Heute reisen wir nach MALLORCA.
Dort treffen wir einen Mann, der 44 Jahre alt ist und sein Leben mit TUTTAVIA umschreibt. Ein Adjektiv, das vieles und nichts bedeuten kann. Es kann mit trotzdem oder mit dennoch oder mit allerdings übersetzt werden. Oder anders gesagt: Guiseppe, der Besuchte, ist weder Promikoch noch Influencer, trotzdem hat er ein Kochbuch gemacht. Und obwohl Guiseppe keinen Stern hat, kocht er dennoch ab und zu für Köche, die einen haben. Allerdings hat er seinen Lebenstraum verwirklicht und mit seiner Allerliebsten auf Mallorca das Restaurant Peperoncino eröffnet.
Nichtsdestoweniger, auch das könnte dieses italienische Adjektiv bedeuten, hat Guiseppe Carbonaro das Kochbuch TUTTAVIA fertiggestellt, auf einer Kreuzfahrt, da sonst Zeit und Ruhe fehlten. Auf neun Kapitel verteilt, werden vor allem jene Gerichte vorgestellt, die in seinem Lokal serviert werden.
TUTTAVIA ist, trotzdem es keine Desserts und Kuchen-Rezepte bereitstellt, ein sehr spannendes Kochbuch mit innovativen Anleitungen, die für manche Überraschung sowohl in der Kombination der Zutaten als auch im Geschmack sorgen. Dass TUTTAVIA von Guiseppe Carbonaro beim ersten Reinblättern schon gefällt, hängt auch mit den Fotos und dem Layout zusammen.
Der Aufbau ist klassisch italienisch. Den Salaten folgen Vorspeisen, dann Suppen. Im vierten Kapitel geht es allerdings nur um Pasti, die wiederum von den Risotti abgelöst werden. Fleisch, Fisch & Meer sowie Vegetarisch sind der Mainstream, während Pinsa – eine bekömmlichere Form der Pizza – den Schlusspunkt bildet.
Ich bin ein Freund der einfachen und ehrlichen Küche, heute fast schon ein Stehsatz, leitet den Rezepte-Teil ein. Die einzelnen Kapitel werden immer mit doppelseitigen Fotos eröffnet. Meist auch mit dem Maestro bei einer seiner Kochtätigkeiten. Vom Salatputzen bis zum Pfannenschwenken, Salzen einer Speise etc.; es sind Momentaufnahmen von Tätigkeiten in der Küche, die den Rezeptblock auflockern. Die lokalen Aufnahmen werden gelegentlich von Landschaftsaufnahmen durchbrochen. Nur ganz am Schluss gibt es ein Bild mit der Familie, beim Essen.
Auch Sprüche und Gedanken Guiseppes begleiten uns. Ich habe ein italienisches Restaurant, aber auf einer Insel, auf der Einheimischen lieber spanisch essen. Oder zu den Suppen fällt ihm ein, dass manchmal nur wenige Handgriffe nötig sind, um ein mega Gericht zu zaubern.
Beim Salat habe ich mich sofort auf den Jungsalat mit Ziegenkäse gestürzt. Mit Rosinen, Honig und mildem Senf verleiht er diesem Sommergericht einen Touch Levante. Dazu knackige Kürbiskerne und reifer Ziegenkäse, der im Gaumen hängenzubleiben droht. Auch der Aquasale mit Orangen musste ausprobiert werden und hat mich sofort überzeugt. Es fasziniert mich immer wieder, was gute Orangen bewirken. Dabei liegt die Betonung zu diesem Salat auf Meersalz (Aquasale) und reizt mich zu einem vergleichenden Versuch, diesen Salat einmal mit Meersalz und einmal mit alpinem Steinsalz zuzubereiten.
Eine spanische Anlehnung sind die Boquerones. Dieses Tapa Gericht wird üblicherweise mit Essig und Olivenöl angerichtet. Guiseppe tauscht Essig mit Zitronen und verfeinert die wie ein Seestern angerichtete Vorspeise mit Sardellen. Hier strahlt die mediterrane Sonne vom Teller.
Die Kürbiscremesuppe mit Stracciatella und Safran ist interessant hinsichtlich der Kombination, obwohl mir die deutsche Lust, alles mit Sahne aufzupeppen, nicht so liegt. Der Stracchiatella di bufala war allerdings eine neue Erfahrung und bei der Rohverkostung ein leichter Unterschied zum klassischen Mozarella di bufala herausschmeckbar.
Gefallen hat mir auch die Tagliatelle al Forno, ein Resteessen wie die Italiener dazu sagen. Und es schmeckt jedes Mal anders. Auch eine Erfahrung, die bei vielen italienischen Gerichten zutrifft.
Mit Kaninchen in Knoblauch präsentiert Carbonaro ein spanisches Gericht, das bei vielen Familien zu Ostern aufgetischt wird. Da das Kaninchenfleisch keinen sonderlichen Eigengeschmack hat, wird das Fleisch meist vor dem Kochen über Nacht mariniert. Nicht hier, und so ist das Gericht innerhalb einer Stunde tischfertig. Herausragend an diesem Gericht ist die Mandel-Knoblauch-Sauce, die die Raumluft genauso erfüllte, wie sie die Geschmacksknospen meiner Gäste betörte. Und Carbonaros Frau Eni erinnert sich, dass nach dem Kaninchen-Essen die Enkel alle einen Hunni bekommen haben. Wir erfahren aber nicht, ob es 100 Pesetas waren oder 100 DM.
Das letzte Kapitel ist der Pinsa gewidmet. Ein Pizza-ähnliches Essen, das sich vor allem in der Teigmischung und somit im Geschmack unterscheidet. Für die Pinsa wird viel Weizenmehl verwendet. Eine verhältnismäßig kleine Menge an Reis- und Sojamehl dazu verfeinern und lockern den Hefeteig auf. Dann wird noch ein halber Liter Wasser hineingerührt. Das Besondere an diesem Teig ist aber die lange Gärungszeit. Von über Nacht bis zu 150 Stunden darf er ruhen und die Hefe sich aufpflustern. Die Pinsa mit Burrata und Serranoschinken wie auch die Pinsa mit Mortadella und Pistanzienmus haben meinen Testessern sehr gemundet. Mir auch, obwohl mein Herz eigentlich für sehr dünne Teigböden schlägt.
TUTTAVIA ist ein sehr mediterranes Kochbuch. Gelegentlich findet man in seinen Gerichten auch germanische Spuren. Etwa im Risotto mit Calamari und Roter Bete. Ein Gericht, das bei einem Reis-Kochwettbewerb in Valencia den dritten Platz belegte bei 150 Teilnehmern. Hier schließt sich auch der Kreis. Guiseppe Carbonaro ist vom Schwabenland aus nach Mallorca aufgebrochen, um dort ein Restaurant zu eröffnen, und trotzdem nach Stuttgart zurückgekehrt, um ein Kochbuch zu drucken. Auch den Risotto mit Maronen könnte man als Schulterschluss zwischen Italien und Baden-Württemberg bezeichnen. Der Arborioreis kommt aus der Poebene, die Esskastanien kommen aus mitteldeutschen Landen. Für den Autor ist dieses Gericht mit Emotionen verbunden, hinterlässt bei ihm das wohlige Gefühl von Heimat. Dieser Risotto riecht nach Weihnachtsmarkt und nach Familie. 63 außergewöhnliche Rezepte tischt Carbonaro auf mit zum Teil hintergründigen Geschichten. Und auch die Fotos erzählen „ihr Ding“, sehr detailreich von dem, was in den Rezepten drin ist. Aber weil in diesem Kochbuch vor allem die Persönlichkeit Guiseppes steckt, hat er das letzte Wort: Tuttavia bedeutet für mich auch … ich bin noch nicht fertig. Allerdings kann ich mir darauf nicht verkneifen nachzufragen, was soll das heißen? Und bleibe ohne Antwort in der Küche stehen. Beim Anrichten des Salates mit Orangen und Meersalz habe ich genügend Zeit zum Nachdenken. Und schon beim Schälen der Orangen schweifen meine Gedanken ab nach Sizilien und weiter nach Mallorca …