Claudia Hirschberger, Arne Schmidt, Die grüne Stadtküche

Food with a View. Sehen, sammeln, gemeinsam essen

Knesebeck Verlag, München, 2017, 336 Seiten, zwei Lesebändchen, 30.80 Euro
ISBN 978-3-86873-985-5
Vorgekostet

Heute reisen wir in STÄDTE.

Genau genommen in eine Stadt, nämlich nach Berlin, die hier für viele andere stehen soll und kann. Städte bieten alles, was Vegetarier- und Veganerherzen höher schlagen lässt – nämlich Genießbares vor der Haustür: eine Vielfalt an Wildpflanzen, die man kochen kann, Obst aus dem Garten von Freunden und Selbstgezogenes von der Fensterbank, auch alte Gemüsesorten vom Markt. Frei nach dem Motto: ‚Die Stadt ist unser Garten‘ unternahmen die Vegetarierin Claudia Hirschberger und der Veganer Arne Schmidt eine Zeitreise durch ein grünes Jahr und hielten das schriftlich und fotografisch fest. Das quasi verdichtete Protokoll ist nun unter dem Titel Die grüne Stadtküche im Knesebeck Verlag erschienen.

Der Anspruch der beiden Autoren ist hoch und allein für die beharrliche Umsetzung ihres Selbstversuchs, sich nur mit dem saisonalen Angebot aus dem lokalen Umfeld inklusive Marktangeboten über ein Jahr lang zu ernähren, gebührt ihnen Respekt. Für Claudia und Arne bedeutete diese Zäsur ausgedehnte Streifzüge und damit Erweiterung ihres urbanen Lebensraumes sowie den Blick zu schärfen auf Bereiche, die man bis dato mehr aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm. Holunderblüten, Felsenbirnen, Schlehen, Hagebutten und einiges andere mehr rückten plötzlich in den Fokus. Und die Plätze, wo sie wachsen, bekommen eine andere, eine neue Bedeutung – sie werden lebenswichtig. Die Stadtparks, -gärten und -äcker, Alleen, Grünzonen entlang der Bahngeleise, begrünte Verkehrsinseln, Natur-Enklaven in Hinterhöfen, Privatgärten und Stadtwäldchen – alle diese urbanen Grünräume galt es zu neu zu entdecken, zu bewerten und ihre kulinarischen Schätze zu ernten. So gesehen ist Die grüne Stadtküche auch ein Schlüssel zu neuem Wahrnehmen der eigenen Stadtnatur. Sehr schön gelingt ihnen dies mit den Abbildungen. Bspw. dem doppelseitigen Farnbild mit den eingeringelten Farnspitzen, die das Tageserwachen und auch den Frühling ankündigen, oder dem Bilderquartett aus Vogelmiere, Gundermann, Knoblauchsrauke und wildem Hopfen. Alles das führt mich Betrachter hin zu einer urbanen Schönheit und Lebendigkeit, die am Ende im Kochtopf landet. Das Autorenduo erzählt mit den Abbildungen bereits kleine lukullische Geschichten. In bildhaft nachvollziehbaren Schritten werden wir Zeuge eines Prozesses, der am Pflanzenstandort beginnt und beim angerichteten Teller endet. Diese Ausführlichkeit schlägt sich in der Seitenanzahl nieder. Vor uns liegt also nicht nur ein Kochbuch, sondern auch ein stimmungsvoller Bildband. Und so verwundert es nicht, dass beim Durchblättern sich überfallsartig der Gusto auf Rhabarber-Bienenstich, auf Schlutzkrapfen mit dicken Bohnen und süßsauren Aprikosen, auf den roten Risotto mit Maronenröhrlingen im Wacholder-Butternusskürbis, auf alpine Fusion-Burger mit Roggen-Buns und rote Bete-Patties oder auf Dinkelhonigkuchen mit dunkler Schokolade bemerkbar macht, wobei hier auf die österreichische Bedeutung von Gusto verwiesen sei, nämlich Appetit bekommen auf das vorhin Aufgezählte. Steaks und Würstchen sucht man hier vergeblich, aber Patties, das sind die Grillfleischscheiben der Burger auf vegetarischer Basis, schon. Den Fusion-Burger, der zeitlich einigen Aufwand bedeutet, musste ich schon wegen der kulinarischen Anleihe aus dem Alpenraum ausprobieren. Und da wird einiges verbraten: vom Aprikosensenf über mehlige Kartoffeln bis zu Walnüssen und Weißkohl. Die alpin-sportliche Herausforderung war hier nicht das Erklettern der bergähnlichen Burger, sondern eine Hochleistung der Kaumuskulatur, um dieses wohlschmeckende Massiv zu bewältigen. Die Rote-Bete-Patties, d.h. Laibchen, haben uns so gut gemundet, dass ich sie auch als kleinen Imbiss mit Kartoffelsalat zubereitet habe. Was mir an diesem Rezept besonders gefallen hat, ist, dass auch nebensächliche Produktteile, die eher in der Biotonne landen, wie die Rote Bete Stängel und Blätter, verwertet werden. Diese prinzipielle Haltung, alle verwendbaren Teile zu verwerten, zieht sich durch alle Rezepte. Allerdings liebt das Autorenduo, so scheint mir, die Ingredenzienvielfalt, die mich Anwender mitunter herausfordert, Zutaten wegzulassen oder durch weniger exotische zu ersetzen. So habe ich anstelle der Maronenröhrlinge für den roten Risotto im Butternusskürbis frische Pfifferlinge verwendet, die leider ihre schöne gelbe Farbe wegen des Rotweins verloren haben. Aber geschmeckt hat es himmlisch.

Interessant und neu für mich war allerdings der Rhabarber-Flammkuchen mit karamellisierten Frühlingszwiebeln. Abweichend vom original Flamkuchen, dem ellsässischen Weinstuben-Essen, fällt die Hefe weg und wird der Speck durch Rhabarber ersetzt. Zudem verschafft das verwendete Dinkelmehl dem ganzen mehr Aroma und ließ selbst die größten Skeptiker unter meinen Testessern diesen Rhabarberkuchen mit jedem Bissen genussvoller verspeisen. Ihre Meinung war einhellig: Das Rezept muss weitergegeben werden.

Die grüne Stadtküche enthält einige interessante Rezeptkreationen, mit überraschenden Kombinationen. Der Einsatz von unzählig verschiedenen Ölen, Sirups oder Buttern und exotischeren Zutaten wie Mandelmilch etc. scheint programmatisch und lässt den möglichen Schluss zu, Kochen und Essen als zeremonielles Ereignis zu betrachten. Erhärtet wird dieser Eindruck durch bestimmte Zutaten, wie Kakaobutter oder Cashewmus, was sich einem trendigen Lifestyle unterwirft. Ich hätte mich bspw. über ein Hagebuttenrezept gefreut und nicht nur über die bloße Erwähnung dieser Nussfrucht in einer Kapiteleinleitung.

In vier großen Abschnitten, den Jahreszeiten entsprechend, nähern sich Claudia Hirschberger und Arne Schmidt der Natur ihrer Stadt Berlin. Dabei landen viele Früchte ihrer Eroberungsfeldzüge, die zu köstlichen Gerichten verarbeitet werden, auf dem Küchentisch. Über 50 für dieses Buch entstandene Rezepte, ergänzt um rund 30 hausgemachte Basics von Curd bis Ketchup, lassen Die grüne Stadtküche zu einem nachwirkenden Genuss werden. Und man wird angesteckt vom Drang, die eigene Stadt nach grünem Essbaren zu durchstreifen. Dazu braucht es Kraftfutter, etwa einen kernigen Riegel mit Mandeln, Nüssen und Datteln, dessen Rezeptur im Herbstkapitel abgedruckt ist. Die grüne Stadtküche ist ein großartig erzähltes, liebevoll gestaltetes, veganisches Koch- und Bilderbuch.

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