Samuel Herzog, Indien im Augenblick

oder vom Abenteuer einer Reise ohne Ziel

Fotos von Samuel Herzog
Rotpunktverlag, Zürich, 2019, 208 Seiten, 24.- Euro

ISBN 978-3-85869-848-3

Samuel Herzog, Indien im Augenblick
Die Küchen der 29 Bundesstaaten
Rezepte in Zusammenarbeit mit Susanne Vögeli
https://rotpunktverlag-assets.s3.eu-west-1.amazonaws.com/diverses/indien-im-augenblick-rezepte.pdf
Vorgekostet

Heute reisen wir nach INDIEN.

Am Anfang eines jeden neuen Jahres steht immer ein Wunsch oder mehrere Wünsche, die ich mir erfüllen möchte im Laufe des Jahres. So auch 2025. Da ist eine Reise nach Indien geplant. Und wie es bei größeren Unternehmen so üblich ist, gilt es zur Vorbereitung Karten zu studieren und natürlich viel zu lesen. Auch das Ess- und Kochprogramm ist stark auf diese Wunsch-Reisen abgestimmt.

Diesmal habe ich auf ein Büchlein zurück gegriffen, das bereits 2017 erschienen ist. Indien im Augenblick von Samuel Herzog ist keineswegs verstaubt, im Gegenteil: Er vermittelt mir ein Land, das ich unbedingt sehen will. Er bringt ein wenig Farbe in mein Bild des Subkontinents und lässt mich ahnen, was in mir und mit mir in diesem Land geschehen könnte. Zugegeben, die Erwartungshaltung ist groß. Die Texte sind Episoden aus vielen Indienreisen. Zudem bedient der Autor einen weiteren Aspekt für meine Reisevorbereitung. Auf Herzogs homepage sind unter dem selben Titel Rezepte hinterlegt, Gerichte, die er dort gegessen hat und die mich die Küche seiner bereisten Gegenden besser verstehen lassen.

Zunächst aber widmen wir uns seinen 47 Geschichten, die er Episoda nennt und die im Grunde längere Bildlegenden sind. Denn allen Apercus stehen in enger Beziehung zu den Fotos, die ihnen vorangestellt sind. Die Route konzentriert sich stark auf die Südspitze Indiens, von dort weiter zu einigen Küstenstädten des Arabischen Meeres hinauf bis Mumbai und weiter in den Norden nach Jammu und Kasmir. Dann südlich nach Delhi und Bhopal, jetzt aber schräg ostwärts zum Golf von Bengalen in größerem Umkreis von Puri. Östlich von Bengalen gibt es weitere wenig bekannte Provinzen Indiens, für die Herzog auch einiges übrig zu haben scheint, bspw. Sikkim.

Aber nicht die Reise ist das Ziel, sondern vielmehr der Unterbruch der Reisebewegung, schreibt er einleitend. Und trifft in einem Park der Stadt Amritsar auf viele kleine Grüppchen von Männern, die in Spiele vertieft sind. Und mitten drin: Reglos liegt der junge Mann da. Eine halbe Armlänge von den bloßen Füßen entfernt stehen seine Turnschuhe im Gras, die Socken sauber hineingenestelt. Die Beine sind leicht angewinkelt, trotzdem wirkt alles an ihm kerzengerade, als wäre sein Körper der Zeiger einer großen Uhr. Dieser Zeiger allerdings bewegt sich nicht, er wälzt sich nicht, streckt sich nicht, kratzt sich nicht – stundenlang kein Zucken, kein Ticken. Dafür aber verändert sich das Ziffernblatt. Auch die Schweinefamilie am Rand der Wiese, die sich durch das Gras grunzt, stört den Schlafenden nicht. Erst jetzt fällt dem Autor auf, dass hier etwas fehlt, das in Indien sonst immer dazugehört, wenn Menschen zusammenkommen: Lärm. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass Amritsar Geschichte schrieb, als Indira Gandhi den Goldenen Tempel stürmen ließ, in dem sich die militanten Sikhs verschanzten. Später wird sie von ihren Sikh-Leibwächtern ermordet. Aber das ist eine andere Geschichte. Also zurück zu diesem kleinen Park, der keinen Namen hat, etwas südlich des Bahnhofs. Da hört man nur das Bellen der Hunde, das Krächzen der Krähen, ganz fern das Hupen und Klingeln des Verkehrs und darüber dann und wann das Hornen der langen blauen Züge der Indian Railways, die im Schritttempo durch die Stadt rollen … 

Ein Moment der ideal wäre passiert Herzog in Chandigarh, in einer Millionenstadt, die in Europa niemand kennt. Denn, wie oft kommt es schon vor, dass man um eine Ecke biegt und plötzlich hundert Notare vor sich hat, die auf Kundschaft warten? Herzog kommt mit Walila ins Gespräch. Der Notar bietet Hochzeitsverträge, beglaubigte Übersetzungen, Urkunden aller Art an. Und Herzog möchte ein Dokument von ihm, in dem steht, dass seine Reise durch Indien Arbeit ist. Aber Walila kann keinen Vertrag ausstellen, da Samuel Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichzeitig ist. Das wäre doch, als ob sie sich selbst heiraten würden, meint er.

Amüsant zum Lesen sind Herzogs Indien-Augenblicke. Voll Leben, das so anders abläuft als im fernen Europa. In Bhopal fühlt sich Herzog vogelfrei, es ist die Stadt der Metzger. Die Stadt hat ein Herz aus Fleisch. Seine dunkelste Kammer ist der Fischmarkt, der in einem länglichen Keller untergebracht ist. Wer hier hineingerät, wird zum Blutkörperchen, das zwangsläufig durch die Arterien dieses brüllenden, feilschenden, lachenden, bettelnden, fluchenden Organs gequetscht werden muss. Vorbei an Leibern riesiger Karpfen, die am Boden ihrem längst verlorenen Leben nachzittern. Die äußere Kammer des fleischigen Herzens ist der Geflügelmarkt und die dritte der Ziegen- und Rindermarkt.

Jetzt springen wir vom Buch auf die homepage des Autors und weiter auf seine indischen Episoda, um jene Rezepte zu erfahren, die uns Indien im Augenblick auch kulinarisch näher bringen.

Bhopal, wo überdurchschnittlich viele Muslime leben, ist berühmt für seine Paya soup und man trifft auf Schritt und Tritt kleine Buden, die mit Fotos von Bodybuildern für den kräftigenden Effekt ihrer Brühen werben. Am bekanntesten ist wohl das Geschäft von Kamar Bhai an der Sultania Road, mitten im Herzen der Altstadt. Hier wird die Brühe abgeseiht und dann mit Mehl, Maisstärke oder gemahlenen Hülsenfrüchten so stark gebunden, dass sie eine dickliche, glasig-schleimige Konsistenz hat, die eher an eine Sauce denn an eine Suppe denken lässt. Bevor er seine Paya soup dem Gast überlässt, gibt Kamar Bhai noch allerlei Pulver (schwarzen Pfeffer, Garam masala, Steinsalz?) und Saucen hinein und häuft etwas zerzupftes Muskelfleisch auf die Oberfläche. Ehe man die Suppe isst, mischt man dieses Fleisch unter und gibt etwas Zitrone dazu. Die Kamar Bhai Paya Soup schmeckt sehr salzig, etwas scharf und leicht säuerlich. 

Natürlich ist das Rezept geheim. Dennoch liefert Herzog einen Nachbau, besser Annäherung an das Aroma und die Konsistenz der berühmten Paya soup aus Bhopal. Auch mit dieser Stadt in Verbindung gebracht wird Bhopali biryani,ein Reisgericht, das mit Sternanis und Kewrawasser gewürzt ist.

Herzogs Internetauftritt von Indien im Augenblick ist eine Reise durch die Küchen der 29 Bundesstaaten. Die Rezepte wurden mit Susanne Vögeli zusammengestellt bzw. getestet, um sie westeuropäischen Bedingungen anzupassen. Susanne Vögeli ist uns bekannt mit dem Fülscher heute Kochbuch, zudem betreibt sie eine Kochschule im Schweizerischen Aarau.

Wie schon der Untertitel des Internet-Kochbuchs Indien im Augenblick vermittelt, tauchen wir damit in die Küchen Indiens ein, also plural. Wer sich darauf einlässt, wird Überraschungen erleben.

Herzog hat den Inhalt grob nach sechs Landesteilen geordnet und dann in alphabetischer Reihenfolge jedem Bundesstaat ein Kapitel gewidmet. Er stellt somit alle Küchen auf eine Ebene, was so real nicht passt. Allein schon die Voraussetzungen können nicht unterschiedlicher sein: denn es gibt reiche und karge Regionen, was sich auch auf die Lebensmittel auswirkt. Berühmte Küchen wie die von Kerala oder Rajasthan werden hier also genau gleich behandelt wie die Küchen von Himachal Pradesh oder Jharkhand, die auf eine gewisse Weise gar nicht existieren. Das stört aber nicht weiter, finde ich. Im Gegenteil, diese Nivellierung erhöht das kulinarische Spektrum und wir lernen so interessante Speisen auch im Kontext sozialer regionaler Gegebenheiten kennen. Schon das Inhaltsverzeichnis macht sichtbar, in welchen Küchen es mehr Abwechslung gibt.

Hier nun einige Empfehlungen an Gerichten, die auszuprobieren sich lohnen.

Chukundar ki Sabzi ist ein würziges Ragout aus Roter Bete, das so gekocht ist, wie man auch Fleisch kochen würde. Verfeinert mit Zwiebel, Ingwer, Chili und einigen Gewürzen, ist dieses Gericht auch wandelbar und man könnte anstelle der Roten Bete auch Sellerie oder Karotten dafür nehmen.

Der Zentrums-Küche zuzuordnen ist die bereits erwähnte Paya soup, in unserem Fall aus Bhopal. Ein empfehlenswerter Versuch sind die zerquetschten Kartoffeln mit Ajowan, Aloo chokha genannt, ein Streetfood-Klassiker, der gerne zusammen mit gegrillten Brötchen aus Weizenmehl, die mit geröstetem Kichererbsenmehl gefüllt, serviert wird. Vor Ort erfährt das Gericht meist eine rauchige Note, was hier das geräucherte Chilipulver vortäuschen darf.

Mit Kesari Bhaat sind wir im südindischen Raum angekommen, in der Udupi-Küche. Was so nicht ganz stimmt, denn diese Süßspeise aus Weizengrieß wird heue in ganz Indien gegessen. Klassisch wird dieser Pudding nur mit Wasser angerührt. Hier ist sogar der Milchanteil höher und die Süße bringen der Zucker und die Ananas-Stücke, die sich zusammen mit wenigen Cashewnüssen im Grießpudding verstecken. 

Also! Wer seinen Traum oder Wunsch nach Indien sowohl als Lektüre oder in kulinarischer Hinsicht erfüllen möchte, der ist mit Indien im Augenblick mehr als gut beraten. Kurzweilig und amüsant erzählt Herzog von seinen Indien-Erlebnissen, die mit dem Nachkochen von Gerichten aus seinem digitalen Rezept-Heft Indien im Augenblick kulinarisch vertieft werden können. Keine Frage, es gibt hier viel zu lesen und viele Ideen zu Gerichten, die unsere Vorstellung von Indien in allen Bereichen verrücken, weg von einem Klischee der indischen Küche, die gibt es nicht. Die Rezepte sind mit längeren Einführungen versehen, in denen einzelne Aspekte der Küche erläutert werden: Historisches, ehrwürdige Traditionen, religiöse und rituelle Motive … Herzog spricht auch vom Unterwegs sein nach Art der Kuh. Lasse ich mich doch wie eine Kuh an diesem oder jenem Ort nieder und betrachte die kleine Welt, die mich umgibt – manchmal durchaus wiederkäuend, was ich vorher in mich aufgenommen. Indien!

Samuel Herzogs Rezeptheft können Sie herunterladen –  https://rotpunktverlag-assets.s3.eu-west-1.amazonaws.com/diverses/indien-im-augenblick-rezepte.pdf