Heute begleiten wir N. Slater durch ein Küchenjahr.
Bereits auf der Innenseite des Umschlags empfängt uns der Süden. Pistazien-Zitronen-Kekse anstelle eines Waschzettels, und es – das Rezept – ist inkognito, denn im Inhaltsverzeichnis scheint es nicht auf. Da muss selbst Nigel schmunzeln, und der Schalk blitzt ihm aus den Augen, wie er uns da vom Umschlag entgegenblickt. Nigel Slater ist ein Phänomen. Seit Jahren bedient er mit seiner Kolumne „Nigel Slater recipes“ im the guardian eine stetig wachsende Kochgemeinde. Mittlerweile ist Slater zu einem Mini-Imperium angewachsen. Ein Stab von Mitarbeitern sorgt dafür, dass die Marke Slater en vogue bleibt. Und das ist gut so. Denn Slater hat viele Qualitäten. In seinen Kochshows, Zeitungsartikeln und Büchern ist er witzig, geistreich, einfach, behutsam, einfallsreich, inspirierend, poetisch, schwärmerisch und wahrscheinlich noch vieles mehr. Verpackt in Anekdoten und kleinen Essays wandelt der nicht ausgebildete Koch in seinem bei DuMont erschienenen Küchentagebuch durch zwölf Monate. Mit Chronos zur Seite erkocht sich Slater ein Jahr. Ich koche und ich schreibe, könnte sein Motto lauten. Jederman erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, notierte Max Frisch einmal im Gantenbein. Jeder erfindet für andere Autos, Flugzeuge, Lieblingsbiersorten wie auch Slater Risotti, Tartes, Suppen, Kuchen und andere Speisen kreiert. Slaters Speisen erklären nicht die Welt, aber sie machen glücklich.
Slater führt Tagebuch seit Teenagertagen, zeichnet Siege und Niederlagen auf. Diese Küchenchroniken, ergänzt um unzählige Listen über Einkäufe, Küchenutensilien, Obst- und Gemüsesorten, Zutaten hunderter Rezepte und anderes listenmäßig Erfassbare, bilden die Grundlage für Das Küchentagebuch. Von sich behauptet er, Amateurkoch zu sein. Nicht pedantisch, nicht einmal leidenschaftlich. Auch nicht schludrig und nicht vorschreibend, wie etwas zu machen ist. Das ist er nicht. Am glücklichsten ist Slater, „wenn Leser mein Rezept einfach als Inspiration für ihr eigenes nutzen“, heißt es in der Einleitung. So sollte man dieses mit über 500 Seiten umfangreiche Kochbuch mit Tages-Geschichten auch nutzen.
Nigel ist ein storyteller, einschmeichelnd, verführt zum Lesen und Nachkochen. Ein Sog, dem man schwer entrinnen kann. Nicht im Schnellzugtempo, sondern bedächtig fährt man mit ihm durch eine von den Jahreszeiten geprägte Küchen- und Kochlandschaft. Die Monate entsprechen den Kapiteln. Die Grenzziehung erfolgt mit zwei oder drei Fotos, einem Gegenstand, einem angerichteten Teller, Blüten, einem Ausschnitt von seinem Garten oder anderes, aber immer hängen die Bilder mit diesem Abschnitt zusammen.
Der Januar beginnt mit einem Cidre-Brot und einer Suppe aus Wurzeln. Brot wird gereicht beim Einzug in ein neues Domizil und hier zu Beginn des neuen Jahres. Dazu kommt, dass Brotbacken archaisch geprägt, für Slater die grundlegendste Art des Kochens ist. „Lebendigen, warmen Teig zu kneten hat etwas Therapeutisches“ für ihn. Er mischt Weizen- mit Vollkorn Dinkelmehl und damit nicht genug, wird, um hefig-säuerliches Aroma zu produzieren, ein Viertel Liter Cidre, das ist ein französischer Apfelschaumwein, in den Teig hineingearbeitet. Dieses einfache und herrliche, leicht säuerliche schmeckende Brot darf auch zu anderen Jahreszeiten gebacken werden.
Im Februar buk ich Nigels Schokoladen-Muscovado-Bananen-Kuchen, sehr zur Freude meiner zwei Enkelinnen Freya und Olga, als Geburtstagskuchen. Offensichtlich ein Rezept, das die meisten Leute nachkochen – also ein Trendkuchen. Einfach und schnell zu backen. Und noch etwas sei verraten: Ich hätte zwei machen sollen, denn der Kuchenappetit der Eltern und Großeltern war gigantisch. Nigels Tagebucheintragung – dem Kuchenrezept vorangestellt – geht der Frage von Schwarzen Bananen nach, oder wann sind Bananen reif ? Und ohne großartig ins Detail zu gehen, stellt er fest: Es ist nur eine Banane. Für mich (Nigel) muss eine Banane fest, knackig, fast noch unreif sein. Für mich, den Rezensenten, auch.
Am 5. Juni gab es bei Slaters einen Kuchen zum Kaffee. Er ist, so gesteht er, überwältigt vom mitteleuropäischen Ritual der vormittäglichen Kaffee– und Kuchenpause. Abgeschaut in den Kaffeehäusern von Wien, Budapest und Berlin. Nigel übersieht, dass sich diese vormittägliche Gepflogenheiten eher ältere Herschaften leisten, Pensionäre und Rentner, die arbeitende Bevölkerung dann am Wochenende zuhause oder in den Pilgerstätten des guten Kaffees. Seinen Stachelbeer-Streusel-Kuchen habe ich abgewandelt und mit Rhabarber gemacht. Das Vergnügen, schreibt Slater zu diesem Kuchen, liegt nicht in der zuckrigen Kruste, sondern im Kontrast zwischen ihr und der Obst-Biskuit-Schicht darunter.
Ein süßer Kirschsalat war mir unvorstellbar und eine Versuchung wert. Auch, weil ich meinen frischen Holunderblütensirup dazu verwenden und ich mir die Geschmacksmischung Holer mit Kirschen nicht vorstellen konnte. Beide Aromen vertrugen sich hervorragend. Vor diesem ungewöhnlichen Salat gab es als Hauptspeise Hähnchen mit Aprikosen und Kokosmilch. Aprikosen bzw. Marillen für Süßes ist mir aus der indischen und arabischen Küche bekannt. Mit Fleisch kenne ich es nur aus der slawischen. Die Aprikosen paaren sich mit den Aromen der anderen Zutaten, als da sind: Tomaten, Kokosmilch, Limetten, Koriander und Gewürze, während die Fisch- und Sojasoße dem Gericht das i-Tüpfchen aufsetzen. Zu dem Hähnchenessen war unsere Freundin Sabine eingeladen. Das Lob von ihr bedeutete mir viel.
Slater ist ein Liebhaber der Aubergine. An einem Tag mit fast hochsommerlicher Hitze probierte ich seine Tarte mit Auberginen, Thymian und Feta. Der vorgebackene Blätterteig mit zwei Zentimeter erhobenem Rand, und dem lamellenartigen Belag aus Auberginenscheiben darauf ließ das Ganze wie ein Gemälde erscheinen. Und es schmeckte ausgezeichnet.
Slaters Küchentagebuch beinhaltet mehr als nur neue Rezepte. Er improvisiert aus der Tagessituation heraus. Da wird marktaktuelles, d. h. Jahreszeiten gemäß und frisch, genauso verarbeitet wie Reste. Es geht immer um „einfach gutes, bescheidenes, selbst gemachtes Essen“. Das funktioniert. Das Küchentagebuch ist wegen seiner tagebuchartigen Eintragungen sehr textlastig. Das muss man mögen, denn dieses Kochbuch ist auch ein Geschichtenbuch. Kurzweilige Anekdoten fast beiläufig erzählt, wie das Leben eben spielt. Beiläufig fast eingestreut sind bewährt schöne Fotos von Jonathan Lovekin. Slater kann kochen und erzählen. Und er wird weiter Rezepte und Geschichten erfinden. Immer weiter.