Heute reisen wir nach WIEN.
Immer wenn ich in die Landeshauptstadt fahre, gilt einer meiner ersten Ausflüge den Märkten. Früher war es der Naschmarkt. Jetzt sind es vor allem der Rochusmarkt, wegen seiner praktikablen Überschaubarkeit, und der Brunnenmarkt, wegen seiner Größe und dem Flair, der mich an die Märkte in Freiburg und Basel erinnert. Es ist schon fast eine Manie, eine Spurensuche nach Genuss und der überflutenden Fülle von Eindrücken, die Märkte bieten. Dort nehme ich mit allen Sinnen wahr, vergesse Zeit und Raum, um im Moment zu leben. Ein perfektes Refugium, um mit den Augen, der Nase, den Händen, dem Mund, den Ohren, der Haut das Genießen zu üben. So wird es wohl auch Nicole Ott ergehen, wenn sie durch den Kutschkermarkt streift auf der Jagd nach frischem Obst, Gemüse und andere kochbare Begehrlichkeiten. Märkte wecken den Urtrieb des Sammelns und Jagens; warum sollten wir das unterdrücken? Also, lassen wir uns darauf ein und entdecken wir gemeinsam mit Nicole, was der Kutschkermarkt zu bieten hat. Ausgangspunkt ist das Cafe Himmelblau, das sich – wie kann es anders sein – in der Kutschkergasse befindet, flankiert von Marktständen. Ott betreibt das Cafe gemeinsam mit ihrem Sohn Daniel und natürlich auch einen Marktstand mit Emil, dem jüngsten Sohn. Deshalb ist es naheliegend, dass alles, was auf dem Kutschkermarkt angeboten wird, irgendwie auch im Cafe landet und weiterverarbeitet wird zu kulinarischen Köstlichkeiten. Darüber hat sie Kochbücher verfasst; das zweite mittlerweile. So tauchen wir nun ein in den Markt im 18. Bezirk wie Touristen in einem fremden Land, geführt von Nicole Ott, die mit Geschichten und Rezepten ihren Markt und ihr Cafe und ihre Freunde und Marktständler präsentiert. Markt Kochbuch ist – im übertragenen Sinn – Otts kulinarischer Führer durch die Agora.
In 19 Kapiteln nähert sich die Autorin verschiedenen Obst- und Gemüsesorten im Jahresreigen an. Sie sind Anknüpfungspunkt und die Basis ihrer Rezepte. Es beginnt mit Zitrusfrüchten, denen Rhabarber folgt und weiter Brennnessel, Erdbeere, Spargel, Kirsche, Zucchini, Marille, Eierschwammerl, Physalis, Hollerblüten und -beeren, Artischocke, Zwetschke, Birne, Kürbis, Quitte, Nüsse, Trockenfrüchte und zu guter letzt Radicchio. Bis auf die Zitrusfrüchte stammt alles aus heimischer Produktion. Selbst Physalis gedeiht wegen der immer wärmer werdenden Sommer wunderbar im Waldviertel. Drei Jungbauern haben sich der Winterkirsche, wie sie im Englischen auch genannt wird, angenommen. Auf ihrem Markstand bieten sie diese wie auch alte lagerfreundliche Sorten von Kohlrabi und Paradeiser an. Das Triumvirat arbeitet ressourcenschonend, setzt auf Handarbeit und den natürlichen Dünger von vier Pferden und zehn Hasen. Das erfahren wir aus der Kapiteleinleitung zu Physalis. Ott versteht es wunderbar Hintergründiges in kleine Alltagsbegegnungen einzuflechten, und lässt uns so an ihren Streifzügen teilhaben. Und natürlich kauft sie beim sympathischen jungen Bio-Bauer einige der prallen orangen Früchtchen, um dem Gemüsecurry einen exotischen Touch zu verleihen. Schleckermäuler werden um das Schokomousse mit Physalis und Mandeltuiles nicht herumkommen. Dieses Rezept geht in den Grundzügen bereits auf Nicoles Schulzeit zurück, da becircte sie ihre Freunde mit Schokomousse. Die Neuinterpretation mit dem das Aroma unterstreichenden Espresso und dem Knuspereffekt mittels französischer Hippen aus Mandelblättchen ist schon etwas Besonderes. Auch Radicchio wird mittlerweile in Österreich angebaut, vor allem im Burgenland. Erol, der Marktstandler, ist auf italienisches Blattgemüse spezialisiert und bietet einige Radicchiosorten an. Treviso, Chioggia, Castelfranca werden sie nach ihren Herkunftsorten bezeichnet. Der Treviso-Radicchio ist im Winter erhältlich und wird aufgrund seiner länglichen Form auch Spadone, großes Schwert, genannt. Seine langen Blätter schmecken süßlich. Radicchio eignet sich für Salate, aber auch zum Grillen und als Zutat für Pastasaucen und Risotto, erklärte mir Antonio Carluccio einmal. Und was macht Nicole damit? Einen farbenprächtigen Radicchiorisotto, einen geschmorten Radicchio mit Dattelhummus und Gewürznüssen, wovon allein schon das Hummus eine köstliche Freude bereitet und weiter Kürbisnockerl mit Radicchio, Maroni und Bergkäse. In ihren die Kapitel einleitenden Texten fließt viel Historisches und Wissenswertes ein. Immer garniert mit Gesprächsfetzen vom Markttreiben, die eine sehr herzliche Atmosphäre zwischen Marktgängerinnen und Marktständlern widerspiegelt.
Das Marktgeschehen wird auch über die fotografische ‚Ebene‘ eingefangen. Sie sind quasi der Vorspann zu den Marktgeschichten, eine auf eine Doppelseite aufgezogene Bildergalerie, in deren Fokus – sowohl Menschen als auch Produkte – die Protagonisten des Kutschkermarktes stehen. Viele glückliche Gesichter, in den Händen Waren, die gerade angeboten oder gekauft wurden. Das Markt Kochbuch ist so gesehen auch eine fotografische Dokumentation von Augenblicken, eingefangen im richtigen Moment von Tanja Hofer. Besonders gut gefallen hat mir ein Bild. Die Marktstände weg geschnitten, nur die schattenspendenden Sonnenschirme sind noch erkennbar und die Hausfassaden in der Kutschkergasse samt Himmel. Excellent auch die Foodfotografie von Carina Grissemann und Caroline Auer.
Ausprobiert habe ich letztens den Zitronenkuchen. Einfach und leicht zuzubereiten. Die gewölbte Oberseite habe ich gekappt, dann den Kuchen umgedreht und die nun obenliegende Unterseite mit Zitronenglasur bestrichen. Nicht zu dick. Und hätten meine Gäste sich nicht in Selbstbeherrschung geübt, der ganze Kuchen wäre ratfatz weg gewesen. So blieben zwei Schnitten übrig, die ich mit großem Vergnügen am nächsten Morgen zum Frühstück aß.
Die Brennnesselquiche war der Hauptgang eines lustigen Abendessens. Meine Gäste waren voll des Lobes. Für mich war der Teig eine kleine Überraschung. Normalerweise mache ich meinen Quiche-Standardteig nach einem Rezept von Marianne Kaltenbach. Der hält sich nicht so lange. Die Ott’sche Teigversion dagegen lässt sich bis zu drei Tage im Kühlschrank aufbewahren. Verblüffend ist, dass die eingearbeiteten erbsengroßen Butterstückchen gut sichtbar bleiben, der Teig eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Mortadella bekommt. Nach einer relativ langen Ruhezeit wird er auf 4 mm Stärke ausgerollt. Erstaunlich ist die Elastizität des Teiges, wie gut er sich verarbeiten lässt. Die Fülle besteht aus einem halben Kilo Brennnesseln und einem Mix aus Topfen, Milch und Eiern. Kurzum, die Quiche war der Hit und dementsprechend wurde auch Nachschlag verlangt. Mit Brennnesseln zu kochen ist aufwändig, da vom Pflücken bis zum Anbraten viel Zeit vergeht. Da wären Hinweise auf den aktiven und passiven Zeitaufwand bei manchen Rezepten hilfreich. Einige nützliche Tipps und Tricks unter der Überschrift ‚Gut zu wissen‘ passen. Zum Beispiel, ihr ‚Wort zum Mehl‘: für Mürb- und Rührteig sind Mehle mit niedrigen und für Germteig mit hohen Typennummern zu verwenden. Vor dem alphabetischen Inhaltsverzeichnis am Schluss ist noch ein umfangreiches Wörterbuch angelegt. Den österreichischen Begriffen stehen die entsprechenden deutschen Pendants gegenüber. Vom aufdrehen, über Blunzen und versprudeln bis zur Zwetschke ist fast alles dokumentiert, was einem im Küchenalltag unterkommt.
Das Markt Kochbuch von Nicole Ott ist eine erfrischende Neuerscheinung aus dem Braumüller Verlag. Wunderbar und charmant führt die Autorin durch den Kutschkermarkt, bleibt da und dort plaudernd bei Marktständlerinnen und -ständlern stehen, lauscht den Gesprächen zwischen Passanten und Händlern und vermittelt uns so authentisches Marktgeschehen. Die Fotos geben den Schmäh und die gute Stimmung wieder, lassen uns teilhaben am quirligen Leben.
Die Bandbreite der Rezepte ist modern, österreichisch, mediterran, asiatisch und mehr. Sie sind zum Teil von Ott selbst und zum Teil zusammen mit ihrem Sohn Daniel entworfen und getestet und immer für Überraschungen gut. Zum Beispiel der Brennnesselkuchen oder die Baisernester mit Kirschen oder der sommerliche Spitzkrautsalat, ein amerikanisches Rezept, ohne Mayonnaise. Die Erdbeermarmelade mit Hollerblüten habe ich mir vorgemerkt. Das Markt Kochbuch besticht mit den, dem Jahreskreislauf folgenden heimischen Obst- und Gemüsesorten, die in alltagstauglichen Rezepturen zu wohlschmeckenden Gerichten verarbeitet, uns Essern höchsten Genuss bescheren. Was will man mehr?