Alexander Oetker, CHEZ LUC

Mit Commisaire Verlain durch Frankreichs kulinarischen Südwesten. Das Aquitaine-Kochbuch

Fotos von Markus Bassler, Zuzu Birkhof, Anja Jahn
Illustrationen von Oliver Hick-Schulz
Übersetzung der Rezepte von Julika Herzog und Alexander Oetker
Hoffmann und Campe, Hamburg, 2022, 384 Seiten mit Lesebändchen, 38.-- Euro
ISBN 978-3-455-01435-8
Vorgekostet

Heute reisen wir nach AQUITANIEN.

In eine Region Frankreichs, die im Süden von den Pyrenäen und im Westen vom Atlantik in seiner Ausdehnung begrenzt wird. Manchen mag der Begriff Gascogne noch dazu einfallen, in Verbindung mit Charles d’Artagnan de Batz-Castelmore, dem berühmten Helden aus dem Abenteuerroman ‚Die drei Musketiere‘ von Alexandre Dumas. D’Artagnan stammt aus dem Süden Aquitaniens, aber um ihn geht es hier nicht. Ein anderer Held steht heute im Mittelpunkt. Luc Verlain, Commisaire de Police in Bordeaux. Er ist gerade auf dem Weg zu einer Besprechung, da kommt ein Anruf von seinem Papa Alain. In seinem Vaterhaus wurde eingebrochen und das Buch mit den Rezepten gestohlen. Pack deinen kleinen Koffer, antwortete Luc. Wir machen eine Reise. Ich habe eine Woche Zeit. … Wir suchen sie. Das ist der Auftakt zu einer Road Novel der besonderen Art. Die Aufzeichnungen dieser Reise durch Frankreichs kulinarischen Südwesten sind als CHEZ LUC bei Hoffmann und Campe erschienen.

Ausgangspunkt ist Bordeaux. Alexander Oetker, seines Zeichens Journalist, Krimischreiber und Erfinder des Commisaire Luc, begibt sich also von der an der Garonne gelegenen Hafenstadt aus auf die Suche nach dem verschwundenen Rezeptheft. Eigentlich beginnt es im Dorf Carcans-Plage, einem verschlafenen Badeort, in dem der Austernzüchter Alain wohnt. Von dort geht es schnurstracks nach Osten – in die heimliche Hauptstadt Frankreichs, nach Bordeaux, der Welthauptstadt der Genüsse. Hier beginnt die Rekonstruktion des Rezeptbuches. Was so harmlos beginnt, entpuppt sich alsbald als abenteuerliche Fahrt inklusive Restaurantbesuche. Und so lernen wir fast nebenbei einige Repräsentanten des kulinarischen Aquitaniens kennen, Köchinnen und Köche von Weltruf. Sie steuern Rezepturen bei, die die regionale Vielfalt widerspiegeln. Wundern wir uns, dass der Atlantik ein Hauptlieferant für die lokale Gastronomie ist? Nein, Fische und Meeresfrüchte wandern fangfrisch in die Küchen. Im BIG, dem Bistro Girondin in Bordeaux bereiten Laura Mauguin und William Marais den Tintenfisch mit Petersilie und Knoblauch (Chipirons en Persillade) auf einer Eisenplatte, nach baskischer Art, zu. À la plancha nennt sich das, und wer diese Grillplatte nicht zur Verfügung hat, kann getrost eine Pfanne verwenden. Dabei wird der Tintenfisch ohne Fett für einige Sekunden bei starker Hitze rundum angebraten und bekommt so feine Röstnoten. Ein einfaches Rezept das mit reichlich baskischem Chili gewürzt wird. Der Seehecht mit Zitrusfrüchten (Merlu à la Plancha, Agrumes et Coques) wird dagegen mit feinen Muscheln garniert. Merlu nennen die Basken den Seehecht, der traditionell weit draußen im Atlantik mit langen Leinen gefischt wird. Im BIG wird auch Croque Monsieur auf baskische Art (Le Croque Basque) serviert. Proust-Leser wissen wovon hier die Rede ist. Croque ist die französische Version des Schinken-Käse-Sandwich. Mit dem Schinken vom Ibaiama-Schwein und dem Brebis de Montagne, einem Bergkäse vom Schaf. Ganz simpel und einfach formidable, behauptet Luc, nein Alexander.

Aber weiter mit unserer Geschichte: Luc und Alain klappern nun eine gastronomische Station nach der anderen ab, sammeln so jene Rezepte, ein wie sie im gestohlenen Kochbuch notiert waren. Zunächst bleiben sie in Bordeaux um zu erfahren, wie die Cannelés gemacht werden. Diese Minigugelhupfe, die die Nonnen vom Kloster Annonciades vor 200 Jahren erfanden, sind eigentlich ein Produkt des Überflusses. Weil die Winzer ihren Rotwein von den Trübstoffen mit Eiweiß befreiten, war Eigelb im Übermaß vorhanden. Die Klosterschwestern buken damit Cannelés und schenkten sie den armen Kindern. Heute hat der Meister der Miniküchlein einen Namen: Damien Degraves. Sein Rezept enthält Rum, der durch Kakao ersetzt werden kann, wenn Sie Cannelés für einen Kindergeburtstag backen. Sie sind ein Hit bei Jung und Alt.

Im Zentrum von Bordeaux kann man sonntags oft ein seltsames Schauspiel beobachten. Da stehen hunderte Menschen geduldig in Reih und Glied, überwiegend Bordelais im besten Sonntagsstaat, und warten. Worauf eigentlich? Auf nichts weniger als das wohl beste Steak der Welt, heißt es da. Das beigestellt Rezept ist eine Annäherung. Wer Steak Frites a L’Entrecôte nach Luc Verlan zubereitet, bekommt zumindest eine Vorahnung, wie es im Haus Allées de Tourny schmeckt. Überprüfen muss es jeder und jede selbst.

Langsam füllt sich das Kochbuch mit Rezepten. Ergänzt um Fotos, die Menschen und Landschaft in friedlichem Nebeneinander zeigen. Mit auf den Bildern, immer wieder, der Jaguar, mit dem Sohn und Vater durch Aquitanien reisen. Für die stimmungsvollen Bilder sorgen die Fotografen Markus Bassler, Zuzu Birkhof und Anja Jahn. Sie präsentieren zudem Portraits und Foodfotos in Formvollendung. Dazwischen eingestreut sind kurze Textauszüge, die auf Luc Verlains kriminalistische Arbeit hinweisen. Fälle, die wohl auch mit jenen Orten zusammenhängen, die der Commisaire nun kulinarisch erkundet. Mit der Rasiermessermuschel gab es wohl kein Verbrechen. Sie werden von Jean-Michel Cazes im Café Lavinal in Bages mit Petersilienbutter (Selle d’Agneau au Sauce Bordelaise) serviert. Am Strand vom Bassin d’Arcachon werden die Muscheln mit dem scharfen Rand bei Ebbe eimerweise von Spaziergängern ausgegraben und heim getragen. Hier in den Tiroler Bergen gibt es sie nicht so billig. Übers Internet können 10 Stück für rund 14.- Euro erworben werden oder man weicht auf die billigeren Schwertmuscheln aus.

Wir kommen dem Meer nicht aus. Auch wenn der Spinatrisotto mit Kalmar (Risotto aux Calamares) sich leicht und verführerisch präsentiert, der Atlantik ist omnipräsent. Noch mehr Beweise? Also dann: Tintenfisch mit Sauce Tartare (Friture à La Sauce Tartare), Überbackene Austern (Huître Gratinées). Selbst die Karamellisierten Tomaten können nicht ohne Thunfisch und Kaviar (Thon, Tomates et Caviar). Und das ist gut so. Die Meeresküche gehört zu Aquitanien wie die Sanddünen zur Küstenlandschaft.

Auf Médoc, einer Halbinsel zwischen Gironde und Atlantik werden Merlot-Trauben angebaut, von Stefan Paeffgen, einem aus Düsseldorf Hinzugezogenen, zu wunderbar, vollmundigen Weinen gekeltert, was selbst die Franzosen staunen lässt. Unweit von seinem Weingut liegt an der Nordspitze des Médoc der Ort Soulac-sur-mer. Den breiten Sandstrand flankieren Villen im Bäderstil, mit spitzen Dächern und schmalen Balkonen. Kupferne Kammmuscheln, als Zeichen des Jakobsweges, zieren etliche Hausfassaden. Und vor dem Restaurant L’Instant M stehen im Sommer die Gäste Schlange für Michael Motyls Spezialitäten. Nein, wir nicht, denn wir haben ja drei  Rezepte von ihm. Auf einem rechteckigen Teller sind Jakobsmuscheln und Kalbsbries (Saint-Jaques et Ris de Veau) angerichtet, ein Gericht, das einem Gemälde gleichkommt. Fast noch schöner ist Michaels Vergleich, dass an heißen Tagen der Salat mit Ziegenkäse und Thymianplättchen (Salade au Chèvre Frais), den Geruch der Sommerdünen widerspiegelt. Wer eine leichtere Variante bevorzugt, verwende Frischkäse aus Ziegenmilch.

Das waren bis jetzt erst einige wenige Stationen einer Reise in einem Jaguar, die von Bordeaux die Atlantikküste entlang zunächst in den Süden bis zu den Pyrenäen führt, um dann nach Paris durchzustarten, wo die Fahrt endet. 7.700 Kilometer mehr registriert der Tachozähler. Halt gemacht wurde in vielen Cafés, Clubs und Hotels von Namen und mit interessanten Speisekarten. Einen kleinen Einblick bekommen wir mit den beigestellten Rezepten. Die enthalten die ganze Bandbreite, von einfachen bis wenigen komplexen und nicht ganz leichten Nachbauten. Alle Gerichte zeigen sich von ihrer schönsten Seite und manche werden in echt, d. h., auf dem Foto sogar aufwändiger vorgestellt, und im Rezept für die geneigten Köchinnen und Köche aber vereinfacht. So werden für die Itxassou-Kirschen mit Ziegenkäsemousse (Cerises d’Itxassou et Griotte Chèvre) die Kirschen im Sud geliert, in Halbkugelformen gefüllt und, sobald sie fest sind, zuerst in Schoko- und dann in eine rote Zuckerglasur getunkt. Das setzt Können voraus und das entsprechende Backequipment. Generell sind die Rezepturen problemlos nachzubauen, manche sogar etwas vereinfacht, so mein Eindruck. Bspw. wird für Tintenfisch mit Petersilie und Knoblauch (Chipirons en Persillade) vorgeschlagen, das Gericht reichlich mit Pimente d’Espelette zu würzen; ich gebe nur eine Schote davon dazu plus 1 Bouquet garni. Das genügt und gibt eine feines Aroma ab.

Insgesamt vermittelt Alexander Oetker einen sehr guten, breit gestreuten Einblick in die kulinarischen Regionen Aquitaniens. Sogar Randphänomene werden berücksichtigt. In Biarritz vermählen sich Ibaiama-Schwein und galizischer Oktopus (Pointrine de Porc Ibaiama, Confite et Poulpe de Galice) oder, nationalstaatlich betrachtet, Spanien mit Frankreich. Andrée Rosier aus Biarritz kreierte dieses Gericht wie auch das Filet von der Kriaxera-Ente mit Kartoffelzylindern (Magret de Canard Kriaxera). Ihre Menüs sind Kunstwerke, Ausdruck transformierter Natur. Darüber hinaus ist Andrée eine MOV, eine Meuilleur Ouvrier de France, ausgezeichnet als beste Köchin des Landes und trägt eine Kochjacke mit einem Kragen in den Farben der Tricolore, wie auch Bocuse sie getragen hat.

CHEZ LUC – Das Aquitaine-Kochbuch ist ein wuchtiger Rezept- und Bildband mit fast 400 Seiten. Großformatige Aufnahmen von Land und Leuten, den nicht so alltäglichen Rezepturen inklusive Foodfotos, sowie verschiedenste Textpassagen, von Krimiausschnitten bis zu den feinen kleinen Portraits gastronomischer Persönlichkeiten – all das macht dieses Buch zu einer Art Reiseführer der besonderen Art. Selbst Auto-, d. h., Jaguarfans kommen auf ihre Kosten. Das Layout ist großzügig. Die Vorspanne der Rezepte sind meist kleine Milieustudien mit kulinarischen Extras. Für die französischen Rezepttitel gibt es leider keinen Register. Stattdessen sind die Rezepte nach Restaurants und Orten und Zutaten indexiert. Gerne lässt man sich von Commissaire Verlain zu diesem Roadtrip verführen und manchmal muss man beim Durchblättern innehalten, um sich das eine oder andere Rezept zu notieren. Oder aufstehen, in die Küche gehen und nachkochen und genießen.