr – mehr Identitätsmerkmale gibt es nicht. Das ist der Einstieg, eine Einladung zu einer Reise durch unzählige Staaten. Wenn man umblättert, deutet eine weitere Überschrift an, worum es geht: Sauerteig ist Seelenfutter! Aha, denke ich mir, hier ist eine Seele auf der Suche nach dem Glück, ohne Baum zum Umarmen, ohne halsbrecherische Yogaübungen. Ein Einweckglas mit beigefarbener Masse genügt, den Alltags-Speed herunterzufahren. Sauerteig ist Lebensphilosophie im Glas, doziert die noch Unbekannte. Willkommen also in der Einleitung eines Backbuches, das sich den sauren TEIG zur Brust nimmt, d.h. ins Backrohr schiebt. Der Untertitel verkündet dabei euphorisch: Glück vermehrt sich in 4 Tagen, weil die Autorin Martina Goernemann das selbst erfuhr. Sie befasste sich ausgiebigst und speziell mit Brotteig, konkret dem SAUERTEIG, so der Titel des eben in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienenen Buches.
In zwölf Kapiteln nimmt uns Goernemann an der Hand und mit auf eine Weltreise zu Menschen, die sich dem Sauerteig verschrieben haben. Konkret, die sich obsessiv mit Sauerteig in allen denkbaren Varianten auseinandersetzen. Aber bevor die Reise beginnt, muss erst das Kind geboren werden. Der Golem der Bäcker wird aus Wasser, Mehl und Zeit gezüchtet. Sauerteig als hausgemachtes Triebmittel ist das neue „Ohmmmm!“ des Backens. Aber Martina hat Anfangsschwierigkeiten, ein Machtkampf bahnt sich an, der Sauerteigstarter will nicht in Schwung kommen. Also sucht sie zuerst einen Personal Trainer und findet mit Karl de Smedt den idealen Ansprechpartner. Karl, im belgischen St. Vith zuhause, ist Experte und Archivar hunderter Sauerteige aus der ganzen Welt. Er spricht über Sauerteig wie über einen Freund und rät ihr als Erstes: „Gib ihm Zeit. Dein Starter braucht gutes Mehl und du brauchst Geduld.“ Und weiter: „Sauerteig ist ein lebendes Wesen. Es ist so individuell wie wir. Manchmal zufrieden, manchmal schlecht gelaunt.“ Das sollten wir uns auf die Rezeptfahnen schreiben. Nase und Auge sind ab nun unsere wichtigsten Prüfinstrumente, wenn wir Martina praktisch folgen und mit ihr einen Sauerteig züchten.
100 g Wasser mit 100 g Mehl verrühren und 24 Stunden ruhen lassen, das ist die Ausgangsbasis unseres Experiments. Riecht er stark sauer, dann hat er Hunger nach mehr Mehl und Wasser. Ist die Temperatur zu hoch oder zu tief, bleibt er schmollend unten im Glas hocken. Ist er zufrieden, dann ähnelt er dem Apfelmus. Blubbert still vor sich hin und wächst. Freundschaft muss gepflegt werden, dann hält sie lebenslang an. Damit das gelingt, gibt es ein paar brauchbare Tipps von Martina. Womit wird er gefüttert? Was ist zu tun, wenn ich keine Zeit für ihn habe? Welche Mehlsorte mag er? Usw.. Am wichtigsten aber ist die Haltung zum Freund. „Nicht grübeln. Machen! Diese Einstellung mag der Sauerteig am liebsten.“ Mit Karls Hilfe haben wir unseren kleinen Freund also in Schwung gebracht. Und dann geht‘s los. Eine Fahrt ins bayerische Kloster Wettenhausen. Dort hat Stefan Heins, Student an der Technischen Uni in München, die Backstube dem Dornröschenschlaf entrissen. Dort werden mit Martinas Starter, so werden Sauerteige genannt, die dem Brot auf die Sprünge helfen, zwanzig Brote nach Schwester Columbas Rezept entstehen. Und es gelingt. 20 Laibe, jedes Stück ein Kilo Brotpersönlichkeit. Danach wird Martinas Sauerteig mit Weizenmehl und einer Portion Weihwasser fit gemacht für die Weiterreise. Und als sie das Brot verkosten, gesellt sich Schwester Amanda, die Priorin des Klosters, dazu und meint: „Ein gutes Brot, einfach ein gutes Brot!“ Das Brot nach Schwester Columbas Rezept ist ein klassisches Graubrot (österreichisch Schwarzbrot) mit Roggen- und Weizenmehl. Auch ein Geduldsbrötchen backen Martina und Stefan, das neben Hafer und Honig vor allem Kamille enthält. Kamille entspannt, weiß jeder, nicht nur Hildegard von Bingen.
Mit den Geduldsbrötchen in der Tasche reist Martina weiter. Im Dialog mit ihrem Sauerteigstarter, der jedem Kapitel als Einstieg dient, erhält er im zweiten Kapitel einen Namen. Vitus heißt ab nun Martinas Sauerteig und trifft auf Pablo Paluke, einen Brotvirtuosen, dessen Leben der Sauerteig veränderte. Frisch gemahlenes Roggenmehl ist für ihn das tollste, aber die Typenbezeichnungen verwirren ihn, kann er sich nicht merken. Hat trotzdem den Bäckermeister geschafft und kreierte ein Vollkornbrot nach Art des Hollywood Farmer’s Market. Auf diesem Markt verkaufte er den Filmgrößen sein Sauerteigbrot. Jetzt ist er selbst berühmt und backt weiterhin Brot. Er vertraut sein Leben dem Sauerteig an und backt gutes, schnörkelloses Brot.
Vitus und Martinas Reise führt sie dann in den Norden Deutschlands, wo sie mit Brätern Brot backen, nach England zu Vanessa, die Brot mit Salbeibutter macht, nach Dänemark zu Barbara, einer promovierten Süditalienerin, die Brotbacken zum neuen Lebensziel erkor und ein Knäckebrotrezept beisteuerte, das mehr als eine Notration ist. Wikingerpizza hat sie es getauft und es ähnelt dem Schüttelbrot aus dem Vintschgau. In Holland treffen sie auf John, der aus Kamutvollkornmehl Brot backt, dass es eine Freude ist. Glückliche Momente erleben Martina und ihr Vitus mit Anil und Lais, Kindern aus Sri Lanka, die zusammen ein Zuckerbrot mit Zuckerperlen und Tee backen. Purpurweizenbrot, Freisinger Bierbrot, Brioche à la Chardin und andere Backschmankerln aus Bayern, Irland und weiteren Weltenteilen finden sich in diesem Sauerteig-Buch. Eingestreut dazwischen auch allerlei Nützliches, wie, welches Brotmesser ist das richtige?, wie bewahrt man Mehl bzw. Brot auf? …
Und es liest sich wie ein Roman. Flüssig und man muss sich selbst zu einer Pause zwingen, sonst geht es in einem Rutsch. Auch unzählige Menschen werden vorgestellt, die alle ihre besonderen Rezepturen entwickelten, aber vor allem eins sind: dem Sauerteig ausgeliefert ohne Chance auf Rettung. Und das ist gut so. Sonst hätte es nie dieses berührende, menschelnde, lustige und interessante Backbuch gegeben. SAUERTEIG, Glück vermehrt sich in 4 Tagen verführt zum Brotbacken, entführt in Backstuben weltweit und stellt uns Menschen vor, die man gerne kennen lernen möchte im wirklichen Leben. Vitus sei dank. Mein Starter heißt Anu, eine sie. Mit ihr backte ich Dinkelbrot für Frieda, das Johanna Fischer beisteuerte.