William Sitwell (Hg.), Das Großbritannien Kochbuch

Die besten Rezepte von 100 Chefköchen, Bäckern und Food Heroes

Mit Fotos von Lizzie Mayson
Aus dem Englischen von Helmut Ertl
Knesebeck Verlag, München, 2018, 428 Seiten, 41.10 Euro
ISBN 978-3-95728-095-4
Vorgekostet

Heute reisen wir nach GROSSBRITANNIEN.

So wird die Hauptinsel der Britischen Eilande im Nordatlantik genannt. Das ist geographisch klar definiert und schließt neben England auch Schottland und Wales mit ein. Und, wir haben einen Reiseführer. William Sitwell, der sich als Journalist, Buchautor und Moderator diverser englischer TV- und Radioshows, vor allem mit einem Thema auseinandersetzt, dem Essen. Ein findiger Kopf, der sich der Kulinarik in all seinen Facetten widmet. So beschäftigte er sich in Eggs or Anarchy, also Eier oder Anarchie, mit der Ernährungssituation während des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien. In Eine Geschichte des Essens in 100 Rezepten (a history of food in 100 recipes) versucht er nicht weniger, als den Verlauf der Zivilisation über die historische Entwicklung von Essen und Kochen nachzuzeichnen. Eine Monsteraufgabe, wobei es Sitwell gelang, einige tausend Jahre Essgeschichte auf wenige hundert Seiten zusammenzufassen. Da war die Arbeit an seinem jüngsten Buch wohl um einiges leichter zu bewältigen. Einhundert Köche, Bäcker und Küchenchefs kontaktierte der Autor, fragte nach deren Lieblingsgerichten, um sie in einem Kochbuch zu veröffentlichen. Das Großbritannien Kochbuch, so der genaue Titel, ist im Knesebeck Verlag erschienen.

Nun assoziiert man zu diesem Titel, eher traditionelle Rezepte, Klassiker und Neuschöpfungen aus Großbritanniens Küche. Mitnichten! Darum geht es Sitwell nicht. Für ihn gilt in erster Linie, das Land als kulinarischen Schmelztiegel vorzustellen. Unter den 100 Food Heroes sind bekannte Namen wie Sabrinah Ghayour, Yotam Ottolenghi, Anjum Anand, Aldo Zilli, Antonio Carluccio u.a., allesamt Meister ihres Metiers, die irgendwann nach Großbritannien ausgewandert sind. Die sich integriert haben in die englische Gesellschaft und aufkochen. Natürlich sind unter den vorgestellten Köchinnen und Köchen auch britische Staatsbürger. Aber viele kamen erst in den letzten Jahrzehnten in dieses Land und bereichern seither die britische Küche mit neuen und exotischen Kochstilen. Eine multikulturelle Mischung, die einiges Mediterranes aufbietet, aber auch vom mittleren Osten nimmt. Wie eine diebische Elster sammelt das Land neue Zutaten und Aromen. Kanada findet sich dort ebenso wie der ferne Osten; Großbritanniens Kolonialmacht erlebt in der Küche einen zweiten Frühling. Martialisches Kriegsgeheul ist nicht zu hören. Schmatzgeräusche wohl eher, aus britischen Stadtzentren und Einkaufsstraßen die sich zum Tummelplatz der Esskulturen entwickelt haben. Vielfalt ist angesagt und das spiegelt sich in diesem Kochbuch wieder.

In sechs Kapiteln offerieren uns bekannte und weniger bekannte KöchInnen, FoodbloggInner, BäckerInnen und KochbuchschreiberInnen die neue britische Küche. Das ist zwar etwas irreführend, denn es ist quasi Weltküche die in Großbritannien präsentiert wird. Mit einer weiteren Einschränkung, dass die Präsentanten in diesem Buch wiederum eine kleine Auswahl all jener ist, die in England Kochgeschichte schreiben. Und die Briten gieren nach Neuem, Exotischem, Ausgefallenem wie auch Einfachem, das in den Töpfen verführerisch köchelt. Vom Hauch dieser Stimmung bekommt man bereits einiges mit, wenn man sich langsam durch das Großbritannien Kochbuch durchblättert.

Aber gehen wir noch einmal zum Inhaltsverzeichnis zurück. Es beginnt mit Frühstück, dem Vorspeisen und Snacks folgen. An dritter Stelle stehen Fische & Meeresfrüchte, die von Geflügel, Fleisch & Wild, dem umfangreichsten Kapitel abgelöst werden. Dann wird mit Pasta, Risotto & Beilagen dem Süden gehuldigt um mit dem beachtlichen Kuchen & Desserts Kapitel abzuschließen. Damit sind satte 400 Seiten gefüllt mit geballter Kochlust. Am Beginn aber steht Joanna Brennan, eine Bäckerin in Orford, das im Südosten Englands liegt. Ihre Devise ist, grundlegende Dinge wirklich gut zu machen und so präsentiert sie Arme Ritter aus Brioche. Da wird ein altes mitteleuropäisches Gericht neu erfunden und mit kanadischem Ahornsirup und französischem Hefegebäck verfeinert. Ein wunderbares Frühstück. Wem das zu opulent ist, Joannas Armen Rittern wird auch Sahne zugefügt, der kann es mit Yotam Ottolenghis Bananenkuchen mit Tahini & Wabenhonig versuchen. Sie runzeln die Stirn? Ich kann es Ihnen nicht verdenken, denn cremigen Tahini auf einen Bananenkuchen zu träufeln, dazu braucht es Mut. Aber vertrauen Sie Ottolenghi, es ist einen Versuch wert und sollte es nicht schmecken, so haben Sie immer noch einen wunderbaren Bananenkuchen ohne Beigeschmack. Auch wenn der Kuchen am Vortag gemacht wird, ist der Zeitaufwand nicht unbeachtlich.

Grundsätzlich sind alle Rezepte nach einem Schema aufgebaut, das die Entscheidung etwas nach zu kochen sehr erleichtert. Mit einem Blick erfasst man wieviel Portionen das ergeben bzw. Personen davon satt werden, was an Vorbereitungs- und Kochzeit zu investieren ist und wie schwierig die Zubereitung ist, nach einer Skala von eins bis drei. Angeführt sind auch von wem das Gericht stammt samt Adresse, die vielfach in einem kurzen Vorspann noch ihre persönlichen Gedanken zum Rezept einfließen lassen. Und, jedes Rezept wird mit einem Seitenfüllenden Foto ergänzt. Also eine runde Sache, klar und übersichtlich.

Schade ist, dass die Kreativen nur in den seltensten Fällen einen Bezug zu Großbritannien herstellen. So schrieb Brennan zu ihren Armen Rittern, dass es sie freut, die Tradition ihrer kanadischen Heimat in Orford unter das Volk zu bringen. Und ich hätte gerne von Antonio Carluccio erfahren, welche Erfahrungen er mit seinem italienischen Essen in Großbritannien machte. Aber Carluccio ist vor kurzem gestorben und wir werden das wohl nie mehr erfahren. Seine frittierten gefüllten Oliven sind jedenfalls ein Hammer. Etwas aufwändig an Zeit sowie Zutaten und im 2. Schwierigkeitsgrad, schmecken diese ummantelten Oliven fabelhaft zu einem Drink. Mit wem wir es in diesem Kochbuch zu tun haben, macht mE eine Bemerkung von Gizzi Erskine deutlich. Die englische Koch- und TV-Persönlichkeit hat jahrelang nach dem Originalrezept von Walnuss-Bagna-Càuda gefahndet. Immer den Geschmack dieser Walnuss-Sauce auf der Zunge wurde sie nach unzähligen Verkostungen fündig und präsentiert in diesem Kochbuch eine Version, die dem Original ziemlich nahe kommt. Das zeugt von Charakterstärke, schon mehr Besessenheit; ein Wesenszug der wohl auf die meisten Protagonisten dieses Kochbuchs zutrifft. Allein deshalb hätte ich mir mehr biographisches zu den Köchinnen und Köchen gewünscht, die lediglich am Ende alphabetisch gelistet werden, mit einem Hinweis auf deren Homepage bzw. Twitter-Accaunt.

Einige der RezeptlieferantInnen werden mit doppelseitem Bild und kurzem Statement aus der Anonymität herausgehoben. Die meisten leben und arbeiten in England; vor allem im Süden und da überwiegend in London. Ihre kulinarischen Vorlieben liegen mehr im fleischlichem, vegetarisches bildet fast die Ausnahme. Im Fokus sind die beliebtesten Fleischsorten Huhn, Lamm, Schwein und Rind, aber auch Wild und Meeresfrüchte. Stark vertreten ist auch die süße Seite; Engländer sind Naschkatzen. Der Sherry-Trifle von Sarah Webb ist so eine süße Versu- chung. Einfach zuzubereiten und kaum auf dem Tisch ist er schon verputzt. Angetan war ich auch von Anna Jones Rhabarber-Apfel-Crumble mit Ahornsirup, eine sommerlich leichte und gesunde Nachspeise, die leicht und schnell zubereitet ist. Jones verwendet Kokosblütenzucker der nicht in jedem Haushalt zur Verfügung steht. Ersatz bietet hier heller Rohrohrzucker. Und weil dieser Crumble so gut schmeckt, stelle ich Ihnen das Rezept in den Rezept-Ordner.

Originär britische Kost ist in diesem Buch dünn gesät. Aber das war offensichtlich auch nicht der Anspruch des Herausgebers. Jamie Oliver kredenzt einen Klassiker in peppiger Aufmachung. In seinem Happy Fisch-Pie lässt er aus dem Auflauf nur mehr die Schwanzflosse herausschauen. Man hat den Eindruck, der Fisch taucht ab in einem Meer aus Kartoffel-Gemüse. Sieht sehr lustig aus und schmeckt ausgezeichnet.

Die Kreationen sind so vielseitig, wie Protagonisten am Werk. Eine Zusammenfassung unmöglich. Die nun aufgezählten Rezepte können nur einen ersten Eindruck von der kulinarischen Bandbrete dieses Kochbuchs vermitteln. In der Zucchinisuppe mit Mangold-Bruschetta werden zwei Gemüsesorten vereint, die sonst eher Einzelgänger sind. Die in Austernsaft eingelegt Makrele verbindet das Meer mit der Landschaft in Form eines Gurkensalats mit Kapern und Dill. Courgetti & Rinder-Ragù lässt Zucchini aber auch Hühnerleber hoch leben. Die pochierten Hähnchen mit Safransauce & Gurken sind nicht nur eine ungewöhnliche Kombination, am Teller angerichtet bilden das Ensemble ein schmackhaftes Kunstwerk. Die gegrillten Lammkoteletts mit „schmutzigen“ Süßkartoffeln entbehren jeden Kommentars. Jägernaturen finden hier ihren Hirschrücken mit Johannisbeer-Reduktion, Sonntagsspaziergänger ihren traditionellen Rippenbraten als ultimatives Sonntagsessen, Indienfans einen über Nacht gebratenen Schweinebauch mit Birnen & Thymian usw.. Dem französischen Koch Marcel Boulestin fiel in den 1930er Jahren auf, dass die Engländer ungern über das Essen sprachen. Weniger als über das Wetter oder die Politik. Heute scheint das nicht mehr zu gelten, wie die vielen Zeitungskollumnen, Radio- und TV-Sendungen sowie Kochbuch-Neuerscheingen in Britannien beweisen. Sitwell und seine Kollegen machen Essen zum Gesprächsstoff Nr. 1.

Das Großbritannien Kochbuch von William Sitwell ist eine Sammlung kulinarischer Highlights. Schön aufgemacht in farbenfrohem Design, liegt hier wieder ein kleines Schmuckstück aus dem Knesebeck Verlag vor. Der Spruch, viele Köche verderben den Brei, trifft hier nicht zu. Im Gegenteil. Hier werden Weltküchen präsentiert, die es in Großbritannien zu verkosten gibt. Koch- und experimentierfreudige nehmen allerdings dieses umfangreiche Kochbuch als Vorwand, um in die Küche zu verschwinden. Frei nach Motto: my kitchen is my castle – very british!

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