Nigel Slater, DAS WINTERTAGEBUCH

Rezepte, Notizen und Geschichten für die kalten Monate

Mit Fotos von Mariam Janashia
Aus dem Englischen übersetzt von Sofia Blind
DuMont Verlag, Köln, 2018, 480 Seiten, Leinen mit Heißfolienprägung, zwei Lesebändchen, 38.-- Euro
ISBN 978-3-8321-9935-7
Vorgekostet

Heute reisen wir nach LONDON.

Einmal im Jahr besuchen wir Nigel Slater. Das muss sein. Nigel ist nämlich ein Phänomen unter den Kochbuchautoren. In gewohnter Regelmäßigkeit – und das bereits über Jahre – bringt Herr Slater ein Kochbuch heraus. Nicht irgendein Kochbuch, nein, es fällt meist unter die Kategorie der Qualität versprechenden, schwergewichtigen, dickbauchigen, wortgewaltigen Literaturen mit 400, 500 Seiten Umfang.

Vier kahle Baumstämme zieren den Leinen-Umschlag und lassen Sensible erahnen, worum es inhaltlich geht. Die äußere Aufmachung ist gediegen, von feiner, zeitloser Schlichtheit und Eleganz. Das kann man auch von den Fotos sagen, in ihnen kann man sich verlieren. Die sind menschenleer und es passt zu der Jahreszeit. Der Winter ist diesmal Nigels Generalthema, das er tagebuchartig bewältigt, eine Vorgehensweise, die sich bereits bewährt hat. Schrift und Bild in warmen kupferfarbenen Ton lassen uns beim Betrachten des Buchdeckels innehalten, um beim Aufschlagen direkt in die fröstelnde Jahreszeit hinüber zu gleiten. Denn da erblicken wir kahle schneebedeckte Kirschbaumzweige und im Hintergrund einen japanischen Shintoschrein – so vermute ich – also ein Bild winterlicher Ruhe. DAS WINTERTAGEBUCH ist im DuMont Verlag herausgekommen und handelt von Rezepten, Notizen und Geschichten für die kalten Monate.

Nigel Slater ist gerade 60 Jahre geworden. Nichts hat er verloren von seinem jugendlichen Elan. Mit Feuereifer schreibt er sich in den Winter hinein, will ihn hoffähig machen, ihn von den abwehrend frostigen Vorstellungen befreien. „Ich sehne mich nach diesem eisklaren Leuchten, nach Himmel aus blassblauem und mattgrauem Licht, das ruhig und sanft, aber auch frisch und knackig ist. Aus der erstickenden Luftlosigkeit des Sommers entkommen, habe ich wieder mehr Energie. Der Winter ist da. Ich kann wieder atmen.“ Der Winter ist für Slater ein Neuanfang. Und er erinnert daran, dass zu dieser Jahreszeit ein rätselhafter Hauch Jasmin oder Narzisse, gefangen in der kalten Luft schwebt. Wie auch der trübselige Anblick ausgebrannter, verkohlter Raketen am Morgen nach dem Feuerwerk; eine Reihe Kürbisse in einem mit Raureif überzogenen Kleingarten, aus dem Zugfenster erspäht, dazu gehören. Nigels Vorliebe für den Winter begann mit einer frühkindlichen Prägung. Im Dachboden seines Elternhauses wurde über Jahrzehnte der Weihnachtsschmuck in Schachteln aufbewahrt. Genau dort, zwischen verblassten Christbaumkugeln und Strähnen silbernen Lamettas, zwischen Zauberkästen und unentwirrbaren Knäueln aus Lichterketten, wurde seine bis heute andauernde Faszination für Weihnachten geboren. Und die ist ein Teil seiner Liebe zum Winter.

Das Tagebuch beginnt mit dem 1. November. Für Schweden und Irland gilt Allerheiligen als erster Wintertag. Für die Landwirtschaft wäre es der Martinstag, also 11.11. und für alle anderen Europäer ist es der kürzeste Tag des Jahres zur Wintersonnenwende am 21. Dezember. In den ersten Seiten kreist der Autor langsam seine Vorstellungen vom Winter ein, zählt immer mehr Fakten auf, die Winter ausmachen: Ruhe, zugefrorene Seen, im Eis eingefangene Beeren, in die Kälte hinausgehen, aus der Kälte hereinkommen, die Aufforderung „komm rein“ und ein wärmendes Getränk serviert bekommen, Christbaumschmuck und vieles andere. Natürlich gehört auch Essen dazu, was sonst? Den Winter essen – Mahlzeiten aus dem Märchen ist auch dann der erste Einstieg in die Welt winterlicher Aromen. Die Aromen des Winters kommen bei uns an wie eingepackte Geschenke in einem Weihnachtspaket, und heißen: Ingwer, Anis, Kardamom, Gewürznelken, Karamellnoten von Ahornsirup, Melasse, Butterkartoffel, Lebkuchen, dampfende Gläser mit Glühwein, würzige Puddings, eine Gans mit goldbrauner Haut und einer Pfütze Apfelmus …

Aber dann geht es erst richtig los. Drinks muntern nicht nur die Seele auf, nein, sie wärmen und verbinden Menschen. Ein einfacher Apfeldrink kann auch durchaus dazu dienen, unsere eigene Ankunft zu Haue zu begrüßen. Für den Willkommensdrink wird ein Apfel halbiert, geviertelt, das Kerngehäuse entfernt und jedes Viertel in zwei dicke Schnitzel geschnitten. Dann werden zwei Esslöffel Apfelsaft in einem flachen Topf erhitzt, zwei Esslöffel brauner Zucker dazu gegeben und die Äpfel hineingegeben. Köcheln lassen, bis sie weich sind aber noch nicht zerfallen. Vom Herd nehmen. In einem Edelstahltopf 100 ml Brandy, 400 ml naturtrüben Apfelsaft, eine Clementine, drei Gewürznelken, eine Zimtstange und drei zerdrückte Pimentbeeren zum Kochen bringen. Die Temperatur herunterschalten und 15 Minuten sanft weiterköcheln lassen. Auf vier Gläser verteilen und in jedes Glas ein paar gekochte Apfelschnitze geben. Das ist Nigels Winter-Willkommensdrink, also wohl bekomms!

Slater lässt in weiterer Folge Bräuche und Mythen aufleben, erzählt vom Weihnachtsbaum aussuchen für Trafalgar Square, vom Christbaumschmücken, vom Plum-Pudding kochen, der aussieht wie ein Torfhäufchen, das von einer gelben Sonnenkugel angestrahlt wird. Er lässt die Heiligen Drei Könige von Köln aufbrechen, als Gabe Myrrhe, Gold und Weihrauch in den Packtaschen der Esel verstaut. Das ist auch die Zeit des Christmas Cake mit kandierten Früchten. Er besucht die Stadt aus Zucker und Schlagobers, nämlich Wien und den Christkindlmarkt. Auch Nürnberg ist eine Station seiner winterlichen Reise, wo er die mit Spielzeug gefüllten Schaufenster bestaunt. Zum Essen gibt es aber nicht Lebkuchen, womit ich diese Stadt verbinde, sondern Mince Pies, ein englischer Klassiker von süßer Verführung. Der 5. Dezember ist die Nacht des Krampus und ihn zu besänftigen, sollte ein dunkler Schokoladen- Gewürzkuchen erfolgversprechend sein. Es kommen noch einige Stationen, die für den Winter typisch sind, wie bspw. das Probesingen von Silent Night usw. Am Ende steht am Kalender der 2. Feber. Lichtmess, der Tag an dem Weihnachten offiziell endet. Es ist kälter und frostiger als sonst. Früher haben an diesem Tag auch die Dienstmädchen ihre Stelle gewechselt. An diesem Tag ist Nigel in Japan. Zum Frühstück gibt es grünen Tee und Agedashi-dofu, knusprig gebratener Seidentofu in einer Pfütze aus schimmernder Ponzu-Brühe. Ein Häufchen aus geriebenem Rettich, weiß wie der Schnee vor seinem Fenster … da konnte er sein Glück kaum fassen, als er die papierbespannte Schiebetür öffnete und in den Schnee blickte. Tage später, zu Hause, macht er sich ein Zitronen-Orangen-Eis mit Basilikum, dessen Aromen aus rosa Grapefruit und Orange ihn an diesen fernen Morgen im Land der aufgehenden Sonne erinnerten. Mit einem Wintersorbet, rein wie ein winterlicher Bach, lässt Nigel Slater den Winter ausklingen.

DAS WINTERTAGEBUCH ist ein wunderbares Koch- und Lesebuch. Slater versteht es, mit seinen Geschichten Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Er verzaubert und lässt den Leser und die Leserin das Bedrohliche, das vielfach dem Winter anhaftet, einfach vergessen. Zudem werden Sie mit den köstlichsten Gerichten und Getränken verwöhnt. Wer kann da noch dem Winter abschwören? Ich nicht, aber ich mag auch den Winter mit seiner Ente und Rotkohl, mit seinem Plumpudding, mit dem Shortbread mit Feigen und Orangen und vielem anderen.

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