Sofia Blind, Die alten Obstsorten

Von Ananasrenette bis Zitronenbirne

Geschichten, Rezepte und Anbautipps
Mit einem Beitrag von Kathrin Böhme
Mit historischen Illustrationen aus der Staatsbibliothek zu Berlin
DuMont Verlag, Köln, 2. Auflage 2020, 192 Seiten, mit Lesebändchen, 25.70 Euro
ISBN 978-3-8321-9988-3
Vorgekostet

Heute reisen wir in das deutsche Bundesland RHEINLAND-PFALZ.

Genauer gesagt nach Geilnau an der Lahn. Dort lebt Sofia Blind, Autorin und Übersetzerin, die ich vor allem mit Nigel Slater in Verbindung bringe. Sie übertrug sämtliche Werke des englischen Kult-Kochbuchautors ins Deutsche, und das hervorragend.

Aber Sofia Blind hat noch mehr Interessen. Wenn sie nicht gerade über fremdsprachige Texte brütet, dann – so stelle ich mir vor – hegt und pflegt sie ihren historischen Garten mit über dreißig Obstbäumen. Eine Oase des Glücks sind ihr die seltenen alten Sorten wie Champagnerrenette, Große Grüne Reneklode u.a.. Aber dieser Hain ist auch ein Ort der Inspiration. Und der Einfluss der Baumpflanzungen für die Entstehung ihres Buches Die alten Obstsorten dürfte nicht unerheblich sein. Von Ananasrenette bis zur Zitronenbirne reicht das Spektrum der über 50 Obstsorten, die uns die Autorin ausführlich vorstellt. Keine kommerziellen Industriesorten. Hier gilt, „Unter den Menschen und Borsdorfer Äpfeln sind nicht die glatten die besten, sondern die rauen mit einigen Warzen“, wie Jean Paul schrieb. Aber den Borsdorfer Apfel, immerhin einen der ältesten deutschen Apfelsorten, finde ich nicht erwähnt.

Nun, das wäre auch vermessen, gibt es doch heute immerhin noch rund 1.500 Apfelsorten in Europa. Und der Apfel steht an erster Stelle, nicht nur im Alphabet, sondern auch im Vergleich der Anbauflächen. Vor 1900 allerdings sah die Welt der deutschen Obstkulturen noch anders aus. Da war die Pflaume der häufigste Obstbaum Deutschlands. Die Pflaumen, das sind die ovalen weichen und die Zwetschgen, die länglich blauen. Aber die botanische Vielfalt ist ungleich komplizierter. Denn es gibt eine Unzahl an sogenannten Primitvpflaumen, die dann Spillingen, Kriechen, Bidlingen und Zibarten heißen. Sie sehen, es geht ganz schön kompliziert zu, im Obstgarten. Aber keine Sorge, Sofia Blind versteht es, das Verwirrspiel alter Sorten so aufzudröseln, dass man fasziniert immer tiefer eindringt in die Welt der archivaren Obstvielfalt.

Im Vorwort umreißt sie ihr Vorhaben mit zwei Fragen: Was ist aus der atemberaubenden Fülle an Sorten geworden? Gemeint sind die 1424 verschiedenen Äpfel, 1016 Birnen, 324 Kirschen, 251 Pflaumen und 194 Pfirsiche, die die Obstsortendatenbank des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschlands verzeichnet. Und zweitens: Warum sollte man überhaupt alte Sorten pflanzen? Natürlich wegen der Freude an dem kulinarischen und ökologischen Schatz, der sich sofort beim Durchblättern des Buches zeigt. Aber es geht auch um den Geschmack der alten Obstsorten, die sich beim Hineinbeißen und in der Verarbeitung offenbaren. In einem kurzenAbriss wird die Geschichte der alten Obstsorten, von der Antike bis in die Gegenwart, dargestellt. Dabei wird deutlich, wie unglaublich schwierig es ist, die vielen Sorten zu bestimmen, und warum die Pomologen bis zu 1600 verschiedene Kategorien für die Bestimmung entwickelten. Ab den 1950er Jahren sah es schlecht aus für die lokalen Obst-Einzigartigkeiten, wurden doch immer mehr Streuobstwiesen gerodet und dafür Massenäpfel wie Golden Delicius, Gala und Pink Lady gepflanzt. Die Bodenfelder Renette, Dr. Seeligs Orangenpepping, der Holsteiner Rosenhäger, der Weiße Krieger und viele andere Apfelsorten haben das nicht überlebt, sind heute verschwunden, verschollen wie auch die Braunrote Speckbirne, die Schnackenburger Winterbirne, die Bettenburger Herzkirsche, die Gemeine Marmorkirsche, Biondecks Frühzwetschge, die Königspflaume von Tours und und und. Aber den Blutapfel, den gibt es noch. Auch die Gloria Mundi, den Herbstprinz und den Klarapfel. Das sind vier alte Apfelsorten, die Sofia Blind mit Bild und Steckbrief vorstellt. Abbildungen – vorwiegend alte Stiche – die die Staatsbibliothek von Berlin zur Verfügung stellte und deren Nachweis allein zwei Seiten umfasst. Überhaupt ist der Arbeitsaufwand für dieses wunderbare Obstbuch gigantisch, das zeigt sich im mehrseitigen Quellennachweis. Und die Autorin versteht es, dieses Wissen nicht sperrig und verwissenschaftlicht einzubringen, sondern elegant formuliert in Geschichten und Daten zu verpacken, dass das Lesen viel Spaß macht. Bespiele gefällig? Über die Ananansrenette heißt es: Am gefährlichsten aber sind Namens-Missverständnisse bei der Champagnerrenette: Dieser Apfel heißt so, weil er aus der Champagne stammt – leider nicht, weil er nach Champagner schmeckt! Und der einzige – kleine – Nachteil des Roten Ballefleur, dieses ebenso prächtigen wie bunten Winterapfels ist sein anfangs etwas wirrer Wuchs; es tut ihm gut, wenn er einen kundigen Erziehungsschnitt bekommt. Dann aber liefert der Rote Bellefleur zuverlässig Jahr für Jahr seine bildhübschen, karmesinrot gestreiften Früchte – und natürlich die namensgebende „schöne Blüte“.

Aber es werden nicht nur Äpfel sondern auch Aprikosen & Pfirsiche, Beeren, Birnen, Kirschen, Pflaumen sowie weitere seltene Obstsorten vorgestellt und klar und bündig beschrieben. Etwa die Großfrüchtige Mispel. Knotig, krumm und ungestalt nannte sie der Würzburger Hofgärtner Johann Prokop um 1780. Und Nigel Slater fand die Mispel jedenfalls vom ersten Tag an einfach atemberaubend – mit ihren weißen, gardinengleichen Blüten im Frühling, die sich bis zum Herbst in mehr als hundert Früchte verwandelt hatten, verborgen zwischen rost- und gold- farbenen Blättern – der schönste Baum in seinem Garten. So eindrucksvoll können Obstbäume und ihre Früchte beschrieben werden. Und von meinem Lieblingsobst, der portugiesischen Birnenquitte schrieb Plinius der Ältere vor fast 2000 Jahren, als die Früchte mit säuerlichherbem Geschmack; sie seien die mit dem besten Geruch: Zitronen und Quitten. Und von der Walnuss Bijou erfahren wir, dass diese Neujahrsnüsse allen empfohlen sind, die mit ihren Kindern und Enkelkindern gerne basteln.

Auch für Kundige der Obstszene dürfte das eine oder andere Detail überraschend sein. Etwa, dass die Johannisbeere Weiße Kaiserliche für Marmelade nicht taugt, weil sie mit dem Kochen die Farbe verliert und sich ihre aristrokratisch vornehme Blässe in bräunliche Pampe verwandelt. Oder, dass im 18. und 19. Jahrhundert Birnen groß in Mode waren mit über 3.000 Sorten, die die Gärtner wohl zur Verzweiflung brachten.

Jedes Sortenkapitel endet mit weiteren Sortenempfehlungen, die listenartig kurz beschrieben und zusammengefasst, die enorme Vielfalt demonstrieren. Ein eigenes Kapitel ist dem Obstanbau und der Sortenwahl gewidmet. Das wird abgelöst von einer kleinen Auswahl an Rezepten. Kürzest und pointiert beschrieben sind die Grundrezepte. So zum Beipiel Marmelade: Die vorbereiteten Früchte mit der gleichen Menge Gelierzucker etwa 5 Minuten kochen. Sobald eine kleine Probe auf einem kalten Teller geliert, in sterilisierte Gläser abfüllen und gut verschließen.Ausführlicher dann 11 klassische Obstrezepte, die wegen der geringen Anzahl hier alle genannt seien: Schweizer Apfelwähe, Apple Crumble, Wachauer Marillenknödel, Eton Mess, Träubleskuchen, Birnen, Bohnen & Speck, Clafoutis, Kirschsuppe mit Klüten, Augsburger Zwetschgendatschi, Pflaumenmus und Spanisches Quittenkonfekt. Und nicht unerwähnt sollte sein, dass der Apfel Crumble nicht nur ein Hit ist unter Alt und Jung, sondern auchsehr schnell zubereitet.

Ein Gastbeitrag über die Geschichte der Pomologie von Katrin Böhme sowie viele Tipps & Adressen und ein ausführliches Sortenregister runden dieses wunderbare, gedruckte Obstkistlein ab. Und an dem abgebildeten Gravensteiner, dem roten Weinbergpfirsich, der Moschuserdbeere würde man gerne riechen – und dann reinbeißen.

Sofia Blinds Die alten Obstsorten ist fast eine Streitschrift für die alten, ja klar, Obstsorten, die nicht nur schön bunt aussehen, sondern sich auch fein anfühlen. Etwa der Lederapfel oder rote Boskop, der mit seiner leicht flaumigen Schale sich lang ins Frühjahr hinein hält und einen Duft ausströmt, der den ganzen Keller einnimmt. Man wünscht diesem Büchlein, dass es anregt, auch alte Kultursorten zu pflanzen.