Alexandra Maria Rath, Wildes Wien

Gegessen wird, was in der Stadt wächst

Fotos von Ingo Eisenhut, Stefan Mayer (Food-Fotografie) und David Maninger (Outdoor-Fotografie)
Illustrationen von Alfons Theininger
Gmeiner Verlag, Meßkirch, 2021, 240 Seiten, 28.00 Euro
ISBN 978-3-8392-2657-5
Vorgekostet

Heute besuchen wir WIEN.

Viele Jahre war sie nicht die Stadt meiner Träume. Zu grau, zu neblig, zu schiach waren die prägenden Eindrücke aus Jugendtagen, die sich lange Zeit hartnäckig hielten. In den letzten Jahren veränderte sich mein Wienbild, fuhr ich immer öfter in die Hauptstadt, Freunde besuchen, wegen der Kultur und auch wegen der Naturerlebnisse. Radelnd und wandernd eroberte ich mir stückweise ein neues, anderes Wien. Vielleicht erging es Alexandra Maria Rath ähnlich. Die Werbefachfrau änderte 2011 den Kurs ihrer Lebensplanung und absolvierte eine Ausbildung zur Ernährungstrainerin und zum Wildkräuter-Coach. Seither intensivierten sich ihre Kochambitionen, erkundet sie leidenschaftlich die Natur und die Geschichte Wiens. Passionen, die uns zugute kommen. Ihre Suche nach Essens- und Sehenswürdigem fasste sie in dem Stadt-Kochbuch Wildes Wien zusammen. Ein bemerkenswertes Unternehmen, da Rath die Stadt-Tour mit Botanik und Kulinarik verbindet.

In 20 Kapiteln stellt die Autorin Wildpflanzen in ihren Lebensräumen vor. Also botanische Fundstellen im Umfeld prägnanter Örtlichkeiten. Man könnte von einer Lebensgemeinschaft zwischen Pflanze und Objekt sprechen. Bspw. die Schlüsselblume und das Naturhistorische Museum, das Veilchen und die Hermesvilla, der Bärlauch und die Jubiläumswarte. Rath vereint sehr anschaulich Pflanzen- und Stadtführer in einem Buch, wobei als besondere Draufgabe noch Rezepte eingestreut sind, die das Ganze zu einem Genussführer machen. Ein tolles Konzept, das uns Wien aus einer neuen Perspektive erleben lässt. Ähnliches gibt es bereits. Ich erinnere an die Essbare Stadt von Maurice Maggi, der so das essbare Zürich vorstellt. Rath fasst ihre essbare Stadt weiter: In Wildes Wien wird Botanisches im Kontext von Bauwerken und Örtlichkeiten vorgestellt, was im Kulinarischen kulminiert. Eine Dreiteilung, wobei die Pflanze den Ausgangspunkt darstellt. Das ist auch grafisch illustriert. Auf einer Wienkarte sind die Pflanzenfundorte bezirksmäßig eingezeichnet. Also, Schlüsselblume in der Inneren Stadt, dem 1. Bezirk. Veilchen im 13., in Hietzing. Bärlauch im 16., in Ottakring … Das ist natürlich exemplarisch zu verstehen, man findet die Pflanzen nahezu überall in der Stadt.

Einleitend erklärt Rath quasi im Sauseschritt Wien – die Metropole, das Zuhause. Eine Stadt, die unzählige Male zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wurde, die fast 50 % Grünflächen besitzt, in der es 630 Bauern und 22 Märkte gibt. Weiters erfährt man, sehr gekürzt, Grundsätzliches über essbare Wildpflanzen, wo, wann und wie sie gesammelt werden und wo das verboten ist. Und in drei superkurzen Lektionen gibt sie Ezzes hinsichtlich Gaumenschulung, Werkzeug und des Arbeitsplatzes Küche. Aber das wichtigste ist Raths Ansatz, ihr Plädoyer für die Wiener Festtagsküche. Gemeint ist die Rückkehr zum Sonntagsbraten, was sie so erklärt: Fünf Tage ernähren wir uns pflanzlich, Samstag und Sonntag mutieren wir zum Allesfresser. Im Klartext heißt das: Natur genießen, raus gehen, selbst kochen. Und schon stürzen wir uns auf die Primel, eine der ersten Pflanzen im jungen Jahr. Warum hier von Primel und nicht von der geläufigeren Gattungsbezeichnung Schlüsselblume die Rede ist, weiß ich nicht. Es handelt sich um die kurzstielige Primula vulgaris und nicht die echte Schlüsselblume Primula veris. Letztere wird eher medizinisch eingesetzt für Aufgüsse und Bonbons, während von der Primula vulgaris Bätter und Blüten essbar sind. Primula leitet sich von der Erste ab und Primus war auch Kaiser Franz Joseph I., der die Stadtmauern einreißen ließ, die Ringstraße wie auch das Naturhistorische Museum offiziell eröffnete. Rath verknüpft sehr anschaulich Bauten und Pflanzen. Kurzweilig beschreibt sie historische Begebenheiten, werden mitunter witzige Details und Zusammenhänge sichtbar gemacht. So ist im Naturhistorischen Museum der Mitarbeiter des Jahres kleiner als ein Zentimeter. Der Speckkäfer, von dem hunderte in der Tierpräparation eingesetzt werden, um die Tierskelette von Weichteilen zu reinigen. Ein lustig gezeichnetes Exemplar unter einem Vergrößerungsglas verleitet zum Schmunzeln. Überhaupt erhellen die unzähligen Illustrationen manches beschriebene Detail. Und dann werden noch Schriftsteller wie Johann Wolfgang von Goethe u.a. bedient, die mit ihren Zeilen manchem Motiv noch einen besonderen Kick verleihen. So lautet eine Bildunterschrift nach Theodor Storm: Der Frühling kommt, der Himmel lacht, es steht die Welt in Veilchen. Das liest man doch gerne und verweilt ein wenig länger auf den violetten Blüten der Veilchen, die auf Pflastersteinen ausgestreut sind.

Uns geht es hier aber in erster Linie um die wilden Pflanzen und deren Verwendung in der Küche. Der Bärlauch mit seiner Vegetationsperiode von Februar bis April wächst nicht nur üppig rund um die Jubiläumswarte im Wienerwald, sondern überall dort wo es schattig und humusreich ist, sowie an Bächen. Der Knoblauchgeruch lässt ihn uns sicher von Maiglöckchen unterscheiden, denn Letztere sind giftig. Bärlauch, Allium ursinum, dient manchen als Ersatzspinat und passt in jene Mahlzeiten, bei denen Knoblauch und Zwiebel hineinkommen. Rath präsentiert sechs Rezepte mit wildem Knoblauch, wie er auch genannt wird. Ausprobiert habe ich Bärlauch-Ricotta-Nockerl, allerdings ohne Blüten-Salat. Ich hatte noch einiges an Bärlauchblättern eingefroren. Dieses Wildgemüse lässt sich gut tiefkühlen. Zu beachten ist, dass man es nicht vorher wäscht, sondern erst nach dem Auftauen.

Wir statten dem Wiener Tiergarten mit dem Löwenzahn einen Besuch ab. Wussten Sie, dass Schönbrunn der älteste Zoo der Welt ist? Marco hieß der erste Löwe in Schönbrunn, ein Geschenk des Prinzen von Wales. Ein Jahr zuvor ging gerade der Wiener Kongress zu Ende, der zahlreiche Grenzen Europas neu regelte. Aber hier interessieren uns die Löwen-Zähnchen, die nur entfernt und mit Phantasie an ein Raubtiergebiss erinnern. Für Gärtner ein hartnäckiger Feind, für Kinder ein Puste-Spaß, ist Löwenzahn ein Genuss für die Bienen und Fressbotaniker. Die Löwenzahn- Topfen-Oberstorte ohne Backen muss noch ein wenig warten, bis die ersten Blüten keimen, also frühestens ab März. Statt Mürbteig setzt Rath für den flachen Boden einen Keksteig ein und besprengt die Topfen-Obers-Masse anmutig mit den gelben Blüten. Dekorativ gibt sich die so gewandete Torte. Alternativer Ersatz für Löwenzahn wären Blüten des roten Wiesenklees. Etwas erstaunt hat mich allerdings, dass die ernährungsbewusste Autorin bei einigen Rezepten Gelatine und kein pflanzliches Geliermittel einsetzt wie Agar Agar oder anderes. Dabei sind viele ihrer Rezepte so angelegt, dass sie mit wenigen Zutaten-Änderungen vegan sind.

Neben allgemein bekannten Pflanzen wie Schafgarbe, Brennnessel, Gänseblümchen, Giersch, Lindenbaum, Roter Klee, Brombeere und Hagebutte, werden auch einige vorgestellt, die nur allzu leicht und oft übersehen werden. Dazu gehören Gundelrebe, wilder Hopfen, wilder Amarant oder krummer Fuchsschwanz, wilde Minze, Goldrute, Berberitze und Sanddorn. Die beiden Letztgenannten fallen wegen ihrer roten Früchte auf. An der Wiener Donau würden uns, wahrscheinlich die Powerbeeren des Sanddorn ins Auge springen, wären wir nicht zu sehr von anderem abgelenkt. Sanddorn oder Zitrone des Nordens, wie er auch genannt wird, harmoniert ausgezeichnet mit Fisch. Seine säuerlichen Beeren bewähren sich im glutenfreien Frühstücksbrei mit Brombeeren. Ein Festtagsessen ist der gebratene Saibling mit Sanddorn und cremiger Polenta; leicht zuzubereiten. Es wird für dieses Gericht aber mehr als ein Kochtopf be- nötigt. Vegan wird es, wenn wir den Süßwasserfisch durch Tofu ersetzen. Mit der Hagebutte sind wir im vorletzten Kapitel und der ihr zugeordneten Örtlichkeit am ultimativ letzten menschlichen Lebensziel angelangt, dem Wiener Zentralfriedhof. Fingerfertigkeit ist von dem gefordert, der den aufwändigen Wiener Wildschweinbraten mit Hetschepetsch-Sauce zubereiten will. Hier schließt sich der Kreis von den Wildpflanzen zu den Wildtieren. Und wer das Wort Hetschepetsch nicht kennt, muss sich nicht schämen. Nicht nur in Wien sondern auch in Bayern und Tirol stand der umgangssprachliche Ausdruck Hetschepetsch für Hagebutte.

Am Schluss besuchen wir die Wiener Märkte, lassen uns verführen von der bunten Vielfalt an Obst und Gemüse und anderen kulinarischen Angeboten. Die Zutaten für die Rezepte im letzten Kapitel sollten auf den Marktständen zu finden sein. Ich greife mir das Wiener Zitronenhuhn mit Quendel heraus, das fast schon mediterran anmutet und Urlaubsstimmung aufkommen lässt.

Mit Wildes Wien von Alexandra Maria Rath liegt ein Kochbuch vor, das Melancholikern, Grantler und Grantlerinnen, Genuss-Suchenden, lukullisch Begeisterten, Nörglern, Zuagrasten, Vorbeischauenden und Bleibenden, kurz: allen echten und temporären Wienern und Wienerinnen viel Freude bereiten wird. Einmal, weil sie viel Wissens- und Staunenswertes, vermutlich auch Neues über Wien erfahren. Zum anderen, weil hier Wildpflanzen so selten kurz und bündig wie witzig beschrieben und vorgestellt werden, inklusive zahlloser Essensvorschläge. Wildes Wien ist kein Bestimmungsbuch und auch nicht alle vorkommenden Wildpflanzen werden ausführlich beschrieben. So erfährt man bspw. vom Quendel nur, dass er die wilde Form des Thymian und in Wien nicht leicht zu finden ist. Das genügt. Rath präsentiert eine ausgewogene Mischung bekannter wie auch weniger bekannter Wildpflanzen und Wiener Kultur in einem Ton leichter Lesbarkeit, auf hohem Niveau. Manche Passagen erinnern mich an Quizrunden. Einige Rezepte sind hinsichtlich Zutaten umfangreich, mit Hang zu frisch Gepflücktem und sorgen für einmalige Geschmackserlebnisse. Darüberhinaus werden traditionelle Gerichte mit essbaren Wildpflanzen aufgefrischt und in neuem Gewand serviert. So der Wiener Kaiserschmarrn mit Berberitze und Brombeeren oder die Liwanzen mit Kriecherl-Kompott oder die Altwiener Erdäpfelsuppe mit Wildkräutern. Also, auf nach Wien! Streifen wir suchend nach essbarem Grünzeug durch die Gstetten, um zu verkochen, was wir finden.