Heute reisen wir nach SÜDBADEN.
Nach Sulzburg – nicht Salzburg, nicht Österreich – nein, nach Sulzburg, eine 2.500 Seelen zählende Gemeinde, die ca. 15 km südlich von Freiburg im Breisgau liegt. Es gibt nichts Nennenswertes, das diesen Ort besonders hervorhebt. Erwähnenswert schon, dass ab 1500 ein Drittel der Bevölkerung Juden waren, bis 1940.
Dann wurden sie deportiert und ermordet. Ein unrühmliches Kapitel. Einige Zeit vergeht noch bis zum Jahr 1998. Da beginnt eine neue Zeit in der Gastronomieszene im Markgräflerland, erweckt den Ort Sulzburg aus seinem Dornröschenschlaf. Da kehrt Douce Steiner an den Herd ihres Vaters zurück, ins Restaurant Hirschen. 10 Jahre später wird sie ihn mit ihrem Mann Udo Weiler übernehmen.
Langsam aber stetig verändert sich das kulinarische Angebot des Familienunternehmens. Douce erkocht sich und ihrem Team zwei Sterne, ohne den „Avantgardisten in Spanien und Kopenhagen nach zu eifern“, wie Wolfram Siebeck über die Newcomerin einmal schrieb. Ihre Handschrift dominiert. Im Restaurant und in mittlerweile fünf Kochbüchern. Das letzte, eben im AT Verlag erschienen, widmet Douce Steiner ihrer Tochter Justine. REZEPTE FÜRS LEBEN nennt sie es und versammelt darin kulinarische Feinheiten, die einerseits im Restaurant Hirschen auf der Speisekarte stehen, andererseits die Steiners nur privat zu Hause auftischen. Es ist also ein sehr persönliches Kochbuch. Auch, weil sehr viel Lebensgeschichte von Douce Steiner einfließt. Im gewissen Sinne ist es eine Biographie mit Rezepten. Gewidmet der nun volljährig gewordenen Tochter Justine, die offensichtlich gaumenmäßig ihrer Mutter nachschlägt und demnächst eine Kochlehre beginnen will.
In einem kurzen Prolog hebt die Autorin hervor, was im Leben wichtig ist: Die Liebe zum Kochen und am Genießen, Respekt vor der Natur, Bewahrung der Bodenständigkeit und das Leben glücklich zu meistern. Der Rest ist Familie. In 14 Kapiteln erfahren wir in kurzen Geschichten von den wichtigsten Lebensabschnitten der heute 45-jährigen Douce Steiner. Jedes Kapitel ein goldenes Zeitalter, denn Goldfarbenes trennt jedes Kapitel ab und findet sich in den Überschriften der Rezepte. Douce‘ Absicht ist, ihrer Tochter ihren geglückten Lebensweg zu erzählen, sodass er Justine helfen möge, den ihren ebenfalls so positiv und glücklich zu bewältigen. Darin liegt eine hehre Absicht, eben mentale und orale Stärkung für eine positive Lebensmeisterung. Zunächst sind es Erinnerungen. Da erfährt man einiges über Douce‘ Kindheit und Jugend. Ihr Verhältnis zu ihren Eltern, Tanten und Omas. Das Aufwachsen in zwei Kulturen, die sie formen und auch zu dem machen, was sie heute ist: die erfolgreichste deutsche Köchin. Douce erzählt von frühen Gaumenfreuden, von der Bedeutung des Frühstücks, von der Abnabelung vom Elternhaus, von jenem Zeitpunkt, an dem sie beschließt, Köchin zu werden. Es gibt auch Rückschläge in ihrem Leben. Etwa die Misere mit den Soufflés. Nachdem sie im Kochunterricht 30 Soufflés ruiniert hatte, kam die Erkenntnis, zu den eigenen Fehlern zu stehen und „wenn man im richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort auf die richtigen Menschen trifft, dann wird alles wieder gut“. In diesem Falle hatte die gastgebende Familie, die geknickte Douce wieder aufgerichtet, Halt gegeben. Douce‘ biographische Lebensbeschreibung enthält auch philosophische Erkenntnisse, die mehr Motti und Ausdruck von Haltung scheinen und sich zu ihrem Charakter verdichten, was sich letztlich in ihrem Kochen, ihrem Stil ausdrückt. Die Perfektion, die Reduktion aufs Wesentliche und immer wieder jene kunstvollen Gesamtkompositionen meist auf runden, weißen Tellern.
Allerdings auf einem dunkelbraunen Kastanienbrett präsentiert „Mami“ ein Amuse-Gueule aus Tomatenbrot mit Käseomelett und knuspriger Speckscheibe. Allein – so mein Eindruck -, das Käseomelett fehlt auf dem Foto. Allerdings, nachbereitet, zwar nicht so schön arrangiert, ist dieser Einstieg in die Steinersche cuisine ein erster Hochgenuss. Auch dem Rührei mit grünem Lauchschaum konnte ich nicht widerstehen. Wieder war es der äußere Anschein, der meine Eierkreation mit der bildhaften Vorlage nicht ident werden ließ. Der Happen schmeckte vorzüglich und den Lauchschaum merkte ich mir vor für andere Gerichte. Die Flachswickele habe ich mir für heute vorgenommen. Kleine Zopfwecken, die mich auch an meine Kindheit erinnern, die es zu besonderen Anlässen gab. Heute werde ich mehr backen und in die Chorprobe mitnehmen, mal schauen, wer sich in die Kindheit zurückversetzt fühlt. Den Vorteig habe ich bereits gestern angemacht, er braucht nach Douce eine Nacht Ruhe, also Zeit, die einkalkuliert werden muss bei den Flachswickele. Wie überhaupt manche ihrer Rezepte etwas mehr Vorbereitung benötigen. So etwa die Zartbitterschokolade mit Orange eingelegte Kumquats und eingelegte Orangenscheiben benötigen, oder das Rosa gebratene Reh bspw. erst mit Orangen-Wacholder-Jus zur vollen Entfaltung kommt. Eingelegtes, Jus, Essenzen und Fonds sind am Ende in einem Basiskapitel zusammengefasst. Hier und gelegentlich auch an anderen Stellen tauchen nicht alltägliche Begriffe auf, die erklärt werden sollten.
So benötigt man für das Orangen-Wacholder-Jus Reh-Parüren, das sind die Teile, die man vor dem Kochen vom Rehrücken runterschnipselt. Oder wissen Sie, was Fischfumet ist? Ja, richtig, das ist der Fischfond; ein wohlduftender wohlgemerkt. Auch setzt die Autorin gewisse Küchenutensilien voraus wie eine iSi-Flasche, Backmatten, einen Backstein und eine Eismaschine, das sollte Sie aber nicht abschrecken bspw. das Dessert von grünem Tee und Schokolade auszuprobieren, wo die Earl-Grey-Mischung gefrieren sollte. Schön zu sehen ist anhand mancher Rezepte, in welche geographische Regionen die Familienbande zurückreichen. Aus Douce‘ französischer Linie kommen etwa die polnischen Krautwickel, während die deutsche Oma gerne Königsberger Klopse mit Kapernsauce zubereitete. Sehr schön finde ich das Kapitel Was Austern mit Heidelbeeren verbindet. Zunächst beschreibt sie sehr humorvoll die verschiedenen Arten – so die korpulente Bélon mit XXL-Kleidergröße, die schlanke Fine de Claire usw. – sowie ihre Offenbarung an Geschmack, was weit in die Kindheit zurückreicht. Daraus leitet Steiner ihre Einstellung an Erinnerungen ab, dass man sich an manches vielleicht zu sehr festklammert und erst das Loslassen Neues eröffnet. Für Douce scheinen Rouget Barbet oder das Heidelbeerdessert Erinnerungen auszulösen, der Geschmack, die Farbe, was immer.
Das Topfensoufflé war eine Pflichtübung. Sie gelang auf Anhieb und schmeckte verführerisch gut. Auch die Pizza auf heißem Stein stellte sich als wahre Gaumenfreude heraus. Mitunter ein Grund ist der Boden, der aus einem wunderbaren Hefeteig bestehend, künftig noch öfter zum Einsatz kommen wird. Bei diesem Gericht sieht man zudem die Klasse der Köchin, die selbst aus dem Chaos eines Pizzabelags noch eine Augenweide macht.
Übrigens – die Fotos von Michael Wissing sind so kunstvoll, dass allein beim Durchblättern das Wasser im Mund zusammenläuft. Nur eines hat mir nicht gefallen. All die Bewerbungen, Briefe zum Teil faksimiliert nehmen zu viel Raum ein, gehören eigentlich nicht wirklich in ein Kochbuch. Alles andere ist wunderbar. Anregend, Appetit machend, nachahmenswert, vorprogrammierter Genuss pur. Die Latte ist hoch gelegt, gehobene Kochkunst mit mehr als einer Prise Perfektion. Wer sich darauf einlässt kann nur gewinnen. Und seien es nur Glücksmomente, die bleiben. Bei mir war es der Gewürzlachs mit Misofond und Rettich der meinen Verstand tanzen ließ, um es in der Diktion von Douce Steiner auszudrücken. Die REZEPTE FÜRS LEBEN sind ein Füllhorn des außergewöhlichen Geschmacks.