Heute reisen wir ans MITTELMEER.
In Begleitung von Claudia Roden begeben wir uns auf eine kulinarische Expedition durch 23 Länder, deren Strände das mare mediterrane berühren. Roden ist Foodautorin und Expertin in punkto jüdische Küche. Die im Kairo der Vorkriegszeit Geborene lebte mit ihren Eltern und Brüdern auf einer Insel im Nil. Ihre Vorfahren stammten aus Spanien und Aleppo, gesprochen wurde zuhause französisch. Für das Essen war der Koch Awad zuständig, der die Rezepte von Nelly, Claudias Mutter, lernte. Gerichte, die in der Familie weitergegeben wurden: Filoteig Zigarren, kibbeh, Taboulé, baba ghanouj, konafa, Milchspeisen, Mandelgebäck – und französisches Essen. Ins Gymnasium ging Claudia in Paris. Später zog sie nach London, um Kunst zu studieren. Noch als Schülerin begann sie, Rezepte zu sammeln. 1956 zogen – wegen der Suezkrise – ihre Eltern nach London, wie viele andere vertriebene Juden. Und in der Diaspora wurden Rezepte ausgetauscht, weil viele dachten, dass sie sich nie mehr wiedersehen würden. Rezepte als Erinnerung und Vermächtnis ägyptisch-jüdischen, osmanischen und vor allem mediterranen Essens. Als Claudia heiratete und Kinder bekam, hat sie immer wieder versucht, die Rezepte nachzukochen, weil die Anweisungen nicht präzise waren. „Du weißt, dass genug Mehl im Teig ist, wenn er sich wie dein Ohrläppchen anfühlt“, „am Geruch erkennst du, dass es fertig ist“…
Vor 35 Jahren verließ ihr letztes Kind das Haus, und Claudia Roden entschied, ebenfalls aufzubrechen. Sie reiste ans Mittelmeer – allein. An die Stätten ihrer Kindheit, nach Alexandria, besuchte dort die Cafés der Strandpromenade, auch in Marseille, Barcelona, Genua, Athen, Algier, Beirut und Tanger. Orte mit einer eigenen Kultur, so kraftvoll, dass das ganze Land davon beeinflusst war, als sei das Meer das Zentrum der Anziehungskraft, schreibt sie in der Einleitung zur Mittelmeerküche, das im Dorling Kindersley Verlag erschienen ist.
Diese ausführliche Vita zu Claudia Roden ist wichtig, denn nur so versteht man ihr kolossales Interesse am Essen, speziell jüdischen und mediterranen. Das Allein-Reisen erlaubte ihr, Kontakte zu knüpfen, um Hilfe zu bitten und Restaurantküchen zu besuchen. „Ich bin eine englische Foodautorin, die über Ihre Küche schreiben möchte. Könnten Sie mir Ihre Lieblingsgerichte nennen?“ war der Schlüsselsatz, der die Türen zur Restaurantküche öffnete und zu den Herzen der Köche und Köchinnen. Die Mittelmeerregion im Fokus ihrer Recherche ist Zeugnis glücklicher Begegnungen, magischer Momente und wunderbaren Essens. Der Geruch von brutzelndem Knoblauch mit Koriander bringt Ägypten zurück, das Aroma von Safran und Orangenschale, vermischt mit Anis und Knoblauch, löst Erinnerungen an die französische Riviera in ihr aus. Gerichte mit diesen Aromen kocht sie heute noch für Familie und Freunde. Und wir, wir können mit dem Buch zur Mittelmeerküche das auch.
In sechs Kapiteln nähert sich Claudia Roden den Regionen mediterraner Küchen an. Zeigt, wie vielfältig die Esskulturen an den Gestaden dieses Meeres sind. Die Einteilung ist klassisch gegliedert nach Vorspeisen, dann Suppen sowie Salate und kalte Gemüsegerichte. Im vierten Abschnitt werden Gemüsebeilagen und große Platten aufgetischt. Dabei ist nicht ganz klar, was unter große Platten zu verstehen ist. Vielleicht die Platte oder Schüssel in der Mitte des Tisches; viele dieser Gemüsegerichte sind für 4 bis 6 Personen ausgelegt. Ein eigenes Kapitel wird dem Getreide zugeordnet, weil in den christlichen Ländern an Feiertagen und in der Fastenzeit der Fleischkonsum verboten war bzw. ist. Gemüsecouscous, cremige Polenta mit Pilzen, Spinat mit Rosinen, Pinienkernen und Crème fraiche sind sättigende Getreide- und Gemüsegerichte, die sich auch als Hauptspeisen bewähren. Sie und viele andere Gerichte entstammen dem alten Landleben und einer alten traditionellen Lebensweise. Deshalb haben sie einen starken nostalgischen Reiz, merkt Roden an.
Breiten Raum nehmen natürlich Fische und Meeresfrüchte ein; ihnen gebührt das größte Kapitel. Wurden früher die Fischsuppen aus den Resten des Tagesfanges zubereitet, haben sie sich mit der Entwicklung des Tourismus von „arm“ zu „nobel“ gemausert. Die Fischer des Mittelmeers sind viel herumgezogen, haben sich an verschiedenen Orten der Küste niedergelassen und ihre Essgewohnheiten eingebracht. Dennoch ist es erstaunlich, wie unterschiedlich sich die Esskulturen entwickelt haben. In der Provence ist der Aioli der Star, eine Knoblauchmayonnaise, die zu vielen Gerichten gereicht wird. Ein Gericht für Verliebte soll Fischtatar mit Tomaten-Vinaigrette sein, das belegen jedenfalls arabische Kulinarik-Überlieferungen. Für das Tatar verwendet Roden rohen Lachs, einen Fisch der im Atlantik zuhause ist. Immerhin wird er mit einer katalanischen vinagreta de tomàquet angerichtet, dafür wird die Tomate gehobelt.
Entlang der Mittelmeerküste sind die Städte wie Perlen aufgefädelt. Die geschäftigen Hafenstädte und Fischerdörfer mit ihren Marinas und Fischauktionen, Plätzen, Märkten und Cafés sowie das Gemisch von Menschen und Kulturen sind ein lebendiger Beweis für die Einheit und Vielfalt des mediterranen Universums. Und man wundert sich nicht, dass in Sizilien im Thunfischfang arabische Wörter verwendet, in Sardinien katalanische Speisen serviert werden und man in Gibraltar auf Fischgerichte mit genuesisch klingenden Namen trifft. Im Kabeljau-Kartoffel-Püree mit Knoblauch sind Frankreich, Italien, Spanien und Portugal vereint. Mit dem Bratfisch mit Kreuzkümmel und Tahinsauce fühlt man sich in ein Restaurant nach Tripolis im Libanon versetzt. Auf dem Teller ein weißes Fischfilet in verblüffend aromatischen Sesammus.
Es fällt zunächst gar nicht auf, aber Claudia Roden legt mit ihren Rezepten ein Puzzle. Mit jedem Rezept vervollständigt sie mehr und mehr ein Mosaikbild mediterraner Esskulturen. Nach und nach entsteht so ein Genussbild aus immer neuen Blickwinkeln. Begonnen damit hat die Kartographin des mediterranen Essens vor Jahrzehnten. Die Mittelmeerküche ist quasi die Quintessenz ihrer kulinarischen Neugier. Festgehalten in Bildern hat dies Susan Bell – eine äußerst sensible Fotografin mit ethnografischem Blick. Das Fleisch und Geflügel-Kapitel einleitende Bild zeigt eine Schafherde vor dem Hintergrund einer Meeresküste, die von einem einfachen Hirten begleitet wird. So stelle ich mir Priapos vor, den griechischen Gott und Beschützer von Schafen und Ziegen. Sein Schutz zeigt Wirkung, denn es gibt in diesem Kochbuch nur ein Rezept mit zarten, kleinen Lammkoteletts, wie sie in Istanbuls Kebabhäusern serviert werden. Dagegen präsentiert Claudia einige Zubereitungsvariationen von Huhn. Gerichte, die auch an Essensständen des Maghreb angeboten werden. Etwa das Ofenhähnchen mit Oliven und Zitronen in Marokkos Städten. In Jerusalem stößt man auf Chicken-Wraps mit palästinensischen Mushakan-Aromen und in Ägypten essen sie Hähnchen mit Freekeh. Freekeh ist unreifer, grüner Hartweizen, der hier mit Zimt, Piment, Kardamom und Rosinen verfeinert, zu einer unheimlich köstlichen Beilage verschmilzt.
Das letzte Kapitel ist den Desserts und dem Gebäck gewidmet. Traditionell wird im Mittelmeerraum eine Mahlzeit mit frischem Obst beendet. Wir wissen aber auch, dass die arabisch-mediterrane eine zuckersüße Welt mit in Sirup getränkten Filo- und kadaifi-Teiglingen, kandierten Früchten und Marzipan-Süßigkeiten ist. Roden aber zeigt uns noch eine weitere Seite, die der mehlfreien Kuchen mit Nüssen und Mandeln, die von den sephardischen Juden zum Pessachfest gebacken werden. Mein Favorit ist der Walnusskuchen, der so köstlich wie einfach ist und einen ganzen Chor begeisterte. Leicht und fein durchzieht diesen Nusskuchen ein Hauch von Orangenaroma, allein das macht ihn schon zu einem besonderen Verführer.
Claudia Roden hat mit Mittelmeerküche ein Kochbuch der Sonderklasse geschaffen. Sie vereint darin die Kochstile vieler Länder, zeigt die Ähnlichkeiten und Unterschiede auf, ohne zu werten. Allein die Vorstellung, aus diesem kulinarischen Schmelztiegel mit tausenden Rezepten einige Dutzend davon auszuwählen und in einem Kochbuch zu vereinen, treibt mir Schweißperlen auf die Stirn. Die mittlerweile 85-jährige Foodautorin schafft das mit Bravour. Claudia Rodens Lebensweg ist bestimmt vom Kochen. Ihrer Einstellung, „Kochen und Menschen in meine Küche einladen, um mit ihnen zu essen und mich mit ihnen auszutauschen,“ wünscht man viele Nachahmer. Die schönen Fotos von Susan Bell belegen Claudia Rodens Haltung. In Bildausschnitten von geselligem Beisammensein, traumhaften Küstenlandschaften und verträumten Stillleben. Da werden Sehnsüchte geweckt und Glücksvorstellungen, welchen wir Taten in der Küche folgen lassen dürfen. Wie wär’s mit Focaccia, Wein und Oliven, dem römischen Dreiklang und Inbegriff des dolce vita. Roden führt uns wie eine Anthropologin in fremde Welten, zelebriert das Authentische. Mehr noch: sie vermittelt uns eine mediterrane Küche, die so vielseitig wie einfach ist. Gleichzeitig erfahren wir von einer Aromenwelt, die geprägt ist von exotischen Gewürzen, Früchten, Blütenwasser, Ölen und von auserlesenen Käsesorten, die uns die ganze Bandbreite des Südens präsentieren. In diesem Werk spiegelt sich langjährige Erfahrung und der Beweis, dass Kochen die Landschaft in einem Topf ist, wie der katalanische Journalist Josep Pla es ausdrückte. Claudia Roden ist die personifizierte Mittelmeerküche und ich würde gerne einmal ihre Gastfreundschaft genießen und den Geschichten ihrer Odyssee lauschen.
Das letzte Wort aber hat Claudia Roden: Als ich einen italienischen Koch fragte, was das Essen des Südens ausmacht, sagte er: „Fantasia.“ Er meinte damit den ganz persönlichen Touch, der den mediterranen Geschmack ausmacht. Dies kann allein die Zugabe von einem einzigen Kraut oder eines Tropfens Olivenöl zu einer scharfen, würzigen Chilisauce sein. Das ist auch Mittelmeerküche.