Heute reisen wir nach WIEN.
In Österreichs Hauptstadt gehen wir auf den Naschmarkt, einen der beliebtesten Touriziele und entsprechend teuer. Das Markttreiben am rechten Wienflussufer besteht seit den 1780er Jahren, während das NENI, ein Familienunternehmen, das sich der orientalischen Weltküche verschrieben hat, erst seit 15 Jahren besteht. Haya Molcho, die Patronin dieses Gastronomiebetriebes, trat an, Wien mit levantinischer Küche zu erobern. Mittlerweile ist ihr gastro-kulinarischer Traum in vielen europäischen Städten etabliert. NENI ist eine Marke, steht für die Anfangsbuchstaben von Hayas vier Söhnen. Mit dreien zusammen führt sie das Unternehmen. Nun ist Hayas erstes Enkelkind zur Welt gekommen, eine Zäsur in ihrem Leben. Auf ihn fokussiert, denkt sie darüber nach, was sie außer ihrer Liebe noch zusätzlich weitergeben kann an Talenten, Werten oder Dingen, die sie geschaffen hat. Da fällt die Wahl auf ihr allererstes Kochbuch. Mit der Neuauflage von Lust auf fremde Küche will sie aber nicht nur ihre künftigen Enkel beschenken, sondern auch aufzeigen, dass Fremdheit durchaus eine Bereicherung des Eigenen, der eigenen Kultur, sein kann. Sie lädt ein, teilzuhaben an der kulinarischen Vielfalt, der Küche ihrer jüdischen Diaspora, qua Mutter und Großmutter.
Und nachdem Hayas Kochbuchkarriere mit dem Lokal NENI anfing, steht am Anfang ein Rückblick mit persönlichen Querverweisen, die sich in einem Satz zusammenfassen lassen: Mit NENI habe ich mir einen Lebenstraum erfüllt. Und so spiegeln sich im Kochbuch Lust auf fremde Küche ihre kulinarischen Vorlieben, die in der Liebe für den Orient wurzelt, ihrer jüdischen Kultur, ihren Reisen. Aber es finden sich darin auch Rezepte, die ihre Köche aus Afrika, der Türkei, der Karibik und aus Österreich beisteuerten.
Der Aufbau des Kochbuchs beginnt also mit einer Rückschau, lässt jene Rezepturen hochleben, die mit Wie alles begann umschrieben werden. Und es beginnt, wie auch jeder Tag, mit dem Frühstück. In Israel ist die erste Mahlzeit des Tages eine sehr reichhaltige. Shakshuka in rotem und grünem Gewand lässt unser mitteleuropäisches Marmeladenbrot kläglich erscheinen. Gehaltvoll mit vier Eiern präsentiert sich das paprika- wie auch spinatlastige Gericht. Aber bei einem orientalischen Frühstück wird einiges mehr aufgetischt. Ful zum Beispiel, das sind Wachtelbohnen im Glas. Sie werden mit etwas Sodacarbonat entschärft, d. h., den Hülsenfrüchtchen werden die Blähstoffe damit entzogen. Im Judenviertel Kairos trugen jüdische Familien freitags Töpfe mit Bohnen und Eiern in die öffentlichen Bäder, wo sie sie in der Asche wärmten und am nächsten Tag zum Frühstück aßen. Diese lange hart gekochten Eier erhalten dann einen butterig cremigen Dotter sowie ein hellbraunes Eiklar. Ful schmeckt aber auch mit normal hartgekochten Eiern. Wer es scharf will, reiche dazu Zhug, ein Pesto mit Serrano-Chilis samt Kernen.
Je weiter wir in Hayas Kochbuch vordringen, desto mehr Gerichte sammeln sich auf der Frühstückstafel an. Zur Auswahl stehen drei verschiedene Tahinas; Hummus- und Falafel-Variationen sowieso, also alte Bekannte, würde man meinen. Das Besondere sind aber die Beimengungen in diesen Klassikern. Pilze bzw. Faschiertes im Hummus und Falafel aus Kichererbsen, die mit roten Linsen oder Süßkartoffeln angereichert werden. Recht unvermittelt taucht dann das Ruben-Sandwich auf, lenkt unsere Blicke nach New York. Arnold Reuben kreierte 1914 in seinem Restaurant für eine sehr hungrige Schauspielerin das Sandwich aller Sandwiches. Dafür wird im Original ein ordentliches Stück Pastrami-Schinken, würzig-scharfes Dressing und Käse zwischen zwei dünnen Roggenbrotscheiben versteckt. Fertig ist das affenstarke Reuben-Sandwich, in Anspielung auf King Kongs Besuch in New York City. In Hayas Nachbau wird statt dem Sauerkraut frischer Krautsalat verwendet, der macht’s knackiger.
Wenn sich Hayas gesamte Familie zum Frühstück versammelt, dann ist selbst das kleinste freie Fleckchen am Tisch besetzt, mit levantinischen und anderen Köstlichkeiten. Dazu gehört auch der Jerusalem-Teller. Eine Hühner-Grill-Portion, die im Original neben Hühnerherz auch -leber und -magen enthält, hier aber sich nur mit Leber präsentiert. Völlig vegetarisch dagegen ist die mit confierten Tomaten belegte Focaccia. Wer aber sein Brötchen mit süßer Creme bestreichen möchte, dem empfehle ich Tahina mit Dattelsirup. Eine wunderbare Entdeckung auch für meine Enkel, die waren nur anfänglich irritiert über den neuen Geschmack ihres Vanilleeis.
Um den Geschmack der Kindheit geht es dann auch im zweiten Kapitel. Gleichbedeutend einer Heimatsuche entpuppt sich das Essen als israelisch-deutsche Zauberei: Mein Vater war ein Feinschmecker. Er hat gern und großzügig eingekauft. Meine Mutter hat die tollsten Gerichte daraus gezaubert. Bspw. Melanzani mit Ingwer und Chili oder Baba Ganusch auf rumänische Art oder Leylas Nussaufstrich nach einem Rezept von der Schwarzmeerküste Georgiens. Dazu werden viele Walnüsse mit Knoblauch, Paprikamark und einem Cocktail aus Gewürzen zu einem herrlich pikanten Aufstrich verrührt. Aber werden Kindheitserinnerungen nicht vor allem mit Süßem verbunden? Das Marillen-Knaffe ist so ein Dessert, das, kaum davon gekostet, einem lange, wenn nicht ewig in Erinnerung bleibt.
In die Kapitel führt die Autorin immer mit einem erklärenden Text ein, dem gegenüber Momentaufnahmen der Molcho-Familie stehen.
In Reisen mit Samy, Kapitel drei, betrachtet die Autorin die Welt wie durch eine Linse. Im Brennpunkt der Esstisch mit Gerichten aus aller Welt, Schmankerln die sich über alle Breitengrade hinwegsetzen. Hier manifestieren sich die schönsten Reiseeindrücke über Düfte, Farben und Essenzen aus der Länderküche. Und das tolle, es sind an Zutaten und Aufwand überschaubare Gerichte; generell ein Kennzeichen von Hayas Rezepturen. Mozarella mit Mango, Hayas Caprese, ist optisch eine Augenweide. Dabei ersetzt sie die Tomate durch eine tropische Steinfrucht und kippt das Ganze von der Horizontalen in die Vertikale, und so entsteht ein fünfstöckiges Türmchen in Orange-Weiß. Die Linsensuppe wird zur Gratwanderung zwischen erträglicher Schärfe und gaumenfreudigem Aha-Erlebnis. Aber erst die Berberitze und die Kokosmilch verleihen dem Süppchen seinen besonderen Charme. Reichhaltig wird es, wenn sich portugiesische mit kreolischen Essensvorstellungen vereinen, dann entsteht sowas wie der Kap Verd’sche Gemüseeintopf. Hayas Interpretation der Cachupa bleibt weitgehend beim Original, nur mit den Gewürzen ist sie vielfältiger und großzügiger. Lustig auch, dass sie hier das österreichische Wort Fisolen für Bohnen verwendet, weil sie sonst für die Produkte weitgehend bundesdeutsche Ausdrücke benutzt. Dieser ausgiebige Eintopf verführt und entführt uns in Windeseile auf die westafrikanischen Eilande, die die meisten von uns wahrscheinlich zuvor noch nie betraten.
Nun wird es noch familiärer. Waren die Gerichte und Rezepte bisher eher auf Haya zugeschnitten, so binden sie jetzt ihre Söhne, ihre Familie, ihr soziales Umfeld mit ein. D. h., Geschichten und Ereignisse mit ihren Söhnen und anderen – vermute ich – sind an diese geknüpft. Bspw. steht Cheesecake für Nadiv, Hayas Sohnemann, der in New York studierte. Und wieder werden wir überrascht mit einem so einfachen und so guten Kuchenrezept, das ohne Melassesirup, dunklem Zucker wie auch beschwipsten Pflaumen auskommt. Die Melanzani aus dem Ofen mit Burrata und israelischem Salat erinnert an Bruschetta, wobei die Schnitte kein Brot, sondern ein Eierfrüchtchen ist. Fast Jause oder amuse gueule oder Teil eines Festbanketts. Und Feste gab und gibt es bei den Molchos viele, das hatte Haya von ihrem Vater übernommen, der ein gastfreundlicher Mann war. Ob Rosch ha-Schana gefeiert wird oder spontaner Besuch, gelacht wird viel, gegessen auch. Dazu wird Brot gereicht, Challa, das geflochtene Sabbatbrot, hier dreistrangig und leicht gesüßt. Zu Pessach kocht Haya eine Suppe mit Matze-Knödel. Die berühmten Knejdlach streckt sie mit etwa Sodawasser und der Hühnersuppe mengt sie Safran bei, damit sie mehr Farbe bekommt. Und Achtung, es ist üblich, die Knödel in Salzwasser und nicht in der Suppe zu kochen, da sie sehr viel Flüssigkeit aufnehmen. Etwas ausgefallener ist der rumänische Ikra-Dip, eine Creme aus Karpfenrogen, die mit Challa und Radieschen serviert wird.
In Lust auf fremde Küche offeriert uns Haya Molcho ihre israelische Küche, die sie mit Weltküchen verknüpft. Gleichzeitig ist es eine Reise in ihre Kindheit, wie wohl sie auch über Lebensabschnitte in Form von Gerichten berichtet. Das Buch ist von hinten nach vorne zu lesen, nur scheinbar verkehrt, denn es ist der hebräischen Lesart – von rechts nach links – angepasst.
In Lust auf fremde Küche werden Rezepte präsentiert, die sich problemlos verwirklichen lassen; die einfach gehalten sind an Menge und Alltagstauglichkeit. Zudem verknüpft die Autorin sehr geschickt ihre Kocherfahrungen an ihre Erfolgsstory und ihr Restaurant NENI wie auch ihre Familie. Den Blick fest auf kulinarisches Vergnügen und in die Zukunft gerichtet. Dabei denkt sie an die Enkelgeneration und ihr Vermächtnis; praktiziert so, wie es früher üblich war: Rezepte von der Großmutter an die Mutter und an die Tochter weitergeben.