Heute reisen wir in den SÜDEN.
Nicht ganz auf den Spuren Goethes, aber punktuell immer wieder tangiert unsere Route mit seiner. Es ist eine Reise in jene Regionen Italiens, in der Zitrusfrüchte eine dominante Rolle spielen. Zu den Limonaie am Gardasee, den Bitterzitronen Liguriens, in die Zitrusgärten der Medici und weiter in den Süden, zu den Blutorangen des Ätna, den Bergamotten und Cedri Kalabriens führt uns diese Reise mit Peter Peter, dem versierten Italienkenner und Gastrosophen. Sein neuestes Buch Blutorangen ist im Wagenbach Verlag erschienen. Es ist gleichwohl eine Entführung in den Kosmos der italienischen Zitrusfrüchte: Bereichert an Geschichten, Anekdoten, historischen Fakten und wenigen Rezepten kann man sich lesend der Sehnsucht nach dem Süden hingeben.
Einleitend fragt sich Peter: Was wäre Bella Italia ohne seine Zitronen, ohne seine Orangenblüten? Und gibt sich auf 140 Seiten gleich selbst die Antworten. Seit der Renaissance schafft die optische, sinnliche und sensorische Verführung durch die duftenden Früchte einen sentimentalen Mehrwert gegenüber einer Italienwahrnehmung, die sich auf römische Ruinenromantik, auf die Patina von Fresken, Adelsvillen und barockem Kirchenprunk, kurzum auf Nostalgie beschränkt. Alltagskultur versus Vergangenheit?
Der Autor nähert sich seinem Objekt der Begierde über zwei Hauptstränge an. Das erste Hauptkapitel beleuchtet die Facetten, also die verschiedenen Teilaspekte, die das Thema Zitrusfrüchte in seiner Vielfalt beleuchten. Das beginnt mit der botanischen Erfassung und wissenschaftlichen Einordnung durch Linné über die Zitrusfrüchte in der Kunst bis zum Zitronenhuhn, einer wahren Köstlichkeit.
So beeindruckte Joseph Beuys mit seiner Capri-Batterie nicht nur die Kunstwelt. In einer Auflage von 200 Exemplaren gehört das Werk, das aus einer Glühlampe, einer dazugehörigen Lampenfassung, die in einer Zitrone steckt, zu den bekannteren Objekten von ihm. Die Inspiration zu seinem Kunstwerk kam dem Künstler nach seinen Aufenthalten in Neapel und auf Capri, wo er sich von einer Lungenentzündung erholte. Der Duft und die Farbe der Agrumen – wie die Sammelbezeichnung der Zitruspflanzen lautet – gehört zum Standardrepertoire prominenter Italienreisender, von André Gide bis Nitzsche.
Auch die Volksmedizin setzt auf Orangen und damit die Hoffnung, nicht krank oder die Furcht, nicht geheilt zu werden. So wurden die Agrumen gar als Abwehrmittel gegen die Pest eingesetzt. Im Schnabel der vogelköpfigen Pestarztmasken wurden Kräuter und Limonenschalen verborgen, um vor Ansteckung zu schützen. Allein, es nützte nichts. Selbst den kaiserlichen Leibarzt Mattioli, der von oben bis unten eingesprüht mit Hesperidendüften war, raffte die Pest dahin. Allerdings bekamen die Zitronen im 18. Jahrhundert ihren großenGesundheits-Auftritt. Sie wurden erfolgreich zur Bekämpfung der Skorbut eingesetzt auf Englands Kriegsschiffen, verschafften so den englischen Matrosen den Spitznamen limey.
Dass die Zitrusfrüchte massgeblich mit ess- und trinkbaren Genüssen für das leibliche Wohl sorgen, muss nicht unbedingt erwähnt werden. Aber dass die Limonade aqua di perfetto amore ohne sie nicht existierte, sehr wohl. Das Wasser der perfekten Liebe bestand aus mit Gewürznelken und Zimt in Spiritus mazerierten Schalen von Süßorange, Zitrone und Zedratfrucht. Der Extrakt wurde mit Zucker gesüßt und mit kostbarer Cochenille, einem aus Schildläusen gewonnenen Farbstoff, liebesrot eingefärbt.
Im zweiten Hauptabschnitt suchen wir mit Peter jene Orte auf, wo die Zitrusfrüchte unterschiedlichsten Colleurs sich in den Landschaften richtggehend einprägten. Berühmt sind die Zitronengärten am Gardasee, die Chinotto-Sträucher Liguriens mit ihren bittergrünen Früchten, Kalabriens koschere Cedratzitronen, für die weitangereiste Rabbis extraorbitante Summen bezahlen. Natürlich dürfen Bergamotten, Mandarinen, Pomeranzen und Blutorangen in der Aufzählung und Verortung nicht fehlen. Vor den Toren Palermos wurden von den Arabern Haine von duftenden Pomeranzen angelegt. Sie regten den andalusischen Mekkapilger Ibn Jubayr zu folgendem Vergleich an: Gärten umgeben Palermo wie Geschmeide die Hälse junger Mädchen mit schwellendem Busen. Heute ist nicht mehr viel von diesen traumhaften Gärten zu sehen. Aber es gibt einen originellen Ort in Siziliens Hauptstadt, wo man den Zitrusfrüchten kulinarisch begegnen kann. Hinter den unscheinbaren Klostermauern des Convento di Santa Caterina ist es die Bäckerei I segreti del Chiostro (Die Geheimnisse des Klosters), die mit verführerischen Dolci wie bspw. den Orangen-Mandel-Keksen aufwarten. Wer es nicht erwarten kann, dorthin zu reisen, findet vielleicht mit den Rezepten von Peter Peter etwas Ablenkung. Allerdings sind sie auch nicht so leicht umzusetzen. Für die Tagliolini al limone braucht es Zitronenblätter, für das Erfrischungsgetränk Chinotto den entsprechenden Sirup dazu, für die Zitronentorte Tarte au Citron de Menton die entsprechenden Mentonzitronen und für den Limoncello die Früchte der Sirenen aus Sorrent oder Amalfi. Jaja, es ist alles nicht so einfach, wenn man streng nach Vorgabe diese klassischen Rezepte nachbaut. Und wenn man sie durch konventionelle Zitrusfrüchte ersetzt, dann wird man nie wissen, welch besonderes Aroma bspw. die Zitronen von Menton besitzen. Die kalabresische Variante des Gerichts Spezzatino di tonno al bergamotto (Thunfischstücke mit Bergamotte) hat mir besonders gemundet, wenn auch der Bergamottensirup aus Südfrankreich kam.
Blutorangen von Peter Peter ist eine wunderbare Lektüre über die vielfältigen Zitrusfrüchte, die auf der Apenninenhalbinsel gedeihen. Der Autor erzählt sehr anschaulich, wie die Süßorangen, Pomeranzen, Zitronen, Mandarinen, Bergamotten und Pampelmusen ihren Weg in dieses Land fanden und zu einem wichtigen wirtschaftlichen Kulturzweig wurden. In Blutorangen sind vor allem die historischen Entwicklungen rund um die Zitrusfrüchte hervorgehoben, dem ein wenig botanisches Wissen quasi als Alibi beigestellt ist. Ich hätte mir gewünscht, auch etwas über die Anatomie der Orangen oder ein Orangen-Marmeladerezept zu erfahren wie auch aktuell Geopolitisches, etwa den Stellenwert der italienischen Zitrusfrüchte in Europa. Am Ende finden sich noch einige interessante Adressen und ein ausführliches, vor allem italienischsprachiges Literaturverzeichnis.
Wenn auch die Vorschläge zum Nachkochen sehr beschränkt sind, so sind doch die Ausführungen Peter Peters zu Italiens Zitrusfrüchten ein Lesegenuss für viele Stunden.