Heute reisen wir nach SIDNEY.
In der australischen Hauptstadt treffen wir sechs Frauen, die einiges gemeinsam haben. Sie alle lieben gutes Essen und das selbstgemacht. Typisch Hausfrauen, denken Sie reflexartig. Naja, das mag auch sein, wäre da nicht der familiäre Kontext dieser Frauen. Denn, Lisa Goldberg, Merelyn Frank Chalmers, Natanya Eskin, Lauren Fink, Paula Horwitz und Jaqui Israel entstammen jüdischen Familien, die im Laufe des 20. Jahrhunderts nach Australien emigrierten. Sie kommen aus Europa, Russland, Südafrika und China und sie bringen eine länderspezifische Küche mit, eben jener Länder, in welchen sich die Juden in der Diaspora angepasst haben. Die Jugend der Herausgeberinnen ist also auch geprägt von ihrem jüdischen Background. In ihren Lunchpaketen war, was in den Speisekammern vorrätig lag: ungesalzenes Brot mit koscherer Salami, Dillgurken und Mohnkuchen, manchmal Schnitzel auf Roggenbrot. Dabei hätten sie sich so gern australisch gegeben mit Vegemite, ein malzig leicht bitter schmeckender Hefeaufstrich auf Weißbrot oder Keksen aus dem Supermarkt. Das war einmal. Heute denken sie gerne zurück an die Küche ihrer Mutter und ihrer Großmütter. Mehr noch – sie spüren ihrer eigenen kulinarischen Geschichte nach, haben zusammengefunden in der Monday Morning Kochrunde. Jeden Montagmorgen setzen sie sich zusammen, trinken unzähligen Tassen Tee und diskutieren über und suchen nach Rezepten mit Seele, wie sie es nennen. Es sind die Rezepte ihrer Vorfahren, die verloren zu gehen drohen, Rezepte, die die Geschichte einer Gemeinschaft, einer Community, erzählen können: einer Gemeinschaft, bei der es immer ums Essen geht.
Ein Aufruf in den jüdischen Communities Australiens nach Kochrezepten löste eine Flutwelle von hunderten Einsendungen an Lieblingsgerichten aus. Sie geben Zeugnis, ‚was Küchentische zum Abendessen ziert, welche Gerichte bei besonderen Gelegenheiten aufgetischt werden und was die Lieblingsspeisen für Shabbat und Pessach sind.‘ Geschichten, die traurig, tragisch, heiter, vertraut, tröstlich, merkwürdig und überraschend stimmen. Erzählungen von Flucht und vom Überleben, von Verwandten und Bekannten und Freunden. Viele Rezepte, die in der Familie weitergegeben wurden, auch von Geliebtem, der längst nicht mehr da ist.
Das Schlemmen geht weiter ist das zweite Kochbuch der Monday Morning Cooking Club-Runde, das nun ins Deutsche übersetzt im Verlag Freies Geistesleben erschienen ist. In sechs Kapiteln werden über 130 Gerichte vorgestellt wie auch die 86 Personen, die die Rezepte beisteuern. Eine jede der MMCC-Frauen ist für ein Kapitel verantwortlich, legt so ihren individuellen Koch-Schwerpunkt fest. Jeder einzelne Abschnitt ist also ein in sich abgeschlossenes Minikochbuch, bedient alle Genres von der Hauptspeise über Beilagen bis zum Dessert. Spannend dabei ist der globale Mix an Gerichten, die hier offeriert werden, Gaumenfreuden aus Südafrika, demOrient, aus Europa und Australien lassen beim Durchblättern kulinarische Vorfreude aufkommen. Der Zugang der Australierinnen ist ein anderer als in den herkömmlichen Kochbüchern. Und wir können die Rezepte nach der aktuellen Befindlichkeit auswählen. Die Angebote bedienen das Mittagsbuffet, Alltägliches, Seelennahrung, Festmahl, Schlemmerei und Traditionelles; so auch die Kapiteleinteilung. Für Lauren ist der Lunch – das Mittagessen – ideal, um Freunde einzuladen. Sie genießt das Gelächter und die Gespräche am Mittagstisch, der beladen ist mit frischen Köstlichkeiten. Da finden Sie bspw. das einfach zuzubereitende Lachs-Pastrami, das 48 Stunden im Kühlschrank reifen muss. Ummantelt mit einer dicken Gewürzkruste, wird der Lachs in Scheiben geschnitten, mit Toast- oder gutem Sauerteigbrot und Zitronenschnitzen als Vorspeise angerichtet. Lynn Niselow hat dieses Rezept aus Südafrika mitgebracht, ein Gericht, das Lauren mit Eiern auch zum Frühstück gerne serviert.
Die Zwiebeltarte von Claire Cymons entstand in Anlehnung an eine traditionelle Schweizer Apfelwähe. Claire eröffnete in den 1960er Jahren eine Kochschule ‚Die perfekte Gastgeberin‘ und so verbreitete sich dieses Rezept über die Kochschülerinnen in ganz Australien.
Interessant ist, dass in vielen Rezepten auch persönliche Vorlieben durchschimmern. Lisa Lipshut verwendet große, leichte Schüsseln für den Salat und achtet beim Anrichten auf das optische Gleichgewicht der Zutaten. Ihr Fenchelsalat mit Minze ist eine Verführung in Bild und Geschmack. Überhaupt sind die Salate in diesem Kochbuch eine Wucht.
Jacqui, die sich dem täglichen Essen verpflichtet fühlt, ist immer auf der Suche nach einfachen Rezepten. Ungewöhnlich sind Natalie Toppers Stampfkartoffeln, die mit Olivenöl vermengt im Backofen geröstet, als Beilage zu marinierten Lammkoteletts gereicht werden. Typisch australisch ist für mich die gefrorene Zitronen-Baiser-Torte, die zudem glutenfrei ist. Dagegen haben Nanas Geflügelbällchen einen polnischen Bezug. Das war immer das Hauptessen bei Yvonne Fink zum Schabbat-Dinner. Die golfballgroßen Knödel werden direkt in einer Tomatensauce gekocht und mit kurzen Nudeln serviert. Meine zweieinhalb jährigen Enkel schlugen hier unbarmherzig zu.
Natanya, die mit Seelennahrung ihr kulinarisches Heimatgefühl pflegt, verbindet die Festtage mehr mit Essen als mit Religion. Mit dem Kochen werden nicht nur bei ihr Kindheitserinnerungen wach. Tante Myrnas Kohlrouladen versetzen mich in die Küche meiner Oma und lassen den Duft des Kohls hochleben. Unbekannt dagegen waren mir Melktert, Milchtörtchen holländischen Ursprungs. Dabei stammt dieses Dessert aus der Afrikaans Communitiy in Südafrika.
In Paulas Festmahl-Kapitel stach sofort ein Rezept heraus: Hähnchen ‚Everest‘ von Reuben Solomon. Reuben war Burmese, spielte perfekt Klarinette und kochte, während seine Frau Charmaine Bestseller-Kochbücher schrieb. Das Hähnchen wird mit einer interessanten Gewürzpaste eingerieben, eine Anlehnung an die indische Küche.
Lisa, die Gründerin und der eigentliche Kopf der MMCC-Gemeinschaft, ist der Schlemmerei verfallen. Für sie trifft wohl das jüdische Sprichwort zu: Achele, bachele, bofe is die beste meloche (Essen, Trinken, Schlafen ist das beste Handwerk). In ihrem Kapitel überwiegt das Süße. Eine ungewöhnliche Geschmacksnote verspricht der Breudherkuchen, der mit Käse gegessen wird. Wie auch der Avocado-Dip außergewöhnlich gut schmeckt.