Heute reisen wir nach NORWEGEN.
Ins Land der Fjorde und Trolle. In ein Land erhabener Natur, majestätischer Felsvorsprünge und traumschöner Buchten. Norwegen ist das Land, das Kapital aus dem Meer schöpft: früher Fisch, heute Erdöl. Das schwarze Gold machte dieses Land zum reichsten Europas. Aber Europa hat nicht viel davon. Zweimal haben die Norweger gegen eine EU-Mitgliedschaft gestimmt. Und so fließt ihr Erspartes in einen Ölfond, der helfen soll, wenn die Öl- und Gasförderung zu Ende geht. Norwegen ist ein moderner Staat, geprägt von kraftstrotzenden Frauen, die ihren Mann im Beruf stehen, und entspannten, Kinderwagen schiebenden Männern. In Norwegen ist die Wahrscheinlichkeit, wiederbelebt zu werden, viermal höher als im übrigen Europa. Denn die Kinder lernen Erste Hilfe als Schulfach. In dieses Land zieht es Menschen nicht nur wegen der verrückt schönen, bunten Polarlichter am Himmel. Viele suchen Stille und Einsamkeit, nehmen in Kauf, dass sie stundenlang fahren müssen bis zur nächsten Stadt. Jemand, die diese Abgeschiedenheit suchte und Numedal, ein mittelalterlich anmutendes Tal im Herzen Norwegens fand, ist Nevada Berg. Die Amerikanerin zog nach einigen Wanderjahren mit ihrem Mann und Sohn auf einen Hof, wo noch ein Essensspeicher aus dem 17. Jahrhundert steht, stabbur genannt. Pickende Hühner und blökende Schafe bevölkern das Gut. Nevada Berg, die für internationale Einrichtungen als Marketing-Expertin arbeitete, hatte eine fixe Idee, als die Familie nach Veggli in Numedal zog. Einen Essens-Blog wollte sie machen mit Fokus auf die Kulinarik des Nordens. Denn sie wusste auch, dass die norwegische Küche viel mehr hergibt als Fleisch mit gekochten Kartoffeln. Also begann sie sich mit der kulinarischen Tradition ihrer neuen Heimat zu beschäftigten, las alte Kochbücher von Henry Notaker, recherchierte in Bibliotheken und fragte Landfrauen nach ihren Rezepten. Die kamen mit ihren handgeschriebenen Rezeptbüchern. Von Generation zu Generation weitergegebene Heftchen und lose Zettel mit Rezeptnotizen. Das ist die traditionelle Seite. Die andere ist die der modernen Küche Norwegens abseits von Stereotypen, die der jungen Wilden. Da wird beerendurchzogene Elchwurst mit der selben Verständlichkeit serviert wie Brennesselsuppe oder Rhabarbersaft aus Birkenwasser oder selbstgebrautes Bier oder eine Steinplatte voll neuer Käsesorten oder Porridge oder oder oder. Nevada wurde mit Menschen bekanntgemacht, die hinter den regionalen Produkten stehen, die Altbewährtes erhalten und Neues kreieren. Sie sammelte Rezepte, schrieb die Geschichten darüber nieder, gab ihre Erkenntnisse an andere weiter. Es wurde zur Passion, ihre Rechercheergebnisse in ihrem Blog North Wild Kitchen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Je weiter Berg in die Welt der norwegischen Küche eintauchte, desto mehr begriff sie deren Einfachheit und gleichzeitig Komplexität. Die Alltagsküche wurde bestimmt von dem, was die Menschen gerade zur Hand hatten, und mehr Kraftnahrung denn lustvolles Essen war.
Nevada Bergs Blog spiegelt die alte und neue skandinavische Küche, erhielt deshalb zahlreiche Ehrungen. Aus dem preisgekrönten Blog ein Buch zu machen, war die logische Folge. North Wild Kitchen, das Norwegen-Kochbuch, ist im Prestel Verlag erschienen. Ein Kochbuch, das mehr ist als nur eine Sammlung norwegischer Rezepte – das vorweg.
Norwegens Küche wird heute von den Einflüssen der Zuwanderer stark mitgetragen. Tapas, Pizza und Taccos sind bereits Teil der nationalen Küche. Dennoch ist die norwegische Landesküche geprägt von der Verwendung saisonaler Produkte aus dem näheren Umfeld. Das wird in Bergs Kapiteleinteilung auch sichtbar. Sie orientiert sich an geographischen Räumen wie auch an Kategorien der Bewirtschaftung bzw. Verarbeitung. Am Anfang stehen die Früchte der Natur. Wohl auch deshalb, weil in Norwegen das ‚allemannsretten‘, das ‚Jedermannsrecht‘ gilt. Demnach darf jeder die Natur und Wildnis frei nutzen, unabhängig von Eigentumsverhältnissen. Das heißt, dass die Rezepte des ersten Kapitels mit Zutaten operieren, die in der freien Wildbahn gesammelt werden können. Zwischen Mai und Juni gibt es in den Wäldern Bärlauch im Überfluss und auf dem Esstisch wohl auch viel Bärlauchsuppe. Der Sauerampfer ist ein Wildgemüse, das vom Frühling bis zum Spätherbst gesammelt und gerne dem cremigen Karoffelsalat beigemengt wird. Der Feldampfer, wie er auch heißt, verströmt ein herb-säuerliches Aroma und verleiht Salaten wie auch Fischgerichten eine frische Note. Fichtenspitzen backt Berg im Bierteig heraus. Die etwas unförmigen Nudeln, sie haben Ähnlichkeit mit übergroßen Engerlingen, werden mit Fichtenspitzensirup serviert. Überspitzt könnte man meinen, hier kommt ein Jungwald auf den Tisch. Die Autorin versteht sicher diesen kleinen Scherz, sie schätzt die spätfrühlingshaften Nadelholzspitzen wegen des intensiven Zitrusaromas und mischt sie auch manchmal ins Porridge, zusammen mit Brombeeren. Beeindruckt hat mich der Brennessel-Honig-Kuchen wegen der feinen Harmonie zwischen den Hauptakteuren.
Über viele Monate kann dieser Kuchen gebacken werden und die meisten, die davon aßen, staunten nicht schlecht, dass ein Gartenunkraut in diesem Naschwerk den Ton angibt. Bereits in diesem ersten Abschnitt verarbeitet Berg viel Natur: Blaubeeren werden zu Saft, Wacholderzweige und -beeren zu Bier, Haselnüsse, Vogelbeeren und Äpfel zu einem Chutney, Waldpilze zu einer Pfifferlinge-Ziegenkäse-Pfanne und Moltebeeren zu Karamellbonbons. Allerdings gibt es Moltebeeren nur in Skandinavien, aber das Rezept hat mich inspiriert. Und so ersetzte ich die Beeren durch Quitten und erlebte mein kleines Karamellwunder. Nachahmung wird dringend empfohlen. Sie können aber statt Moltebeeren auch Heidelbeeren verwenden.
Sankingen, die Natur, wird dann abgelöst von Vann, die Gewässer, in deren Mittelpunkt der Fisch steht. Norwegen ist ein Land des Wassers und die Beziehung der Menschen zu ihm ist eng. So prägen Holzgestelle zum Trocknen des Kabeljaus das Landschaftsbild der Westküste. Fisch und Meeresfrüchte sind ein Eckpfeiler der norwegischen Esskultur. Ob geräuchert, gegrillt, gegart oder in Bier gesotten, die hier vorgestellten Gerichte sind Delikatessen mit mancher Überraschung. Man nehme 1/2 kg Seelachsfilet und vermenge es mit einem Viertelliter Vollmilch, fertig ist die lockere Frikadelle, die zwischen zwei Brötchenhälften geklemmt zum einfachen Fischburger mutiert. Eines der bekanntesten und beliebtesten Fischgerichte Norwegens. Der Burger wird gerne zum Abendessen serviert, zusammen mit einer traditionellen braunen Soße und Salzkartoffeln. Von einem Osloer Fischhändler stammt das Grundrezept, das Nevada leicht abwandelte und das ich Ihnen gerne vorstelle. Auch weil es Alt und Jung gleich schmeckt.
Die weiteren Kapitel widmen sich der Almwirtschaft, der Ernte sowie der Jagd, der Vorratskammer, dem Lagerfeuer und als Letztes dem Waffeleisen, der Backplatte und dem Ofen. Man hat auch sofort eine Vorstellung, wer die Hauptakteure dieser Abschnitte sind: Milchprodukte, Früchte der Natur, Tiere des Waldes. Variationsreich und vielfältig an Aromen sind die Rezepte. Der rustikale Birnenkuchen wird mit Blauschimmel bestreut, die Blumenkohlsuppe vermählt sich mit Fenchel und der Lamm-Kohl-Eintopf ist die Essen gewordene Reinkarnation Norwegens. Na ja, ganz wohl nicht, aber Nevada Berg erklärt das so: Das Fleisch kommt von den Tieren aus den Bergen, die Kartoffeln sind frisch vom Feld und der Kohl gedeiht den ganzen Sommer über. Gemeinsam verkörpern sie einen Teil Norwegens.
Am Ende werden noch zwei Brotrezepte vorgestellt. Butterbrot mit Käse essen viele Nordländer jeden Tag. Und Brot ist fester Bestandteil bei fast jedem Frühstück und Mittagessen. Groß ist die Auswahl an herzhaften Broten in Norwegen, das wollen wir glauben und begnügen uns mit einem Mehrkornbrot, mit leicht süßlichem Geschmack. Jetzt eine Scheibe davon abschneiden, mit Butter bestreichen, mit Braunkäse belegen und wir können uns genüsslich zurücklehnen und herzhaft abbeißen, denn wir sind beim Index angelangt. Der ist ausführlich und lässt uns erahnen, was es noch so alles zu entdecken gibt in Norwegen.
Beim L bleiben wir hängen. L wie Lagerfeue, L wie Lammkeule mit Orangen- Dill-Soße und L wie leichter, lockerer Käsekuchen. Der interessiert uns dann doch und wir blättern zurück zum Rezept. Er ist ein Kind des 18. Jahrhunderts, heißt es im Vorspann und spiegelt den Geschmack der damaligen Zeit wider. Eine Vorahnung beschleicht uns, den haben wir doch schon probiert, aber auf einem ganz anderen Kontinent. Frischkäse, Sahne, Eier, Butter, Zucker und Johannisbeeren mit Nelken, Muskatnuss und Rosenwasser aromatisiert, ist dieser Kuchen der Urahn des berühmten New Yorker Käsekuchens. Allein dieser Kuchen ist es wert, sich North Wild Kitchen ins Küchenregal zu stellen.
Nevada Berg hat mit North Wild Kitchen ein tolles Norwegen Kochbuch geschaffen. Wenn auch die Autorin ihre amerikanische Identität nicht ganz verbergen kann, hoch ist der Anteil an Desserts und süßen Speisen, was mich an amerikanische Esstraditionen erinnert. Dennoch: Sie zeichnet uns ein Bild norwegischer Köstlichkeiten, luftig und verführerisch frisch, wie man sie bisher wenig und nicht kannte. Schön bebildert und mit vielen unvergleichlichen Rezepten lädt dieses Kochbuch ein, Norwegen als ein Land der kulinarischen Sinne zu entdecken. Wer sich darauf einlässt, wird nicht enttäuscht werden.