Andreas Schinharl, Frank Schoch, Mein Bayern

Neue Wege in der bayerischen Küche

Mit Fotografien von Silvio Kbezevic
Südwest Verlag, München, 2022, 304 Seiten, 46.30 Euro
ISBN 978-3-517-09921-7
Vorgekostet

Heute reisen wir nach MÜNCHEN.

In die Landeshauptstadt des Freistaates Bayern. Das heißt aber nicht, dass dort die Menschen freier sind als in anderen Ländern. Gerhard Polt meint dazu: Der Freistaat Bayern – das ist eine Demokratie. Kein Mensch hier bei uns wird gezwungen, eine Minderheit zu sein. Ein jedweder hat das Recht, sich zur Mehrheit zu bekennen. Und diese Mehrheit definiert sich politisch über die CSU wie auch sozialgesellschaftlich über den Maibaum und den FC Bayern oder gar den Kini, Ludwig II, den liebenswerten Spinner. Na dankeschön, da halt ‚is schu liabr’ mit den Well Buam oder Karl Valentin. Letzterer meinte: Ich bin ja auch kein Mensch, ich bin ein Bayer! Und wer sich auf die Suche nach dem original Bayerischen macht, dem stellen sich gleich mal Fragen. Was ist mit den Wissenschaftlern, Technikern und Unternehmern, von deren Pioniergeist und Tatkraft Bayern bis heute profitiert – Rudolf Diesel, Carl von Linde, die Gebrüder Dassler? Was ist mit den kulinarischen Errungenschaften – das Reinheitsgebot für Bier, Schweinsbraten, Weißwurst, Zwetschgendatschi? Na endlich, auf geht’s, zum Gipfel des Genusses der bayrischen Küche. Die kommt, wie der Bayer an sich, vielleicht a bisserl derb und deftig daher. Wer aber glaubt, sie besteht nur aus Leberkäse und Knödel, der wird von Andreas Schinharl eines Besseren belehrt. Mein Bayern ist sein Kochbuch der neuen Wege in der bayrischen Küche, das im Südwest Verlag herausgekommen ist.

Der gelernte Koch und Metzger feiert den Genuss seiner Landesküche. Für seine Freunde oder die Familie macht er oft ganz einfache Dinge, an dessen Ende immer der Geschmack gewinnt, der alle glücklich macht, liest man in seiner Einstimmung. Auch, dass mit dem Einkauf – dem wichtigsten Teil des Rezeptes – alles anfängt. Deshalb stellt er in seinem Kochbuch auch wichtige Partner, die ihn auf der Wiesn, dem weltweit wohl bekanntesten Aushängeschild Bayerns, mit den besten Produkten beliefern. Schinharl ist dort Küchenchef der Käfer Wiesn-Schänke, ein Bauernhaus, aus dem tagtäglich Essen für über 3000 Gäste gehen. 20 Tonnen Ware werden pro Tag verarbeitet und ratzeputz aufgegessen. Herr Käfer bescheinigt Andreas die Leidenschaft fürs Oktoberfest und staunt über die leichtfüßige Präzision, mit der dort bis zu 15.000 Gerichte täglich über den Küchenpass gehen. Uns interessiert aber vor allem, was Andreas Schinharl unter der neuen bayrischen Küche versteht und warum seine Produzenten mit ihren Produkten so gut sind. In drei thematischen Zugängen pirscht sich der Autor an Bayerns Esskultur an. Den Hauptteil machen die Rezepte aus. Darin eingebettet sind Kurzreportagen über seine Lieferanten samt Produkten wie auch Berichte über den Werdegang des Autors. In Letzterem offenbaren sich die vielen Seiten eines begnadeten Chefkochs. Schinharls Ansichten vom Kochen, vom Würzen bis zur aktuellen Wirtshauskultur wie auch seine Vernetzung in der Gastrowelt werden in diesen kurzen Textpassagen sichtbar. Die Identifikation mit Bayern wird mit dem immer wiederkehrenden Rautenmustermotiv bildhaft angedeutet. Die Rezepte sind 11 Kapiteln zugeordnet. Mit der Brotzeit, so beginnt seit Urzeiten der Tag im Bayernland. Das zweite Kapitel gehört den Suppen & Eintöpfen, das von Feines ohne Fleisch abgelöst wird. Dann kommen einige Fischgerichte zum Zuge. Aber nicht lange, denn die Fleischgerichte scharren mit den Hufen und so bekommen Kalb & Rind, Schwein, Geflügel, Ziege & Lamm sowie Wild, jede Spezies praktisch ihr eigenes Kapitel. Süßes & Nachspeisen läuten dann das Ende ein, das ultimativ mit einigen interessanten Grundrezepten wirklich beendet wird. Neben Soßen sind das Suppen & Brühen, Limonaden, Marmeladen und sehr viel Eingemachtes, von der Salzzitrone bis zu den karamellisierten Walnüssen.

Aber beginnen wir mit der Brotzeit, die man – nicht nur in Bayern – am liebsten unter freiem Himmel isst. Bayerns Biergarten sind berühmt für diese einfachen Mahlzeiten, vom Essiggemüsesalat bis zum Goaßbratl. Der Schwarzwurstsalat mit Rotwein-Senf-Dressing ist etwas für Blutwurstliebhaber, denn die Schwarzwurst ist nichts anderes als eine zum Ring gebundene Blutwurst. Das gebackene Bio-Wachsei mit Breznsalat, Gelbwurst und Bärlauchpesto demonstriert auch die neue bayrische Vorliebe, Brezn in jeglicher Form ins Essen miteinzubeziehen, selbst in Knödeln. Die Laugenbrezn ist ja auch eine urbayrische Erfindung und nicht mehr wegzudenken.

Im Suppen-Abschnitt fällt mir die Millirahmsuppe mit Kartoffelnockerln und Reherln auf. Da geht es nicht um Millimeter, sondern um den Milchrahm und die Reherln sind die Pfifferlinge die der Suppe das waldig Erdige verleihen. Der Rana-Eintopf mit Weißwürsten ist nicht nur optisch eine Wucht. Wer den Rote-Bete-Eintopf fleischfrei halten will, kann als Einlage Saiblingsnockerl oder Kartoffelnockerln wählen. Alles ist möglich.

Vegetarisch geht es weiter mit der Spargel-Tomaten-Sülze, die mit einer Vinaigrette aus Eiern und Radieschen sowie Brezn-Croutons verfeinert wird. Ein Gericht, für das schon etwas mehr Zeit einkalkuliert werden muss.

Mittlerweile Klassiker sind die Kaspressknödel, hier allerdings mit Brennnesseln zubereitet wie auch die Kässpätzle 2.0, die vom Babyspinat einen hellen Grünton erhalten. 

In einem eingestreuten Gespräch über Kochen, Können und die Zeit bekennt Schinharl: Je älter ich werde, desto einfacher koche ich. Und, dass es Regeln gibt, an die er sich hält. Massentierhaltung kommt nicht in Frage, das Gemüse muss noch Biss haben und dann die Zeit, sie ist seine wirkungsvollste Zutat. Denn die Zeit erst erzählt die Geschichte. Schmeckt es, ist es gelungen?

Der frittierte Wildfangfisch ist vielleicht das kürzeste Rezept in diesem Kochbuch. Weißfische, je nach Tagesfang, ausnehmen, entschuppen, einschneiden, salzen und pfeffern, leicht mehlieren, in Pflanzenöl ausbacken und mit Zitronensaft beträufeln – fertig; pur genießen. Die Fischgerichte in diesem Kochbuch sind bunte Erscheinungen, die wenig Überlebenschancen haben, so gut schmecken sie. 

Das gilt eigentlich für alle Rezepturen aus diesem Buch. Selbst für die Innereien aus der Fleischtheke. Die Kronfleischküche ist dem Metzger Schinharl ein Anliegen, da sie in Bayern immer noch ein Nischendasein fristet. Bei uns in Tirol wohl auch. So werden hier Liebhaber von  Kalbsherz, -beuschel, -bries, Schweineleber etc. fündig und bedient. Auch eine Fledermaus, die aus der Wiener Küche bekannt ist, wird hier gesotten mit Orangen-Meerrettich-Kompott und frittiertem Rosenkohl samt Suppengrün angeboten. Mit Fledermaus ist allerdings nicht das kleine nachtaktive Flattertier gemeint,  sondern ein mit Fett durchzogenes Fleischstück vom oberen Teil der Rinderkeule, auch Schalblattel genannt. Damit erschöpfen sich nicht die kulinarischen Besonderheiten. Wie wär’s mit Schweinsohren? Die gekochten Ohren vom Spanferkel, die mit Chili-Kerbel-Gemüse-Salsa und Fladenbrot serviert werden, sind mehr Salat als Fleischgericht. Den Labskaus auf bayerisch finde ich spannend: Dem traditionellen Kartoffelgericht aus den nördlichen Regionen verpasst Schinharl einen Schweinehals, auf dem er gepökelte Aalfilets und pochierte Eier aufsetzt und dem Gericht so seine bajuwarische Note verleiht. Mit einem herben Pils – ein wahrer Genuss, nicht nur für ‚derbe Männer‘.

Der Ausflug in die Welt der Geflügel beschert uns ein weiteres delikates Gericht abseits klischeehafter Vorstellungen. Mit Truthahn verbinden viele ein völlig überzüchtetes Tier, das sich kaum auf den Beinen halten kann. Die gefüllte Biopute von Andreas beweist, dass Pute nicht gleich Pute ist. Er schwärmt von der mit rund 3,5 kg eher klein geratenen Biopute vom Wallner-Bauern, die so viel besser schmeckt. Kräftiger als ein Henderl und würziger als die Gans, sind doch gute Argumente.  Die Küken werden von der Familie liebevoll mit der Hand gefüttert und dürfen nach den ersten Wochen in die große Freiheit im Offenstall mit Sand- und Ruheplätzen im Schatten der Bäume. Man glaubt ihnen, dass das Tierwohl über allem steht. 

In der Abteilung Süßes & Nachspeisen entscheide ich mich spontan für die Topfenknödel mit Butterbrösel und Mohn. Aber auch die Serviettenknödel vom Kaiserschmarrn mit Zwetschgensoße gefallen und so fällt die Entscheidung schwer. Und dann gibt’s noch die Buchtln und die Kiachln … himmelherrgott – sakrament – du pfannakuacha, du windiga!

Was soll’s? Mache ich mir doch gleich eine Quittenlimonade, die muss abkühlen über Nacht, mein Kopf auch. Derweil gehe ich die Kürbismarmelade mit Äpfel an, die ist mir beim Durchblättern aufgefallen. Beide Anleitungen finden Sie bei den Grundrezepten. Sie bestechen in ihrer Einfachheit wie auch ihrem kulinarischen Erlebnis. Zwei Rezepte, die wohl öfter von mir noch angewandt werden.

Mein Bayern von Andreas Schinharl huldigt der bürgerlichen, feinen neuen bayerischen Genussküche, die gelegentlich auch aus anderer Länder Küchen das eine oder andere aufnimmt. Ob Schinharls Rezepte zu beliebten Leibgerichten werden, steht in den Sternen. Das Zeug dazu, hätten sie. Gewünscht hätte ich mir mehr Kommentare zu den Rezepten, die zum Teil in den eingestreuten Texten über die Produzenten und ihre Produkte durchschimmern. Darin finden sich auch beachtenswerte Gedanken und Lebensweisheiten des Gastrosophen Schinharl. Die hervorragenden Fotografien verleihen wie auch das Design dem Kochbuch der neuen bayrischen Küche eine gewisse Leichtigkeit. Die bayrische Küche – ob alt sei dahin gestellt – neu definieren kann kein Mensch, nur ein Bayer, und das ist Andreas Schinharl. Karl Valentin würde das so sehen. Vom Brezerl bis zum Wammerl, dem Schweinebauch, sind es 60 Rezepte, die uns einladen den Nachbarn kulinarisch besser kennen zu lernen. Pfiffig und äußerst bekömmlich serviert sich dieser mit Breznknödel, Saiblingsnockerln, Spargelpommes, Stör-Speck-Rouladen, Restebrot vom Goaßbratl, Bauerngockel in der Schweinsblase und vieles mehr. Also: Bayern ist allemal eine kulinarische Entdeckungsreise wert.