Heute reisen wir in DAS SÜSSE WIEN.
Ausländer und Nicht-Wiener verstehen unter Wiener Küche meistens Mehlspeisen. Ein akzeptiertes Missverständnis, wohl geboren aus der enormen Vielzahl von Konditoreien und Kaffeehäusern, die das süße Leben der Stadt bestimmen. Es hieße Wasser in die Donau tragen, wollte man die Berühmtheit der Wiener Mehlspeisen noch besonders unterstreichen, betonte der Koch und Zuckerbäcker Franz Ruhm und hob damit die hohe Qualität der Wiener Süßspeisen hervor. Genau genommen lässt aber der Begriff Mehlspeise gar keine eindeutige Begriffsbestimmung zu, umfasst er doch auch alle Mehlklöße, Eyerkuchen, Nudeln usw., wie es in einem alten Lexikon heißt. Ein anderer Kenner der Wiener Küche – Ludwig Plakolb – behauptet: Die Österreicher bemühen sich redlich, die Beimengungen von Mehl zu tarnen und mit Schlagobers die letzten staubigen Spuren zu verwischen. Oder sie lassen es überhaupt weg und finden mit den Grundsubstanzen Zucker, Eiern und Nüssen das Auslangen.
Unterschieden wird zwischen Mehlspeisen, wie Strudel, Palatschinken, Schmarren etc., die warm gegessen, und jenen mundfesten Manifestationen der Verführung, die kalt genascht werden. An zwei öffentlichen Orten wird der süße Genuss zelebriert. In Wiener Cafés und Konditoreien, wobei Letzteres eine Spielform des Kaffeehauses ist, wo man keine Zeitung liest, sondern sich dem Gustieren widmet. Josef Haslinger, seines Zeichens Chef-Patissier, ist jene Instanz, die dazu beiträgt, dass zumindest im Meinl am Graben dem Wiener zweites Liebkind neben dem Kaffee, die Mehlspeis, nie ausgeht.
Nun hat Haslinger ein Backbuch geschrieben, das, Das süße Wien, so auch der Titel, aufleben lässt. Mehr noch! Es ist eine Aufforderung zum Nachbacken der guten alten Mehlspeisen und damit ein Stück Wiener Flair und Erbe aus Barock und Biedermeier, das ins private Heute transferiert wird. Das bekommen Sie gebacken, bestimmt! ist Mirjam Jessas aufmunternde Einleitung zu Haslingers Backwerken. Die doppeldeutige Anspielung ist gewollt. Vorfreude kommt auf mit den Düften, die dem Backofen entströmen und Küche und Heim erfüllen. Kindheitserinnerungen werden wach beim Anblick und den Gerüchen von Buchteln, Apfelstrudel, Linzertorte und anderem Gebäck. Haslinger entführt und verführt ins süße Wien mit 66 Rezepten, die den Bogen von Apfel im Schlafrock bis zu Zwiebelmonde spannen. Neben Klassikern wie Apelstrudel oder Kaiserschmarren oder Vanillekipferln finden sich darin aber auch einige ausgefallenere Süßspeisen. Etwa der Eierlikör-Gugelhupf – eine köstliche Besonderheit – auf Mürbteigbasis und damit garantiert nicht jener, den Kaiser Franz Josef von seiner Freundin Katharina Schratt vorgesetzt bekam. Seine Durchlaucht bevorzugte nämlich einen Germgugelhupf aufgrund dessen Leichtigkeit.
Und wenn ich hier von weniger bekanntem Genuss spreche, so beinhaltet das auch jene Mehlspeis-Rezepturen, die Haslingers patisseriestischer Geist beeinflusste und die er neu kreierte. Etwa der vegane Mohnstrudel, der von mir nachgebacken, ein Geburtstagskind beglückte. Dabei war dieser Strudel zunächst nicht das, was ich mir unter einem gelungenen Mohn- strudel vorstellte. Zu sehr erinnerte das Gebackene im Duft an Mohnknödel. Die Teigmenge war unendlich groß, beanspruchte beim Ausrollen auf einen halben Zentimeter Stärke ungewöhnlich viel Platz. Beim Aufrollen gebärte er sich widerspenstig, die dünn aufgetragene Zitronenmarmelade vertschüsste sich ins Reich des Unsichtbaren, war auf der Zunge kaum wahrnehmbar. Das Backresultat war so, unbefriedigend. Erst ein horizontaler Schnitt und neuerlich, diesmal dick aufgetragene Marmelade verlieh dem Mohnstrudel jene Geschmacks-Fasson, die ich erwartete. Und das Geburtstagskind? Nach dem ersten Bissen leuchteten die Augen auf und das wohlige Aaaahh bedürfen wohl keiner weiteren Erklärung.
Josef Haslingers Anspruch ist anzuregen, wieder mehr zu backen und so Klassiker der Wiener Mehlspeisen ganz persönlich zu erleben. Seine Anleitungen sind kurz und prägnant. Manchmal zu kurz und deshalb ungenau, weil Back-Unerfahrene nicht wissen, ob Brutto- oder Netto-Menge gemeint ist. Bspw. sind für den gedeckten Apfelkuchen eineinhalb kg Äpfel angegeben. Ist das die absolute Menge oder die relative, die in den Strudel kommt, d.h., abzüglich Schale und Kerngehäuse.
Josef Haslinger ist zweifelsohne ein sehr guter Konditor, der sein Handwerk aus dem ff beherrscht. Nur scheint er manchmal zu vergessen, dass nicht alle Backbuch-Nützer dieselbe Routine haben. Das könnte gelegentlich – zugegeben selten – für manche zu einer Herausforderung werden. Etwa bei der Einarbeitung von Gelatine oder der Einschätzung von Mengen. Wieviel ist 1 Glas Kompott beim Kaiserschmarren oder 1 Glas Marillenröster für Grießflammerie oder 1 Glas Zitronenmarmelade für den veganen Mohnstrudel? Aber vielleicht ist das auch nur ein Wink mit dem Zaunpfahl und indirekt eine Aufforderung, diverse in Glasmenge angegeben Zutaten im Meinl Delikatessengeschäft zu besorgen.
Haslingers Angaben hinsichtlich Menge und Ablauf sind im Allgemeinen klar und meist auch eindeutig. Nicht davon abzuweichen empfiehlt sich. Dabei bedient er ein breites Genussspektrum von süß bis herzhaft. In sieben Abschnitten vorgestellt werden Torten, Tartes, diverse Stangerln, Kekse und Schnitten, Rouladen, Kipferln und Teegebäck, Herausforderungen wie die Cremeschnitte und Mandelbaiser Torte. Aber auch Jausenvorschläge wie Reindling oder das vegane Kokosbrioche, nicht zu vergessen die herzhaften Häppchen wie Gorgonzola Tascherl oder Lachsschnecken. Diese breite Palette, die nicht nur die süßen Schleckermäuler bedient, macht Haslingers Backbuch sehr sympathisch und Alltagstauglich.
Meine Liste an notierten Rezepten, die es gilt noch nachzubacken ist lang. Morgen werde ich die Buchteln versuchen. Interessant für mich ist, dass Haslinger im Vergleich mit meinem Standardrezept für den Germteig die doppelte Menge an Hefe und dreimal soviel Zucker auf 500 g Mehl verwendet. Ich bin also schon sehr gespannt, wie sich die morgigen Haslinger-Buchteln hinsichtlich Konsistenz und Geschmack behaupten.
Das süße Wien von Josef Haslinger ist ein neuer Fixstern am Backhimmel. Seine Strahlkraft ist einerseits den historischen Mehlspeisen Wiens, andererseits der Einfachheit seiner Rezepte geschuldet. Eine Einfachheit, die sich wie ein roter Faden durch alle (mit wenigen Ausnahmen) Rezepte zieht. Wirkungsvoll illustriert wurde das Werk von Sabine Hauswirth, einer international bekannten Fotokünstlerin. Ihre Fotos, scheinbare Momentaufnahmen vom Backen wie auch die Backergebnisse aus allen denk- und undenkbaren Blickwinkeln abgelichtet geben Zeugnis ihres Gespürs fürs Kulinarische. Manchmal weichen Foto und Zubereitungstext leicht voneinander ab, bspw. bei der Schokoladen Tarte, wo fünf Kirschen die Schoko-Oberfläche küren, die im Rezept nicht vorkommen. Aber betrachten wir das als Anregung und künstlerische Inspiration. Inspiriert wurde auch mein Enkel Jakob beim Durchblättern dieses farbenfrohen Backbuchs und sein Will-Haben-Blick blieb unmissverständlich an der Beerenroulade hängen. Aber die muss warten, zuerst gibt es Buchteln. Die mag Jakob auch; vor allem mit Vanillesoße. Und er freut sich jetzt schon aufs Mitbacken, das heißt, den Powidl auf die Teigstücke setzen und einschlagen und anschließend in heißer Butter schwenken, ehe sie in die Auflaufform in Reih und Glied gesetzt werden. Das wird lustig!